Himmelwärts

Nach der Lektüre des Buches von Christoph Gellner wünschte ich mir zwei Wochen Ferien, um einige der darin vorgestellten Werke neu oder wieder zu lesen.1 Max Frisch zum Beispiel: Seinen Klassikern neu begegnen mit dem geschärften Blick für spirituell bedeutsame Themen darin. Gewiss, das zeigt auch Christoph Gellner auf, Frisch schreibt ohne Bekenntnis und in Distanz zu institutionell verfasster Religion. Doch seine Figuren sind offen für Fragen nach der eigenen Identität ohne Festschreibungen in vorgefassten Bildern («Stiller») oder für den Zusammenhang zwischen technologischem Machbarkeitsglauben und Schuldigwerden («Homo Faber»).

Auch ohne Ferien lässt sich mit den von Christoph Gellner vorgestellten Schriftstellerprofilen eine literarische Reise unternehmen in die Grenzwelt von Literatur und Spiritualität. Er führt die Leserin, den Leser in die Werke von Autoren und (wenigen) Autorinnen, die auf den ersten Blick nicht direkt mit Spiritualität in Verbindung gebracht werden, aber «nach oben offen» sind. Seine Vorarbeiten im Feld von Literatur und Theologie aufgreifend und weiterführend, öffnet Christoph Gellner die Perspektive auf «Spiritualität». Damit wagt er sich in den Bereich eines gegenwärtig sehr breit und beinahe inflationär verwendeten Begriffs. Im einleitenden Kapitel findet sich daher unter anderem eine Klärung der Begriffe «Religion» und «Spiritualität»: Während zur Religion deren organisierte Gestalt und kollektive Verbindlichkeit gehört (Christoph Bochinger),2 wird mit Spiritualität die subjektive Seite der Religion sowie die Suche nach dem Sinn des Daseins, nach einem «Mehr» als dem Vordergründigen, nach so etwas wie Transzendenz, auch unabhängig von Religion, bezeichnet. Im Gegensatz zur schnellen und oberflächlichen Vermarktung von «Spiritualität» im Segment von Lebenshilfe und Esoterik soll dieser Begriff hier verstanden werden als gebildete, geformte Aufmerksamkeit, als Kunst, im alltäglichen Leben ein zweites Gesicht, eine Tiefendimension wahrzunehmen (Fulbert Steffensky, 25), die sich Leid und Schmerz ebenso wenig verschliesst wie der Sorge um die bedrohte Schöpfung.

Zeitgenössische Profile und Diagnosen

Der Fokus für die Auswahl der vorgestellten Werke liegt auf «zeitgenössischen Profilen» einer solchen weltlichen Spiritualität. Ohne Bescheidenheit verspricht Christoph Gellner: «Vorgestellt werden Themen-, Autoren- und Werkprofile, denen innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeitdiagnostische Signifikanz und Repräsentanz zukommt, insofern sie den Diskurs über zeitgenössische Spiritualität spürbar stimulieren und um neue Perspektiven bereichern» (34).

Zu den von Christoph Gellner aufgespürten Autoren gehören neben Max Frisch beispielsweise Martin Walser und Hanns-Josef Ortheil. Diesen beiden gemeinsam ist nicht nur ihre Herkunft aus dem katholischen Milieu, sondern auch ihre Emanzipation von einer Religion, die vorgibt, was zu glauben ist. Martin Walsers Schreiben entspringt gemäss eigenen Aussagen einem Mangel.3 Er kann selbst die Verneinung der Existenz Gottes noch als Hinweis auf dessen – mindestens sprachliches – Dasein deuten (80). Hanns-Josef Ortheil verbindet in einem bekenntnishaften Text die Entstehung des Glaubens mit der Erfahrung der Bedürftigkeit und sieht im Glauben an Gott «eine Art von Urvertrauen: darauf, dass ich in diesem gewaltigen Universum in einem elementaren Sinn geborgen und trotz aller Fremdheit staunend, bejahend, zu Hause bin» (228). Diese religiöse Grunderfahrung ist allerdings nicht kirchlich oder liturgisch zu vereinnahmen, sondern gemäss Gellner Teil eines «Lebenskunst-Projektes», eines «schönen Lebens» mit Musik, Dichtung, Malerei und Kunst (232). So spielt in Ortheils Roman «Liebesnähe» japanische Literatur eine bedeutsame Rolle. Sie führt hin zum achtsamen Geniessen, auch des Liebens und Geliebtwerdens (242 ff.).

Noch deutlicher ist die Inspiration durch asiatische Religionen, insbesondere den Zen-Buddhismus, bei den Autoren Hermann Hesse, Adolf Muschg, Ralf Rothmann und Christoph Peters wahrzunehmen. Es scheint einem zeitgenössischen Bedürfnis zu entsprechen, die «Beschäftigung mit letzten Fragen» (z. B. bei Muschg, 174) mit der individuellen – wenn auch durch einen Meister angeleiteten – Suche nach dem Einswerden und der Überwindung von Dualität und Entfremdung zu verbinden. Hermann Hesse gilt darin für Christoph Gellner als «Vorläufer des heutigen Interesses am Spirituellen, für das Religionsmischungen ebenso charakteristisch sind wie das Verständnis von Spiritualität als Verbunden- und Einssein, dem viele ZeitgenossInnen anhängen» (148). Der Autor selbst hat sich durch verschiedene Veröffentlichungen als ein profunder Kenner der Werke von Hermann Hesse und Adolf Muschg profiliert.4 Ist es ein Zufall, dass gerade unter den von asiatischen Religionen inspirierten Autoren keine Frau vorgestellt wird? Es wäre spannend, dies zu überprüfen.

Schuld und Himmel

Neben den Autorenprofilen ermöglichen die beiden Kapitel zu den Themen «Schuld» und «Himmel» Querbezüge zwischen Werken verschiedener Autoren und Autorinnen. Besonders das Thema «Himmel» enthält neue, teils überraschende Hinweise darauf, dass es eine Grenze gibt für die «Vermessung der Welt» (Daniel Kehlmann) mit wissenschaftlichen Erklärungsmustern, und dass der Himmel kein Ort ist, sondern vielmehr ein Gefühl (Dieter Wellershoff). Besonders angesprochen hat mich Ulrike Draesners Roman «Vorliebe». Darin durchschaut eine Astrophysikerin ihr Metier als Fiktion, als Konstruktion von Bildern, nicht viel anders, als es die Gottesbilder der Religionen sind. Der Gesprächspartner der Physikerin ist ein Pfarrer, dessen Gott ihm mitten in seiner Arbeit, in seinem Reden, Deuten und Erzählen abhanden gekommen ist. Die beiden finden zu einer Wahlverwandtschaft in ihrer Suche nach dem Himmel. Dabei durfte «gerade das Schwärzeste (…) das Dichteste und Unbegreiflichste sein» (258). Mit einem Gedicht von Les Murray unterstreicht der Pfarrer die Nähe von Poesie und Religion:

«Es ist derselbe Spiegel: Beweglich, blitzend, nennen wir ihn Dichtung, um eine Mitte gerichtet, nennen wir ihn Religion, und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird, gefangen, nicht eingesperrt» (257 f.).

«Nicht von ungefähr» (eine Lieblingswendung des Autors) beschliesst Christoph Gellner das Kapitel «Himmelwärts» mit der Schweizer Lyrikerin Erika Burkart. Ihre Gedichte stehen einer negativen Theologie nahe, weshalb sie Gott allein als Paradox umschreiben kann (sehr schön im Gedicht «Existenz», 269). Die Wahrheit religiöser metaphorischer Rede, so Eberhard Jüngel, misst sich daran, ob sie – ohne am Wirklichen vorbeizureden – über das Wirkliche hinausgeht (269). Diesem Anspruch genügen auch die Gedichte der im Jahr 2010 verstorbenen Lyrikerin.

Auch weniger bekannte Lyriker werden von Christoph Gellner vorgestellt: Die Prosagedichte von Walter Helmut Fritz führen durch Verlangsamung von der Wahrnehmung zur Anschauung (vgl. 90). Richard Exner sucht nach einer neuen Sprache für eine biblisch-christlich inspirierte Spiritualität.

Im letzten Kapitel «‹Aus einer ungefragten Welt eine Gefragte machen› – Statt eines Epilogs» wagt Christoph Gellner die These, dass «die Herausforderung zwischen Literatur und Spiritualität gegenseitig » sei (285). Er belegt diese These allein mit dem Interesse der österreichischen Schriftstellerin Barbara Frischmuth am Religiös-Spirituellen, insbesondere der islamischen Mystik (285). Schon beim Dialog zwischen Literatur und Theologie zeigt sich, dass das Interesse der Theologie an Literatur grösser ist als umgekehrt, jedenfalls was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gesprächspartnerin betrifft.5 Ungleich schwieriger scheint es mir, die gegenseitige Herausforderung zwischen Literatur und Spiritualität nachzuweisen, es sei denn in einem sehr offenen Sinn gegenseitiger Inspiration. «Ich bin nach oben offen», sagt der Schriftsteller Martin Walser von sich selbst, und zwar so, dass da «mehr hinaus als herein» kommt (85). Und wie ist dies bei der Spiritualität? Vielleicht bräuchte es für dieses Gespräch ein klareres Profil der Spiritualität, geprägt von der jeweiligen Religion und in einer bei den Dichterinnen und Dichtern unserer Zeit geschulten Sprache.

 

 

1 Christoph Gellner: «…nach oben offen». Literatur und Spiritualität – z eitgenössische Profile. (Grünewald Verlag) Ostfildern 2013. Die Zahlen in Klammern in meinem Text beziehen sich auf die Seitenzahlen dieses Buches.

2 Ebd., 27, Anm. 81.

3 «Mir fällt ein, was mir fehlt: Das ist die Grundlage der Schriftstellerei. Das ist auch die Grundlage der Religion, das ist die Grundlage unserer Sprache: Weil wir etwas nicht haben, haben wir die Sprache. Wenn wir Gott hätten, hätten wir kein Wort dafür. Nur für den Mangel braucht man die Wörter» (ebd., 78).

4 Vgl. Christoph Gellner: Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg. Zürich 2010. Zu den als «eigene Vorarbeiten » bezeichneten Werken (vgl. 298 –300) ist gewiss auch seine Dissertation zu zählen: Weisheit, Kunst und Lebenskunst. Fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. Mainz 1997.

5 Vgl. Georg Langenhorst: Ertrag und Perspektiven, in: Erich Garhammer / G eorg Langenhorst (Hrsg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur. Würzburg 2005, 175–189, bes.184 –186.

 

Franziska Loretan-Saladin

Franziska Loretan-Saladin

Dr. theol. Franziska Loretan-Saladin ist Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.