Heilungswunder als Bedingung für Selig- und Heiligsprechungen?

Können Heilungswunder aus interdisziplinärer Sicht oder gegebenenfalls nur aus religiöser Perspektive begründet werden? Kann die kirchlichinstitutionelle Deklaration eines «Heilungs-»Wunders als eine «Wunderheilung durch Gott» peinliche Revisionen notwendig machen?1 Der heute im säkularen und aufgeklärten theologischen Umfeld kontroverse Heilungswunder-Diskurs erhält in der römisch-katholischen Kirche durch die bevorstehenden Heiligsprechungen von Papst Johannes XXIII. und Papst Johannes Paul II. durch Franziskus, Bischof von Rom und päpstliches Oberhaupt, besondere Aktualität und Brisanz. Dies, weil Johannes XXIII. ohne Heilungswunder heilig gesprochen werden soll.2 Entspricht dies einer eklatanten Sonderregelung unter Aussetzung der aktuellen Normen im Kirchenrecht und damit päpstlicher Willkür oder aber einer weiten Auslegung, notwendigem Fortschritt bzw. Anpassung an die frühe christliche Tradition?

Diese Unklarheiten bedürfen der Diskussion zu folgenden drei Hauptfragestellungen:

1. Ist das Beibringen von Heilungswundern zwecks kirchlicher Attestierung des Status, ein Heiliger oder eine Heilige zu sein, heute noch sinnvoll und vertretbar?

2. Falls nein: Welche theologischen Argumente sprechen dafür, den Gebrauch und die Vergabe des Titels «Heilige», «Heiliger» von institutionellkirchlicher Seite neu zu gestalten?

3. Welche andere Art von Titelvergabe, Wertschätzung, Auszeichnung, wäre aus zukunftsorientierter pastoraltheologischer Sicht und frühchristlicher Tradition angemessener ?

1. Ist das obligate Beibringen von Heilungswundern heute noch sinnvoll?

Da von allen im Vatikan für Heiligsprechungen aktenkundigen «Wundern» seit dem 18. Jahrhundert durchschnittlich 95,3 Prozent Heilungswunder betreffen, 3 kommt ihnen die zentrale Bedeutung zu, auch dann, wenn in juristischen und theologischen Texten verallgemeinernd von «Wundern» gesprochen wird. Heilungswunder werden hier als Oberbegriff verstanden, während Wunderheilungen sich auf kirchlich anerkannte Heilungswunder beziehen.

1.1. Aktuell gültige Kriterien für Kanonisierungen

Auf juristischer Seite wurden die noch im kanonischen Recht (Codex iuris canonici) von 1917 vorhandenen Can. 2118 (Anhören zweier bekannter Experten) und Can. 2119 (tatsächliche Heilung, die sich nicht nach den Gesetzen der Natur erklären lässt) von Papst Johannes Paul II. 1983 nicht in den neuen Codex iuris canonici (CIC 1983) übernommen, sondern durch die Apostolische Konstitution zur Durchführung von Kanonisationsverfahren «Divinus perfectionis magister» vom 25. Januar 1983 ersetzt. Diese Konstitution regelt neu die Antragstellung und Erhebungen «über das Leben, über die Tugenden oder das Martyrium und den Ruf der Heiligkeit bzw. des Martyriums und über behauptete Wunder (…) des Dieners Gottes, dessen Kanonisation beantragt wird». Neu – so «Divinus perfectionis magister» – hat die Untersuchung der «behaupteten» Heilungswunder getrennt von derjenigen der Tugenden oder des Martyriums zu erfolgen. Für diese seit 1983 vom übrigen Verfahren abgetrennte Wunder-Nachprüfung gilt auch, dass seit Paul VI. nur noch je eines statt je zwei Heilungswunder für eine Beatifikation (Seligsprechung) oder Kanonisation (Heiligsprechung) obligatorisch ist. Dennoch gestaltet sich der Wunder-Nachweis per se als langwierige, komplizierte und teure Entscheidungsprozedur, die durch ein bis zwei Berichterstatter mit zusätzlichen Stellungnahmen von Ärzten erfolgt, dann über einen besonderen Kongress der Theologen, weiter über die Versammlung der knapp 30 Kardinäle und Bischöfe, welche der Heiligsprechungskongregation und dem Präfekten zur Beratung und Entscheidung beigestellt sind, bis hin zum päpstlichen Oberhaupt, das allein den Endentscheid zur kirchlich anerkannten Heiligsprechung hat.

Kurz: «Behauptete» Heilungswunder – die gemäss Prospero Lambertinis (Benedikt XIV.) Definition schwere Krankheiten sind, die ohne Medikamente augenblicklich und ohne zurückzukehren geheilt werden, und dies ohne medizinische Erklärung – bereiten den mit ihrer Prüfung beauftragten theologischen und medizinischen Gremien enormes Kopfzerbrechen. Ferner wurden mit «Divinus perfectionis magister» die Kompetenzen, wie ganz früher, vermehrt an die örtlichen Bischöfe delegiert.

1.2. Hintergründe einer obligatorischen Beibringung von Heilungswundern

Kulturgeschichtlich und anthropologisch betrachtet sind erlebte Heilungswunder kein isoliertes Phänomen, sondern Teil eines sozio-kulturellen, volksnahen «Settings», eines Soziodramas, oft verbunden mit Aufsuchen eines bekannt gewordenen sakralen Ortes als Pilgerziel oder einer lebenden verehrenswerten Person. Die Anrufung verstorbener Personen und die liebende Wertschätzung derselben ist Teil dieses kulturellen Frömmigkeits-Settings, das übrigens in vielen Kulturen der Welt anzutreffen ist, häufig verbunden mit Heilungswundern.4 Wissenschaftlich interdisziplinär ausgedrückt können bei Heilungswundern medizinisch-körperliche, psycho-soziale und geistig-spirituelle Aspekte als Wirkfaktoren eruiert werden. Persönlich erfahrene Heilungswunder in einem derart multimodalen Kontext sagen nicht nur etwas aus über einen Ort oder über eine, um Heilung eines Kranken Fürbitte leistende Person, sondern vor allem auch über die «Geheilten» selber.

Ausgehend von dieser anthropotheo-zentrischen, christlichen Sicht, fragt sich, inwieweit ein Eingreifen Gottes auf Fürsprache von lebenden oder verstorbenen Personen hin, bei Heilungswundern möglich, wahrscheinlich oder gewiss ist. Im Heiligsprechungsverfahren der katholischen Kirche wurde bis Anfang des 21. Jahrhunderts die Ansicht vertreten, ein auf Anrufen eines tugendhaften, verstorbenen Menschen erfolgtes Heilungswunder sei Zeichen Gottes für dessen Verehrungswürdigkeit. Daher komme derartigen Personen post mortem der Status zu, ein Heiliger bzw. eine Heilige zu sein. Diesen theologischen Hintergrund umriss Titularerzbischof Michele Di Ruberto, 2007–2010 Sekretär der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, folgendermassen: Nicht jeder Verstorbene sei «eines öffentlichen Kultes würdig», und bei der Betrachtung der heroischen Tugenden könnte man durch das «Zusammenstellen von Zeugenaussagen und Dokumenten, historisch-kritischen Analysen, theologischer Bewertung» «Täuschungen» erliegen. «Wunder jedoch kann nur Gott allein tun, und Gott täuscht nicht. Sie sind unentgeltliche Gabe Gottes, sicheres Zeichen seiner Offenbarung, dazu angetan, Gott zu verherrlichen, unseren Glauben zu stimulieren und zu stärken; und sie sind auch eine Bestätigung der Heiligkeit der angerufenen Person. Ihre Anerkennung ist jedenfalls eine sichere Voraussetzung für die Zulassung des Kultes. Die Heiligen werden also durch die Wunder gemacht, und diese stellen in einem Heiligsprechungsprozess auch eine göttliche Sanktionierung für ein menschliches Urteil dar.»5 Im Klartext segnet nach dieser Vorstellung Gott eine Heiligsprechung mit einem vorausgegangenen Wunder ab.

Beim Rückblick auf das (früh-)mittelalterliche Christentum prägten zunehmend magische Vorstellungen des Volkes die Heiligenverehrung. So begann Rom ab dem 10. Jahrhundert neu zentralistisch mit Heiligsprechungen (Kanonisationen) durch die römische Synode (Bischof Ulrich von Augsburg, 993). Heiligsprechungen (nach vorheriger Seligsprechung) sind seit Beginn des 12. Jahrhunderts striktes Privileg des Papstes. Sowohl zu einer Beatifikation als auch zu einer Kanonisation bedurfte es nun je zweier «Wunder». Zwecks besserer Unterscheidung «behaupteter» Wunderheilungen von mirakulösen Vorstellungen und Fantasien wurden im 18. Jahrhundert (1734–1738) fixe Kriterien durch Prospero Lambertini/Benedikt XIV. kirchenrechtlich festgeschrieben – gemäss damaligem medizinischem und naturwissenschaftlichem Wissensstand.

Infolge aufkommendem Empirismus definierte Lambertini Heilungswunder nicht nur theologisch, sondern auch über die Bedingungen, die sie zu erfüllen hatten, und zudem naturwissenschaftlich über die sogenannten «Naturgesetze». Da seit dem 18. Jahrhundert Biologie, Medizin und Naturwissenschaften enorme Fortschritte machten, sind die damals festgelegten Heilungswunder-Kriterien aus medizinischer Sicht nicht mehr haltbar (vgl. Beispiele bei 1.3.) und ebenso wenig die Behauptung, Gott durchbreche – im Falle einer Wunderheilung kraft seiner Allmacht oder des Akzidens seines Erbarmens – die «Naturgesetze». Diese Sicht Lambertinis auf eine kirchenrechtlich zu anerkennende Wunderheilung war und ist daher keine rein theologische, denn der «Verstoss» «gegen die Natur», gegen die Gesetze der Natur, ist ein naturwissenschaftliches Element, das zeitbedingt ist und damit dem jeweiligen medizin-historischen Wissens- und Forschungsstand entspricht. Dennoch hatten Lambertinis Bestimmungen annähernd zwei Jahrhunderte lang bei der Heiligen Ritenkongregation in Rom als Regel Bestand und wurden im Wesentlichen in den 1917 veröffentlichten ersten «Codex iuris canonici» übernommen. Die Definition der Durchbrechung eines Naturgesetzes liess übrigens David Hume 1777 die philosophische Debatte der Wunderkritik starten.6

Nun ist die Theorie betreffend «Naturgesetzen »7 bereits seit einigen Jahrzehnten einem moderneren, ganzheitlicheren Verständnis gewichen, wie es z. B. Nancy Cartwright,8 Sandra Mitchell9 und andere vertreten. Näheres dazu findet sich auch bei Yvonne Maurer.10 Kurz: Wenn eine kirchliche Institution eine zeitgebundene Passung zur Rechtfertigung ihrer Entscheide einsetzt oder gar instrumentalisiert, kann ihr dies zum unbeabsichtigten Verhängnis werden. Dazu einige konkrete Beispiele im folgenden Abschnitt.

1.3. Beachtet das aktuelle Verfahren die neuen Forschungen und Ergebnisse der profanen Wissenschaften?

Diese Frage soll unter Berücksichtigung von Nr. 62 der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» (GS 62) gestellt werden. Meine nachfolgende überprüfende Darstellung von Beispielen kirchlich anerkannter Wunderheilungen will nicht negativer Kritik dienen, sondern dem Ziel, vorwärts zu blicken und möglichst viele christlich Geprägte zu einem akkuraterem Glaubensverständnis einzuladen.

1.3.1. Wunderheilungen bzw. Eingreifen Gottes bei Tuberkulose?

Um die medizinische Sicht näher zu beleuchten, beginne ich mit Lourdes und seinen archivierten Wunderheilungen. Ich hatte Gelegenheit, 2009 den heiligen Bezirk von Lourdes zu besuchen und mich im Archiv der seit 1858 kirchlich anerkannten 69 Lourdes-Heilungen aufzuhalten und Dossiers zu studieren. Ausserhalb des heiligen Bezirks befindet sich das städtische Spital von Lourdes. Dort erhielt ich von der Ärzteschaft die Auskunft, dass sie nie Kranke in den heiligen Bezirk schickten: Man halte sich an die Tatsachen («on se tient aux faits»). Vom heiligen Bezirk aus werden indessen krank nach Lourdes Pilgernde bei Bedarf ins genannte säkulare Spital gebracht. Bei näherer Durchforschung der Lourdes- Wunder musste ich zu meiner Verwunderung feststellen, dass von den jetzt 69 diözesan anerkannten Lourdes-Heilungswundern fast die Hälfte, nämlich 43 Prozent, die Diagnose Tuberkulose (TBC) betreffen, deren Heilung in Lourdes (vor der AntibiotikaÄra) eine jahreszeitliche Abhängigkeit zeigte. Alle bis auf eine Heilung fanden vom 21. Juni bis zum 23. September (+/– ca. drei Wochen) statt, im Unterschied zu nicht saisonal abhängigen Heilungen. Heute ist nun bekannt, dass Sonnenlicht bei TBC ein wichtiger Heilfaktor ist im Zusammenhang mit Vitamin D bzw. dem 25(OH)D-Spiegel, der im Blutserum im Winter am tiefsten ist.11

1.3.2. Aktuelles medizinisches Wissen und anerkannte «Wunder» bei Paresen (Lähmungen)

Auch was Lähmungen betrifft, ist die Forschung im Vormarsch. 2006 konnten Patrick Freund und Martin Schwab, neurophysiologische Grundlagenforscher, nachweisen, dass durchtrennte Nerven wieder wachsen, wenn um sie herum hemmende Faktoren (spezifische Antikörper) entfernt werden.12 Wichtig ist gemäss Martin Schwab auch die Erkenntnis der Grundlagenforschung, dass Erkrankte oder Verunfallte reflexartig, weil schmerzhaft oder angstbesetzt, die beschädigte Funktion (d. h. nicht mehr bewegen, sogar nicht mehr sprechen, sehen, erinnern können) quasi abschreiben, so dass aus dem «dis-use» ein «unlearning » trotz oft noch bestehender Restfunktion entsteht. Naheliegend ist, dass es auf dieser Grundlage nach entsprechender Ermutigung, einem Glaubensakt, intensivem Bittgebet, Erleben, dass einem andern eine ähnliche äusserlich deutlich sichtbare Heilung gelingt, überraschend zur eigenen sofortigen Heilung führen kann.

1.3.3. Heilungswunder oder Spontanheilungen?

In der Medizin wird bei einer nicht nach klinischer Erfahrung und nach statistischem Mittelwert erfolgten überraschenden Heilung nicht von einem Heilungswunder, sondern von einer «Spontanheilung» gesprochen. Oft kann nicht eruiert werden, welche der komplexen bio-psycho-sozial-spirituellen Interaktionen dazu beigetragen haben. Bekannt ist, dass es vorbestehende inter-individuelle Verteilungen biologischer Werte beim Menschen gibt, nicht von statistischen Mittelwerten aus betrachtet, sondern von deren Streuungen. Daher ist in der Schulmedizin auch der Diskurs zwischen Mittelwert (Grenz-, neu Referenzwerte), sogenannt Leitlinien bezogener Medizin einerseits, und individualisierter, personalisierter Medizin andererseits im Gang. Der letztgenannte Ansatz gipfelt im bloss als extreme Vereinfachung zu verstehenden Kürzel: Der Verlauf bestimmt die Therapie. Diese medizinische Perspektive zeigt erneut, wie heikel es sein kann, wenn körperlich zu Tage tretende Symptome oder deren Verschwinden, ausgehend von einem Black-Box-Modell des menschlichen Körpers, oder auf Grund divergierender medizinischer Schulansichten von einer kirchlichen Institution beurteilt werden sollen bzw. werden. Wäre es nicht adäquater und insgesamt sinnvoller, dies der gläubigen Bedeutungs- Zuschreibung derjenigen zu überlassen, die eine Heilung erlebt haben?

1.3.4. Auffälligkeiten in der personellen Zusammensetzung der Lourdeswunder

Die Statistik der 69 Personen, die seit 1858 eine kirchlich anerkannte Wunderheilung erlebten, zeigt folgendes Bild: Frauen: 54 (78 %) / Männer: 9 (13 %) / Kinder unter 16 Jahren: 6 (9 %). Dies provoziert, ausgehend vom Konzept, wonach Gottes Geist «in den Leib eingreifen»13 kann, die Frage, wie es dazu kommt, dass Gott deutlich mehr Frauen heilt als Männer, ob bloss viel mehr kranke Frauen nach Lourdes pilgern, oder inwiefern sich Frauen z. B. leichter heilen lassen. Es legt andererseits, wie oben bei 1.2. erwähnt, nahe, dass Heilungswunder auch mit der geheilten Person und deren Umfeld in Beziehung stehen. Im Vergleich von Priestern und Ordensleuten mit Personen im Laienstand zeigte sich folgendes Bild: Von den 9 Männern war ein Drittel Priester bzw. Ordensmann, von den 54 Frauen waren es bloss deren 14,8 Prozent. Die Anzahl geheilter Frauen im Laienstand war damit sehr viel höher als diejenige von Männern ohne Weihe bzw. Ordensprofess.

2. Theologische Gründe gegen das verlangte Heilungswunder14

2.1. Heilungswunder bei Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin und deren unberücksichtigte Rezeption

2.1.1. In der Tradition des Kirchenvaters Augustinus

In der auch heute noch weltweit wachsenden Sekundärliteratur über Kirchenvater Augustinus (354– 430) findet sich über das 22. Buch, dem «Wunder-kapitel» seiner «De civitate Dei» kein ausführlicher Kommentar, auch noch nicht im Augustinus-Lexikon (2009). Im 21. Buch schreibt Augustinus, dass Gott der Schöpfung in Natur und Mensch Möglichkeiten eingestiftet hat, Durchbrechungen des Naturzusammenhangs falsch zu interpretieren: «Ein Wunder geschieht nicht wider die Natur, sondern wider die bekannte Natur («sed contra quam est nota natura»).»15 Der Kirchenvater erkannte somit bereits zu Beginn des fünften Jahrhunderts die Möglichkeit von Rückzugsgefechten bezüglich (Heilungs-)Wundern mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt. Augustinus vertrat damit bereits die Auffassung, dass, was heute ein Heilungswunder ist, morgen keines mehr sein kann, wenn mehr über die Natur gewusst wird. (Eine Parallele findet sich in der griechischen Mythologie in der Vorstellung, dass Blitz und Donner Götterwirken sei, was im Laufe naturwissenschaftlichen Fortschritts als ein meteorologisches Phänomen erkannt wurde). Nach Augustinus sind der Natur des Menschen bereits besondere Kräfte (heute Selbstheilungskräfte genannt) inhärent, andererseits ist bei ihm die Wunder-Frage unter dem Gesichtspunkt der Allmacht Gottes zu verstehen, die sich auch auf die Körperlichkeit des Menschen (ob lebend, sterbend oder tot) bezieht.16

2.1.2. Wunder-Diskurs bei Thomas von Aquin

Grundlegend für den Aquinaten ist (ähnlich wie bei Augustinus), dass Gott notwendig überall in allen Dingen ist. Gott bewirkt daher in erster Instanz Wunder, aber Gott schränkt seine Allwirksamkeit ein, um den Menschen die «Zweitursachen», «die eigenen Wirkungen», zu belassen. Die Potenzialität eigenen Tätig-Seins der geschaffenen Dinge bestätigend, aber gleichzeitig die Machtstellung Gottes dabei hervorhebend formulierte er folgendermassen: «Also werden wir den geschaffenen Dingen nicht eigene Tätigkeiten aberkennen, wenn wir auch alle Wirkungen der geschaffenen Dinge Gott als dem in allem Tätigem zuschreiben wollen.»17 Diese nicht von einem damals üblichen theozentrischen und auch nicht von einem rein anthropozentrischen, sondern von einem bereits dialogischen anthropotheozentrischen Weltbild ausgehende Denkweise wurde in der Rezeptionsgeschichte betreffend Heilungswundern fälschlich verkürzt auf: «Gott wirkt Wunder», ein Heilungswunder ist ein Kraftakt Gottes, bis hin zu Gott bestätigt mit einem Heilungswunder eine Heiligsprechung. Wo bleibt in dieser Sicht die Befähigung des Heilung Empfangenden zum Wirksamwerden, was nur im Rahmen einer gewissen Autonomie geschehen kann, und auch die Möglichkeit eigener Verantwortung für sich und andere mit sich bringt? Und wie soll auf Grund dieser Heilungswunder-Komplexität ein obligates Kriterium für die Entscheidung Heilige, Heiliger ja oder nein beigebracht werden?

2.2. Zum Gebrauch des Titels «Heilige», «Heiliger» durch Paulus

Welche (theologischen) Argumente sprechen dafür, daran zu denken, den Titel «Heilige», «Heiliger» wieder gemäss urchristlicher Tradition erweitert zu gebrauchen und herausragend tugendhafte Gläubige mit anderer Anerkennung, Auszeichnung, Wertschätzung zu bestätigen und zu ehren? Mit dieser Fragestellung soll keineswegs dem Netzwerk der «Communio Sanctorum » eine Absage erteilt werden, sondern im Gegenteil eine Aufwertung dieser durch den vermehrten Einbezug auch Lebender durch die Gläubigen. Eine Heilige bzw. ein Heiliger zu sein wurde in frühchristlichen Zeiten allen getauften Gläubigen zu teil. Dies auf Grund der Heiligung in Jesus Christus durch die Taufe und das Offen-Werden für den Heiligen Geist.

2.2.1. Befunderhebung in den Briefen des Völkerapostels Paulus

Die damals übliche Anrede Getaufter als «Heiliger», «Heilige» geht aus den folgenden Anreden paulinischer Briefe an die Gemeinden hervor. So lesen wir:

– «An alle in Rom Seienden von Gott Geliebten, berufenen Heiligen» (Römer 1,7);

– «An die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen» (1 Korinther 1,2);

– «Mit den Heiligen allen» (2 Korinther 1,1);

– «… grüsst jeden Heiligen in Christus Jesu» (Philipper 4,21) und «… grüssen lassen euch alle Heiligen» (Philipper 4,22);

– «alle Heiligen» (Kolosser 1,4);

– Einzige Ausnahme bilden die Briefe an die Thessalonicher.

2.2.3. Ausblick auf eine Aufwertung der «Communio Sanctorum» der Lebenden

In der frühchristliche Tradition war das Wissen, eine in Christus Jesus bereits geheiligte Person, eine Heilige, ein Heiliger zu sein, im Bewusstsein der Christen tief verwurzelt. Wenn ich hier daran erinnere, will dies keineswegs eine Absage an die gläubige Verbundenheit heutiger Christen mit der Communio Sanctorum bereits Verstorbener bedeuten. Dies will vielmehr das Bewusstsein eigener Heiligkeit durch Christus Jesus, also der «Communio Sanctorum» aller lebenden Christgläubigen, inklusive Verstorbener nach der mittelalterlichen Betonung Sünder/Sünderin zu sein, wieder wach rufen. Dies kommt auch der christlichen Kernwahrheit, dass die «culpa» bereits zur «felix culpa» geworden ist, näher und hebt pastoralpsychologisch betrachtet das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen, was aufrichtet, aufstellt und entstressend wirkt. Zu denken wäre z. B. an eine diözesane Kreierung von durch Werte profilierte Vorbilds- Heilige an Stelle ruinöser, im Netz leicht propagierbarer weltlicher Inszeniermodelle.18 So könntenviele Suchenden, die heute von teils skurrilen, ihre Zukunft verbauenden Castings angelockt werden, eine Alternative finden.

3. Zusammenfassender Abschluss

Es wurden Argumente und Gründe interdisziplinär zusammengetragen, welche die unabsehbaren Schwierigkeiten zeigen, ein «behauptetes» Heilungswunder – wie Johannes Paul II. schrieb –, zum institutionell anerkannten, später nicht revisionsbedürftigen Wunder zu befördern. Dass sich Heilungen, die als Heilungswunder verstanden werden können, ereignen, steht ausser Diskussion, zumal die Medizin dafür den Begriff Spontanheilungen geprägt hat. Seit jeher wurde aber bei einer Heiligsprechung die christlichen Werte verkörpernde Tugendhaftigkeit und Glaubensstärke als wichtigstes Kriterium betont. Wunderheilungsnachweise wurden bereits in weiser Voraussicht durch Johannes Paul II. in «Divinus perfectionis magister » vom Nachweis der tugendhaften Vita als Verfahren abgetrennt. Bereits namhafte Kirchenlehrer warnten als wichtige theologische Exponenten davor, eine institutionelle Wunderheilung festzuschreiben. Dies im Hinblick auf peinliche Rückzugsgefechte, weil deklarierte Wunderheilungen als zeitgebundene, leicht dem Stand neuer Forschungen und Ergebnisse der profanen Wissenschaften zufolge sich als falsch erweisen können, was auch nicht im Sinne von Nr. 62 der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» wäre. Keiner Erwähnung bedürfen all die Nachteile eines langwierigen Wunderanerkennungsprozesses in personeller, ökonomischer, kirchenrechtlicher und damit auch kirchenpolitischer Hinsicht, um nur einige Problemkreise zu erwähnen. Franziskus, Bischof von Rom und päpstliches Oberhaupt, setzt daher mit der Kanonisation von Johannes XXIII. ohne deklariertes Heilungswunder ein richtiges Signal, mit oder ohne Begründung von «Dispens».


Heilungswunder: Eingreifen Gottes oder biologischer Glücksfall?

Yvonne A. Maurer: Heilungswunder. Eingreifen Gottes, biologischer Glücksfall oder Volksmythos? (= SpringerMedizin). (Springer Verlag) Berlin-Heidelberg 2012, 221 S.

Die in Medizin und Theologie promovierte Medizinerin (FMH für Psychiatrie und Psychotherapie) Yvonne A. Maurer legt mit dem hier anzuzeigenden Buch ihre theologische Promotionsarbeit vor, die an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar (DE ) mit der Bestnote angenommen wurde. Sie untersucht darin unter multidisziplinärer Fragestellung das Thema «Heilungswunder» aus philosophischer, theologischer und medizinischer Perspektive, auch unter Einbezug der in den letzten Jahren vernachlässigten Volksfrömmigkeit.

Sie kommt dabei zu folgenden Schlüssen: Sowohl die Argumente der philosophischen Wunderdebatte des 17./18. Jahrhunderts wie auch die damaligen kirchlichen Vorschriften sind heute als überholt zu betrachten. Viele Wunderheilungen in Lourdes sind medizinisch erklärbar(er) geworden. Jeder Mensch ist ein komplexes Wesen, das unterschiedlich reagiert, so dass Erkrankung und Gesundung für Individuen keinen letztgültigen medizinischen Grenzwerten und Kriterien zugeordnet werden können. «Der Schöpfergott hat via Evolution enorme Heilungspotenziale in die Menschen hineingelegt» (182), die zusätzlich zur Schulmedizin mobilisiert werden können. Theologische Konzepte von Augustinus und Thomas von Aquin sind mit heutigen Erkenntnissen dabei kompatibel. Die Autorin plädiert dafür, dass Heilungswunder, Wunderheilungen und Spontanheilungen «besser als bio-psychosozial- spirituell erwartbare Heilungen» bezeichnet werden (183).

Urban Fink-Wagner

1 Vgl. z. B. unten (Punkt 1.3) kirchlich als Wunder anerkannte TBC-Erkrankungen im heiligen Bezirk von Lourdes.

2 Heilungswunder betragen gemäss Archiven des Vatikans 95,3 Prozent aller für Kanonisationen beigebrachten Wunder (vgl. Jacalyn Duffin: Medical Miracles. Oxford, 2009, 73 bzw. Tabelle 3.1).

3 Ebd.

4 Vgl. Victor and Edith Turner: Image and Pilgrimage in Christian Culture – Anthropological Perspectives. New York 1978.

5 Stefania Falasca: Die Notwendigkeit der Wunder, in: 30 Tage in Kirche und Welt. Internationale Monatszeitschrift 2004, Nr. 4, 48 –51.

6 David Hume: Über Wunder, in: H.Hering (Hrsg).: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Stuttgart 2002, 115.

7 Ebd., 141–167.

8 Nancy Cartwright: How the laws of physics lie. Oxford 1983; Nancy Cartwright: Where the Laws of Nature come From? Münster 1998, 1–30.

9 Sandra Mitchell: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Frankfurt 2008.

10 Yvonne Maurer: Heilungswunder – Eingreifen Gottes, biologischer Glücksfall oder Volksmythos? Berlin-Heidelberg 2012, 53–58.

11 G. Chandra et al.: Effect of vitamin D3 on phagocytic potential of macrophages with live Mycobacterium tuberculosis and lymphoproliferative response in pulmonary tuberculosis, in: J Clin Immunol 24 (2004), 249–257; TY Chan: Vitamin D deficiency and suceptibility to tuberculosis, in: Calcif Tissue Int 66 (2000), 476 – 478; William Grant et al.: Benefits and requirements of vitamin D for optimal Health: a r eview, in: Altern. Med. Rev. Band 10,2 (2005), 94 –111.

12 Vgl. Patrick Freund / Martin Schwab u. a.: Nogo-Aspecific antibody treatment enhances sprouting and functional recovery after cervical lesion in adult primates, in: Nature Med. 12 (2006), 790 –793.

13 Joseph Ratzinger: Skandalöser Realismus? Gott handelt in der Geschichte. Bad Tölz 2005, 24.

14 Vgl. Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution «Divinus perfectionis magister ». Rom 25. Januar 1983, Abschnitt I, 14.

15 Aurelius Augustinus: De civitate Dei/Der Gottesstaat. Hrsg. von C. J. Perl. Salzburg 1953, 433 ( XXI/8).

16 Ebd., 437.

17 Thomas von Aquin: Summa contra gentiles. Hrsg. von K. Allgaier. Darmstadt 1990, 298 f. (IV/1).

18 ZB. durch Auszeichnung mit christlichem Grand Prix 20XX für …

Yvonne Maurer (Bild: maurermedien.ch)

Yvonne Maurer

Dr. theol. et Dr. med. FMH Yvonne Maurer ist Begründerin des ganzheitlichen, die spirituelle Dimension einbeziehenden IKP-Therapie- Ansatzes sowie Begründerin von christianCoaching.ch. Sie ist auch als TV -Moderatorin und Buchautorin, die Religion mit Psychologie, Umgang mit sich und andern und als Lebenshilfe verbindet, tätig.