Dietrich Bonhoeffer: «Wie einen Ahnungslosen hast Du mich gefasst.» (II)

Leiter des Predigerseminars

In Finkenwalde bei Stettin, wo das Predigerseminar nach kurzer Zeit seine Bleibe gefunden hatte, ging es um die Entscheidung der Kandidaten für eine Kirche, die vom Staat nicht anerkannt, sondern verfolgt wurde. Wer sich für sie entschloss, verzichtete damit auf eine gesicherte Anstellung in der Reichskirche. Die Kurse – es wurden insgesamt ihrer fünf – dauerten jeweils ein halbes Jahr, die Teilnehmerzahl lag bei zwanzig bis fünfundzwanzig. Der Alltag im Seminar war streng geordnet. Neben den theologischen Vorlesungen und Übungen war das gemeinsame geistliche Leben zentral. «Es gab feste Zeiten zur gemeinsamen Andacht morgens und abends, zur Schriftmeditation sowie zum gemeinschaftlichen Singen geistlicher Lieder. »20 Ausserdem hielt Bonhoeffer die Kandidaten dazu an, «regelmässig die Gelegenheit zur individuellen Beichte voreinander zu nutzen».21 Er selber beichtete jeweils bei einem seiner Kandidaten (vgl. 5,139). Einen besonderen Stellenwert besass die Fürbitte füreinander (5,73).22 Viele der Kandidaten des Seminars von Finkenwalde empfanden diese Zeit als eine der prägendsten ihres Lebens. Bonhoeffer selbst schrieb am Ende des ersten Kurses an die Teilnehmer: «Der Sommer 1935 ist für mich, glaube ich, die beruflich und menschlich ausgefüllteste Zeit bisher gewesen» (14,97 f.). Seit New York und dann vertieft seit London dachte Bonhoeffer über die Bergpredigt nach und über die Auswirkungen, die ein konsequentes Leben nach ihr in der Nachfolge Jesu haben konnte. «Indem er erklärte, was Nachfolge bedeutet, beschrieb er zugleich, wie christliches Leben in der Situation des Kirchenkampfes auszusehen hat.»23 Auf Wunsch der Studierenden veröffentlichte er diese Vorlesungen 1937 unter dem Titel «Nachfolge» (DBW 4).

Die «Sammelvikariate»

Am 2. Dezember 1935 verbot das von Hitler geschaffene Kirchenministerium Stellenbesetzungen, Prüfungen und Ordinationen durch die Bekennende Kirche. Seitdem bewegte sich die Arbeit der Predigerseminare am Rande der Illegalität. Staatlicherseits nahm man schon seit einiger Zeit Anstoss daran, dass Bonhoeffer als Leiter eines nahezu illegalen Predigerseminars gleichzeitig an der Berliner Universität als Privatdozent lehrte. Am 5. August 1936 wurde ihm deshalb vom Reichsministerium für Wissenschaft die Lehrerlaubnis entzogen. Am 29. August 1937 verbot der Reichsführer-SS, Himmler, sämtliche Predigerseminare.

Am 28. September darauf wurde das Seminar in Finkenwalde von der Gestapo geschlossen und die Vikarsausbildung durch die Bekennende Kirche ausdrücklich verboten. Doch Bonhoeffer bildete weiter Vikare aus in Form von sogenannten «Sammelvikariaten », die in zwei Pfarrhäusern in Hinterpommern durchgeführt wurden. Seit der Schliessung von Finkenwalde hatte er keinen festen Wohnsitz mehr und pendelte ständig hin und her. Angesichts der häufiger werdenden Verhaftungen evangelischer und katholischer Pfarrer war er sich des wachsenden Risikos dieser Tätigkeit wohl bewusst: «Die Sache der Kirche können wir nicht durchhalten ohne Opfer» (14,303).

Zweite Flucht: USA

Im Frühjahr 1939 trug sich Bonhoeffer mit dem Gedanken, Deutschland wieder für eine gewisse Zeit zu verlassen. Er sah sich in seinem Gewissen verpflichtet, bei dem Krieg Hitlers, den er kommen sah, den Wehrdienst zu verweigern. Andererseits war ihm bewusst, dass er durch eine Kriegsdienstverweigerung die Bekennende Kirche in eine bedrohliche Lage bringen würde. So kam ihm ein Angebot aus den USA gelegen, dort für eine Weile in Kirche und akademischer Lehre tätig zu sein. Am 2. Juni brach er über London nach New York auf. Doch schon auf der Überfahrt überkamen ihn Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung. Befand er sich auf seiner zweiten Flucht? In seinem Reisetagebuch hielt er fest: «Grosse Programme führen uns immer nur dorthin, wo wir selbst sind; wir aber sollten uns nur dort finden lassen, wo Er ist» (15,218).

Am 20. Juni steht in seinem Tagebuch: «Ich habe abgelehnt. Man war sichtlich enttäuscht und wohl etwas verstimmt. Für mich bedeutet es wohl mehr, als ich im Augenblick zu übersehen vermag. Gott allein weiss es. Es ist merkwürdig, ich bin mir bei allen meinen Entscheidungen über die Motive nie völlig klar. Ist das ein Zeichen von Unklarheit, innerer Unehrlichkeit oder ein Zeichen dessen, dass wir über unser Erkennen hinausgeführt werden, oder ist es beides?» (15,228). In einem Brief an Reinhold Niebuhr, der ihm den Kontakt nach Amerika vermittelt hatte, schrieb er anschliessend entschuldigend: «Ich bin jetzt überzeugt, dass mein Kommen nach Amerika ein Fehler war. Diese schwierige Epoche unserer nationalen Geschichte muss ich bei den Christenmenschen Deutschlands durchleben» (15,644).

«Dem Rad selbst in die Speichen fallen»

Nach seiner Ankunft in Deutschland kehrte Bonhoeffer umgehend nach Hinterpommern zurück, um die Arbeit in den beiden «Sammelvikariaten» wieder aufzunehmen. Nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr löste Hitler mit dem Einmarsch in Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg aus. Am 18. März 1940 schloss die Gestapo die beiden «Sammelvikariate». Damit ging für Bonhoeffer die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens für immer zu Ende. Der Bruderrat der Bekennenden Kirche ernannte ihn nun zum Visitator der Pfarrerausbildung.

Diese Tätigkeit trug ihm am 4. September 1940 ein Redeverbot für das ganze Reich, verbunden mit einer polizeilichen Meldepflicht, ein. Am 27. März 1941 folgte noch ein Druck- und Veröffentlichungsverbot. Offiziell blieb Bonhoeffer im Dienst der Bekennenden Kirche. Im Geheimen begann er daneben seine Teilnahme am aktiven Widerstand gegen Hitler. Er war überzeugt, dass das Engagement der Kirche sich nicht auf die eigenen Belange beschränken durfte, sondern dass sie den Auftrag hatte, für die einzutreten, die in der Gesellschaft «unter die Räder kommen». Schon seit 1938 wusste er durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi von den Umsturzvorbereitungen in der militärischen Abwehr.

Durch dessen Vermittlung wurde er der Aussenstelle der Abwehr zugeordnet und damit «unabkömmlich» gestellt, das heisst, er konnte nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden. Man argumentierte, Bonhoeffers ökumenischen Kontakte würden dem militärischen Geheimdienst zur Beschaffung von Informationen über das Ausland nützlich sein. Tatsächlich informierte er aber vertrauenswürdige Personen aus seiner ökumenischen Arbeit über die in Deutschland laufenden Umsturzvorbereitungen.

Das Doppelleben, das er nun führen musste – nach aussen Agent der Abwehr, in Wirklichkeit Mitglied des Widerstandes –, führte Bonhoeffer in einen ethischen Konflikt. Er bildet den Hintergrund für die Arbeit an einer «Ethik» (DBW 6), an der er nun in mehreren Anläufen zu schreiben begann und die sein Lebenswerk hätte werden sollen (vgl. 8,37). «Wenn Hitler nur mit Gewalt und Attentat, die im Sinne des christlichen Glaubens immer mit Schuld verbunden sind, zu stoppen ist, dann muss das um der Opfer willen getan werden, auch wenn man sich selbst damit Schuld auflädt.»24 Ganz gleich, wie der Mensch sich hier entscheidet, ob er dem göttlichen Gebot, nicht zu töten, gehorcht, oder ob er sich dagegen entscheidet: «So oder so wird der Mensch schuldig, und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und Vergebung leben» (6,275).

Verhaftung

Seit 1942 hatte das Reichssicherheitshauptamt der SS die Aussenstelle der Abwehr wegen Devisenunregelmässigkeiten im Blick. Am 5. April 1943 verhaftete es Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi. Bonhoeffer wurde ins Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht in Berlin-Tegel überführt. Die ersten Eindrücke waren für ihn ein Schock. In seinem «Haftbericht nach einem Jahr in Tegel» schrieb er: «Ich wurde für die erste Nacht in eine Zugangszelle eingeschlossen; die Decken auf der Pritsche hatten einen so bestialischen Gestank, dass es trotz der Kälte nicht möglich war, sich damit zuzudecken. Am nächsten Morgen wurde mir ein Stück Brot in die Zelle geworfen (…). Von aussen drangen in meine Zelle zum ersten Mal jene wüsten Beschimpfungen der Untersuchungsgefangenen durch das Personal, die ich seither täglich von morgens bis abends gehört habe» (8,380 f.).

Durch die Haft war Bonhoeffer gezwungen, sich in einer völlig neuen Situation zurechtzufinden. Das Gefängnis bedeutete für ihn zuerst einmal Trennung: Trennung von der Familie und den Freunden, von den Brüdern der Bekennenden Kirche, von der Arbeit, vor allem aber von der gerade erst gewonnenen jungen Braut Maria von Wedemeyer, noch ehe sie beide miteinander vertraut werden konnten.25 In welch tiefgehende Krise diese Verluste ihn führten, zeigen «Notizen» vom Mai 1943. Auf Stichworte wie «Unzufriedenheit », «Ungeduld», «Sehnsucht», «Langeweile», «Gleichgültigkeit», «Stumpfheit» folgt schliesslich: «Selbstmord, nicht aus Schuldbewusstsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin, Schlussstrich, Fazit » (8,64). Bonhoeffer fürchtete, er könnte die Misshandlungen und Verhöre vielleicht nicht aushalten und so Freunde verraten, die draussen weiter konspirierten. In der handschriftlichen Fassung der Notizen strich er diese Passage jedoch wieder.26 Der Gedanke an Selbstmord findet sich in der Folgezeit nicht mehr. Was Bonhoeffer in dieser Zeit beunruhigte, war «die Frage, ob es wirklich die Sache Christi sei, um derentwillen ich Euch allen solchen Kummer zufüge; aber bald schlug ich mir diese Frage als Anfechtung aus dem Kopf und wurde gewiss, dass gerade das Durchstehen eines solchen Grenzfalles mit aller seiner Problematik mein Auftrag sei, und wurde darüber ganz froh und bin es bis heute geblieben» (8,187 f.).

In einem weiteren Brief vom 15. Dezember 1943 gesteht er jedoch, «dass es trotz allem, was ich so geschrieben habe, hier scheusslich ist, dass mich die grauenhaften Eindrücke oft bis in die Nacht verfolgen und dass ich sie nur durch Aufsagen unzähliger Liederverse verwinden kann und dass dann das Aufwachen manchmal mit einem Seufzer statt mit einem Lob Gottes beginnt. An die physischen Entbehrungen gewöhnt man sich (…), an die psychischen Belastungen gewöhnt man sich nicht (…); ich habe das Gefühl, ich werde durch das, was ich höre und sehe, um Jahre älter (…). Ich frage mich selbst oft, wer ich eigentlich bin, der, der unter diesen grässlichen Dingen hier immer wieder sich windet und das heulende Elend kriegt, oder der, der dann mit Peitschenhieben auf sich selbst einschlägt und nach aussen hin (und auch vor sich selbst) als der Ruhige, Heitere, Gelassene, Überlegene dasteht und sich dafür (…) bewundern lässt?» (8,235).27

«Der Blick von unten»

Eine Woche später kann Bonhoeffer einem Freund schreiben: «Du musst übrigens wissen, dass ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 bereut habe, noch auch irgendetwas von dem, was dann folgte (…). Und dass ich jetzt sitze (…), rechne ich auch zu dem Teilnehmen an dem Schicksal Deutschlands, zu dem ich entschlossen war» (8,253). Dass jetzt fremde, ja ihm zum Teil feindlich gesonnene Menschen die äussere Entscheidungsgewalt über ihn ausübten, fiel ihm, der bisher selbstständig zu entscheiden gewohnt war, schwer. Er empfand die Haft als eine Probe auf seinen Glauben. Den Eltern schrieb er: Ich «muss im Übrigen einmal selbst exerzieren, was ich in Predigten und Büchern andern gesagt habe» (8,55).

Im Gefängnis wuchsen Bonhoeffer neue Erkenntnisse zu. Sein Blick war weiter geworden, er lernte Kirche und Welt neu sehen. Ab jetzt stand bei ihm nicht mehr die Kirche im Vordergrund, sondern die von Gott geliebte Welt. Im Widerstand lernte er «Menschen kennen, die – ohne sich als religiös oder christlich zu verstehen – zum Kampf für Menschlichkeit und Gerechtigkeit entschlossen» waren und dafür Leiden auf sich nahmen «bis hin zur Gefährdung des Lebens und schliesslich bis zum Tod».28 Gleichzeitig musste er die schmerzliche Erfahrung machen, dass nicht nur die Reichskirche, sondern auch seine Bekennende Kirche «nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft» (8,435) hatte, die Bedrohten oft im Stich liess und selten klare Worte fand. In der religionslosen Welt von Tegel wurde es für Bonhoeffer zu einem «Erlebnis von unvergleichlichem Wert», dass er die Welt «einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden, sehen gelernt» (8,38) hatte. Unablässig bewegte ihn hier «die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; (…). Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein» (8,402 f.).

Gott – kein «Lückenbüsser»

Mit dem Stichwort der «Religionslosigkeit» löste Dietrich Bonhoeffer, seit Eberhard Bethge seine Gefängnisbriefe 1951 unter dem Titel «Widerstand und Ergebung» (DBW 8) veröffentlicht hatte, eine weitreichende und auch kontroverse Diskussion aus. Das damit Gemeinte konnte er nur mehr anreissen, was dazu führte, dass manche Autoren ihre eigenen Konzeptionen in seine Theologie eintrugen oder mit ihr legitimierten.29 Um seine Diagnose zu verstehen, «muss man sich klarmachen, dass er mit ‹Religion› nicht all das meint, was im heutigen Sprachgebrauch darunter fällt, also jede Form von menschlichem Transzendenzbezug».30 Er verwendet vielmehr einen eigenen, eingeschränkten Religionsbegriff. Worum es ihm ging, kommt wohl am deutlichsten in folgendem Geständnis zum Ausdruck: «Oft frage ich mich, warum mich ein ‹christlicher Instinkt› häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen ‹brüderlich›. Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen – weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme (…) – kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen. Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen (…), immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott (…) überflüssig wird» (8,406 f.).

Damit hat Bonhoeffer jenen geschichtlichen Vorgang beschrieben, der seit Beginn der Neuzeit durch die Entwicklung in Richtung auf die menschliche Autonomie stattgefunden hatte. Der zum «Lückenbüsser unserer unvollkommenen Erkenntnis» (8,454) degradierte Gott wurde durch das Fortschreiten dieser Erkenntnis «immer weiter aus dem Leben zurückgedrängt » (8,477) und verlor an Boden, bis die «Arbeitshypothese Gott» (8,476.532 f.) schliesslich völlig überflüssig wurde. Die traditionelle christliche Apologetik versuchte nun der «zum Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Lebensgesetze» gekommenen, «mündig gewordenen Welt» zu beweisen, dass sie ohne den Vormund ‹Gott› nicht leben könne« und dass zumindest für «die sogenannten ‹letzten Fragen – Tod, Schuld (…) nur ‹Gott› eine Antwort geben kann» (8,477 f.). Dieser defensiven Haltung gegenüber war es Bonhoeffer ein Anliegen, «dass man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, dass man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‹madig macht›, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert » (8,511): «Nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden» (8,455).

Teilnehmen am Leiden Gottes an der Welt

Die Entwicklung zur Mündigkeit des Menschen und der Welt bedeutet für Bonhoeffer nicht das Ende des Gottesglaubens. Sie räumt bloss mit der falschen Vorstellung eines allmächtigen «Lückenbüssergottes» auf und führt «zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unse- rer Lage vor Gott» (8,533). Sie macht «den Blick frei (…) für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt» (8,535), wie das Leben und Geschick Jesu zeigen. «Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.» Bonhoeffer verweist in diesem Zusammenhang auf Matthäus 8,17, wo mit Bezug auf Jesaja 53,4 vom leidenden Gottesknecht gesagt wird: «Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen.» Diese Stelle zeigt für ihn «ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!» (8,534).

Hier liegt für Bonhoeffer der entscheidende Unterschied des Christentums zu allen Religionen. «Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina», das heisst: «der Gott aus der Maschine». Dieser «Gott» war im antiken Theater jene Gestalt, die mit Hilfe einer mechanischen Vorrichtung in ausweglosen Situationen plötzlich erschien und Probleme «übernatürlich» löste. Die Bibel dagegen «weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes » (8,534). Sie ruft ihn auf, «das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden». Diese Teilnahme am Leiden Gottes, dieses «Stehen bei Gott in Seinen Leiden» unterscheidet Christen und Heiden, wie es Bonhoeffer im gleichnamigen berühmten Gedicht (8,515 f.) formuliert hat. Es bedeutet, «nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Ängste denken, sondern sich in den Weg Jesu Christi hineinreissen lassen» (8,535). Dieser Weg Jesu ist nicht der Ruf in eine neue Religion: «Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben» (8,537). In einem Brief an Eberhard Bethge, den er am Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 schrieb, gesteht Bonhoeffer, er habe erst «in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus (…) Mensch war». Und er fährt fort, er «erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (…) –, und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist ‹Metanoia›; und so wird man ein Mensch, ein Christ (vgl. Jerem. 45!). Wie sollte man bei Erfolgen übermütig oder an Misserfolgen irre werden, wenn man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet?» (8,541 f.). Im späten «Entwurf für eine Arbeit» (8,556–561), in der er kurz darlegen wollte, was eigentlich christlicher Glaube ist, definiert Bonhoeffer Jesus als den Menschen, der «für andere da ist» bis zum Tod und den Glauben als «das Teilnehmen an diesem Sein Jesu» (8,558). Daraus zieht er für die Kirche die Folgerung: «Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.» Sie ist kein Selbstzweck, sondern sie «muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heisst, ‹für andere da zu sein›» (8,560).31

Das Ende

Am 22. September 1944 fand die Gestapo im Geheimarchiv der Abwehr in Zossen bei Berlin Akten, denen sie entnahm, dass Bonhoeffer seit 1938 an der Verschwörung gegen Hitler beteiligt war. Seitdem konnte er nicht mehr auf Freilassung hoffen. Am 8. Oktober wurde er aus dem Wehrmachtsgefängnis Berlin-Tegel ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Strasse verlegt.

Er war dort gemeinsam mit führenden Männern aus dem Widerstand, unter anderem seinem Schwager Hans von Dohnanyi, inhaftiert. Aus diesem Gefängnis schrieb er am 19. Dezember den letzten Brief an seine Braut Maria von Wedemeyer, dem er als «Weihnachtsgruss für Dich und die Eltern und Geschwister » das inzwischen weltberühmt gewordene Gedicht «Von guten Mächten» beilegte.32 Am 3. Februar 1945 kam es zu einem schweren Luftangriff auf Berlin, durch den auch das Reichssicherheitshauptamt stark beschädigt wurde. Deshalb wurde Bonhoeffer am 7. Februar zusammen mit anderen wichtigen Gefangenen in einem Häftlingsblock im Konzentrationslager Buchenwald untergebracht. Am 3. April wurde diese Gruppe dann nach Schönberg im Bayerischen Wald transportiert. In einer seiner letzten Besprechungen im Führerhauptquartier befahl Hitler am 5. April, dass die Hauptverschwörer nicht überleben sollten. Am 7. April hielt Bonhoeffer auf Wunsch von Mithäftlingen noch eine Morgenandacht. Danach wurde er von der Gruppe getrennt und in das Konzentrationslager Flossenbürg gebracht. Dort wurde er am 8. April durch ein Standgericht zum Tode verurteilt.

Am 9. April 1945, nach 23 Monaten Haft und nur drei Wochen vor Kriegsende, wurde er zusammen mit den Mitverschwörern durch Erhängen grausam ermordet und anschliessend verbrannt. Vor seiner Hinrichtung trug er dem englischen Offizier Payne Best, der mit ihm zusammen gefangen war, eine Botschaft an den befreundeten anglikanischen Bischof George Bell auf. Sie enthielt unter anderem die Worte: «Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende, aber auch der Anfang ist.»33

 

 

 

20 Tietz (wie Anm. 6), 67. – Die im Seminar von Finkenwalde gemachten Erfahrungen hat Bonhoeffer in seinem Buch «Gemeinsames Leben» (DBW 5) festgehalten. Vgl. auch: Zimmermann, Begegnungen (wie Anm. 8), 80 –128.

21 Tietz (wie Anm. 6), 68.

22 Das Versprechen wechselseitiger Fürbitte war Bonhoeffer bis zum Ende seines Lebens ein grosses Anliegen. Vgl. 8 , 187.191.196.

23 Tietz (wie Anm. 6), 69.

24 Christoph Strohm: Dietrich Bonhoeffer (1906 –1945), in: Karl-Joseph Hummel / C hristoph Strohm (Hrsg.): Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2000, 320 –338, hier 334.

25 Vgl. Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer 1943–1945. Hrsg. von Ruth-Alice von Bismarck und Ulrich Kabitz. München 42004.

26 Eine Kopie dieser Passage findet sich in: Dietrich Bonhoeffer. Sein Leben in Bildern und Texten. Hrsg. von Eberhard Bethge u. a. München 21989, 207.

27 Vgl. auch 8 ,196 und das Gedicht «Wer bin ich?» (8, 513 f.).

28 Kallen (wie Anm. 14), 148.

29 Bonhoeffer war sich dessen sehr wohl bewusst. Er bezeichnete seine diesbezüglichen Gedanken in Briefen an Eberhard Bethge als «ins Unreine» geredet; es sei «alles noch furchtbar schwerfällig und schlecht» bzw. «sehr roh und summarisch gesagt». Vgl. 8,512.537.561.657.

30 Tietz (wie Anm. 6), 111. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik- Christologie-Weltverständnis. Berlin 52005, besonders XIIff., 324 –396, 420 f. Eberhard Bethge bezeichnete dieses Werk Ernst Feils als das seiner Bonhoeffer- Biografie «verschwisterte Buch» (ebd., II).

31 In den «Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge» (8,428 – 436) schrieb Bonhoeffer: «unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen» (8,435), und er gibt der Hoffnung Ausdruck: «Es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten» (8,436). Der untrennbare Zusammenhang von Gebet/ Gottesdienst und Praxis der Gerechtigkeit kommt auch in folgendem häufig zitierten Wort zum Ausdruck: «Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen» (zit. nach 5,140).

32 Bismarck-Kabitz, Brautbriefe (wie Anm. 25), 208 ff.

33 Zitiert nach Tietz (wie Anm. 6), 121. – Der lange Zeit verbreitete verharmlosende Bericht des SS-Lagerarztes H. Fischer- Hüllstrung, wonach der Tod Bonhoeffers am Galgen nach intensivem Gebet in wenigen Sekunden eingetreten sei, entspricht nicht den Tatsachen. Der dänische Mithäftling Jorgen L. F. Mogensen berichtet von einer langdauernden, qualvollen Exekution durch Erhängen. Vgl. Jorgen Glenthoj: Zwei neue Zeugnisse der Ermordung Dietrich Bonhoeffers, in: Rainer Mayer / Peter Zimmerling (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer aktuell. Biografie – Theologie – Spiritualität. Giessen-Basel 2001, 8 4 –96, besonders 92 ff.

Fridolin Wechsler

Fridolin Wechsler

Dr. theol. Fridolin Wechsler war von 1989 bis 2005 Dozent für Dogmatik und Liturgik am Katechetischen Institut der Theologischen Fakultät Luzern