Albino Luciani und Aldo Moro

Die scheinbar nebensächliche Bemerkung von Tina Anselmi unter der Überschrift «Luciani e Moro» (in der Zeitschrift «HUMILITAS» des Centro Papa Luciani unweit von Belluno am Fuss der Dolomiten) lässt aufhorchen. Die ehemalige Exponentin der «Democrazia Cristiana» liess die Leserschaft wissen, dass ein Ratschlag Albino Lucianis für die Schlüsselfigur der italienischen Politik 1959 bis 1978, Aldo Moro, nach dessen Aussage einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte. Der damalige Bischof von Vittorio Veneto empfahl dem Ministerpräsidenten Moro (anlässlich einer Begegnung in Venetien 1966): «Vor die Wahl zweier grosser Übel gestellt, sich stets für das kleinere zu entscheiden.»

Am 16. März 1978 wurde der von zehn Leibwächtern in fünf Autos eskortierte Moro auf einem Umweg zum Parlament von Rotbrigadisten entführt und 54 Tage lang im sogenannten Volksgefängnis festgehalten. Gleichsam fünf Minuten vor zwölf wollten die Terroristen den Schulterschluss zwischen der langjährigen Regimepartei und der unter Enrico Berlinguer immer mächtiger gewordenen KPI (Kommunistische Partei Italiens) vereiteln. Während fast acht Wochen verhörten die Rotbrigadisten ihren Gefangenen. Mittlerweile beschäftigte dessen Schicksal die Weltöffentlichkeit mehr und mehr. Anfang Mai 1978 bat Paul VI. die Männer der Roten Brigade handschriftlich – weltweit veröffentlicht – «auf den Knien, diesen guten Menschen zu schonen und zu befreien».

Nach tage- und halbe Nächte langen Verhören und Briefwechseln mit der Aussenwelt – eine Hinhaltetaktik sondergleichen, wie die öffentliche Meinung erst Jahre später anlässlich des den Rotbrigadisten gemachten Prozesses erfahren hatte – erinnerte sich Moro offensichtlich an den von Albino Luciani erteilten Ratschlag und entschied sich für das kleinere Übel – seinen Tod. So gelang es unter Druck der öffentlichen Meinung, nicht zuletzt auch der päpstlichen Intervention, das Lager der Linksextremen endgültig zu spalten und die Rotbrigadisten zu isolieren. Zum Zeichen ihrer missglückten «Mission » deponierten sie Moros Leichnam im Kofferraum eines roten Renaults ausgerechnet ungefähr im gleichen Abstand zwischen der KPI-Parteizentrale und dem Hauptsitz der Democrazia Cristiana, blosse 150 Meter voneinander entfernt!

Das lange Sterben als das kleinere Übel

Mit dem Opfertod rettete Moro nicht nur den von ihm seit Jahren eingefädelten historischen Kompromiss zur Verhütung einer kommunistischen Machtergreifung in Italien, sondern auch die Zugehörigkeit seines Landes zur atlantischen Bündnisgemeinschaft. Durch sein Ableben wurde die Nato nicht auf die vielleicht grösste Belastungsprobe der Nachkriegszeit gestellt. Wir wissen heute, dass der damalige Kreml- Chef Leonid Iljitsch Breschnew in der bereits trostlosen Wirtschaftslage seines Machtbereiches mit dem Gedanken der Flucht nach vorne – der Verwandlung des Kalten Krieges in den Dritten Weltkrieg – spielte. Moros lange Gefangenschaft hat dies mit der zunehmend aufgebrachten öffentlichen Meinung vereitelt. Erst 13 Jahre später kam es in Genf – Bundesrat Kurt Furgler in der Mitte – zwischen Michael Gorbatschow und Ronald Reagan – zum Handschlag der wichtigsten Exponenten des Ost- und Westblocks und anschliessend zur Auflösung der Sowjetunion und der endgültigen Überwindung des Kalten Krieges.

Trauriger Zusammenbruch einer Ideologie, der nicht zuletzt die Rückbesinnung auf die urchristliche Gütergemeinschaft vorschwebte, die jedoch ohne religionstranszendenten Rückhalt zum Scheitern verurteilt war. Mit dem Satz «Wenn alles jedem gehört, kümmert sich niemand um etwas» hatte der altgriechische Philosoph Aristoteles bereits 350 Jahre vor Christi Geburt den Zusammenbruch wie derjenige der Sowjetunion vorhergesehen.

Vor seiner Wahl zum 264. Nachfolger des Heiligen Petrus erklärte der polnische Kardinal Karol Wojtyla während der Sedivakanz jedenfalls: «Wer weiss: Die Bedeutung Johannes Pauls I. steht im umgekehrten Verhältnis zur Kürze seines Pontifikates. » War der sogenannte lächelnde Papst der 33 Tage lediglich ausersehen, ein verbindliches Zeichen zu setzen? Wie Kardinal Josef Ratzinger 1998 vermutete, «Papst Luciani bleibt in der Erinnerung aller als der gute Seelsorger. Er hat sein Leiden in ein Lächeln der Güte verwandelt, und diese Botschaft ist besonders heute von grosser heilsamer Bedeutung.»1

Bescheidenheit – die Tugend der Tugenden und …

Musste Johannes Paul I. so früh – nach blossen 33 Tagen – sterben, um bald den Weg für Johannes Paul II. zu ebnen und dessen nahe liegende Mission der Überwindung des Kalten Krieges zu ermöglichen? Was dem polnischen Papst nach dem Attentat von Ali Agca beinahe das Leben gekostet hat. Der gläubige Mensch kann nur ahnen dass die göttliche Vorsehung es so wollte, Johannes Paul I. lediglich berufen war, «mit seiner Empfehlung der Konzentration auf Bescheidenheit und Liebe in gelassener Heiterkeit» einen nachhaltigen Akzent für die Entwicklung des Christentums und die Geschichte der Menschheit zu setzen. Mit seiner von keinem anderen Papst erreichten Ausstrahlung2 darf Johannes Paul I. trotz der Kürze seines Pontifikates doch mit seinen «Opera Omnia»3 vielleicht sogar als Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts und Wegweiser für das dritte Jahrtausend nach Christus bezeichnet werden. Ein mittlerweile fast unbekannter Papst, der für die Zukunft der Menschheit die entscheidenden Akzente gesetzt hatte und sie bisher nur andeuten konnte. Dass die Bescheidenheit die Tugend der Tugenden ist, müsste eigentlich als blosse Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Denn wenn nach der Genesis der Hochmut Luzifers das Laster der Laster darstellt, müsste doch das Gegenteil – die Bescheidenheit – die Tugend der Tugenden sein dürfen. Was jedoch kaum je von irgendeiner Weltanschauung, Kultur, Ideologie, Zielsetzung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zur Errettung der Menschheit von all den heute geradezu handgreiflichen Bedrohungen gestellt worden ist.

… der Ausweg aus der Sackgasse

Der gläubige Christ sieht hinter allem einmal mehr die göttliche Vorsehung walten: Dass Albino Luciani «nur» berufen war, ein verbindliches Zeichen für den (Welt-)Frieden unter den Völkern und einzelner Menschen zu setzen: die Konzentration auf die «Bescheidenheit und Liebe in gelassener Heiterkeit»,4 um den Weg aus der Sackgasse all der bisherigen vergeblichen Versuche – Versuchungen – zur Wiedererlangung des Paradieses zu finden.

 

1 30 Giorni, Luglio/Agosto 1998, 29. Vgl. auch Victor Willis Artikel zum 100. Geburtstag von Albino Luciani: Der unvergessliche Papst der 33 Tage, in: SKZ 180 (2012), Nr. 42, 682.

2 Mein mehr agnostisch erzogener Stiefsohn – d amals zweiundzwanzigjährig – erklärte nach dem ersten sonntäglichen Auftritt des Papstes mit Tränen in den Augen: «Wenn alle Päpste so sein könnten, wäre bald die ganze Menschheit katholisch.»

3 9 Bände seiner wunderbaren, auch humorvollen Verlautbarungen voller wegweisender Gedanken für die ganze Menschheit, veröffentlicht im Verlag «Messaggero di San Antonio» in Padua.

4 Johannes Paul I.: Mit einem Lächeln gesagt. Ausgewählte Texte für jeden Tag des Jahres. Herausgegeben von Wolfgang Bader. ( Verlag Neue Stadt) München- Zürich-Wien 21999, 75 (für den 9. März): « Als ich im Seminar Moral lehrte, habe ich einmal genau nachgezählt: Ganze 134 Tugenden indet man beim heiligen Thomas: Glaube, Hoffnung, Liebe und all die anderen Tugenden. Wollte man alle auf einmal ausüben, käme man in ein höllisches Durcheinander. Konzentrieren wir uns also auf zwei Tugenden: die wir uns aber zur Gewohnheit machen sollten: Bescheidenheit (humilitas) und Liebe. Diese Tugenden sollten wir in gelassener Heiterkeit üben.»

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen