Kirche – Staat und die Menschenrechte

Die auf den Menschenrechten basierte Revolution in den USA (1776) nahm eine ganz andere Entwicklung als diejenige in Frankreich (1789). In den USA wurde eine andere Form gewählt, die Menschenrechte zu begründen.1

Religiöse und säkulare Argumente begründeten die Verfassung. Mit Alexis de Tocqueville gesagt: In den USA wurden der «esprit de religion» und der «esprit de liberté» miteinander kombiniert. Georg Jellinek wies als Verfassungshistoriker schon 1919 auf die chronologische Priorität und den Einfluss der amerikanischen auf die französische Menschenrechtserklärung hin. Die eigentliche Dynamik erkennt der Verfassungsjurist Jellinek in den Kämpfen nordamerikanischer Protestanten um religiöse Freiheit.

Keine Staatskirche mehr

Das Zusammenleben der Denominationen in einem Territorium hatte zur Folge, dass der bisher selbstverständliche Gedanke der Staatskirche verworfen wurde, um mit der Trennung von Staat und Kirche allen Protestanten die Religionsfreiheit gewähren zu können. Überraschenderweise wurden die Abschaffung der Staatskirche und die Propagierung der Trennung von Mitgliedern einer Kirche vorangetrieben, die nicht zum Protestantismus gezählt werden kann. Erstmals waren es die Katholiken im Bundesstaat Maryland, welche dort die Mehrheit für ganz kurze Zeit erworben hatten. In dem von ihnen gegründeten Bundesstaat Maryland (Marienland) fanden sie einen sicheren Hafen vor Verfolgung.2

In der Kolonie Pennsylvania konnte eine demokratische Ordnung errichtet werden, in der die Religionsfreiheit gedeihen konnte, auch nachdem die Quäker nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. In Maryland hatte dies nicht funktioniert. Die Verschiebung der Machtverhältnisse zu Gunsten der Protestanten führte «zu Konflikten mit den Katholiken, die zum Teil gewaltsam ausgetragen wurden (… infolge des Hinüberschwappens der Konfliktlinie aus dem Mutterland, wo die Katholiken noch bis tief in das 19. Jahrhundert einen schweren Stand haben sollten). Später schlug sich die protestantische Dominanz in der Etablierung der anglikanischen Staatskirche nieder, und selbst nach der Revolution lebten die Katholiken noch als dissenters (anders Denkende) im eigenen Staat.»3 Pennsylvania und Rhode Island waren gegen Ende des 17. Jahrhunderts die einzigen Kolonien, in denen eine relativ allgemeine Gewissensfreiheit in Kombination mit der Trennung von Staat und Kirche bestehen konnte. In anderen Staaten lockerten sich die Bande zwischen Staat und protestantischen Denominationen. Selbst nach der Loslösung von England bestanden noch in mehreren Kolonien staatskirchenähnliche Verhältnisse mit öffentlicher Finanzierung und sonstiger Privilegierung einer oder mehrerer Denominationen fort – auch wenn die krassen Auswüchse der Unduldsamkeit gegenüber unbequemen Dissidenten und religiösen Minderheiten wie Katholiken und Juden seit Ende des 17. Jahrhunderts schrittweise gemildert wurden. Vor dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges existierten in neun von den dreizehn neuenglischen Kolonien staatliche Etablierung einer Kirche oder Denomination. (…) Die Verfassung von North Carolina aus dem Jahre 1776 erklärte: «That no person who should deny the being of a God, or the truth of the Protestant religion, (…) should be capable of holding any office or place of trust in the civil government of this State.»4

Virginia Declaration of Rights

Umso erhitzter erfolgte die Auseinandersetzung um die Trennung von Staat und Religion sowie die Religionsfreiheit im Staate Virginia. James Madison und Thomas Jefferson aber formulierten in Art. 16 der Virginia Declaration of Rights von 1776: «religion (…) can be directed only by reason and conviction, not by force or violence; and therefore all men are equally entitled to the free exercise of religion, according to the dictates of conscience.»5 Sie diente anderen Erklärungen von Einzelstaaten als auch der neuen Verfassung der Vereinigten Staaten mitsamt den im Jahre 1791 beigefügten Zusatzartikeln als Vorbild und stellte den revolutionären Grundsatz im ersten Satz auf, «that all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the mean of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.» Die im Art. 16 programmierte Religionsfreiheit könnte man als einen Anwendungsfall des hier formulierten Prinzips von der natürlichen gleichen Freiheit des Menschen verstehen, vorausgesetzt, sie wird konsequent auf Atheisten und Agnostiker (ja sogar auf Katholiken) erstreckt (…): «That religion, or the duty that we owe to our Creator, and the manner of discharging it, can be directed only by reason and conviction, not by force or violence; and therefore all men are equally entitled to the free exercise of religion, according to the dictates of conscience; and that it is the mutual duty of all to practise Christian forbearance (Nachsicht), love and charity towards each other.»6

Christentum vorausgesetzt

Das Christentum war damit vorausgesetzt. Dies bedeutete, dass es bei der Religionsfreiheit in der Virginia Declaration of Rights massgeblich auch auf religiöse Motive ankam. Denn im Parlament wurde die Trennung von Staat und Kirche durch eine Koalition zwischen nichtanglikanischen protestantischen Sekten und Aufklärern um Thomas Jefferson und James Madison gemeinsam errungen. Dieses Trennungsmodell, basierend auf der Religionsfreiheit, das die stark verfolgte Gruppe der Katholiken in Maryland als erste auch mit einer sprachlichen Formulierung («the first recorded use of the words ‹free exercise› with reference to religion») geschaffen hatte, wurde durch Madison und Jeffersons Engagement bald im ganzen Land verbreitet. Damit trugen vor allem diese staatlichen Verfassungstexte und nicht ökumenische Gespräche zur Toleranz bei. Mit der Erklärung der Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (1965) wurde die Religionsfreiheit lehramtlich anerkannt. Die Versöhnung mit dem modernen Verfassungsstaat, der einen Menschenrechtskatalog zur eigenen Begründung voranstellt, war gegeben.7 Die katholische Kirche begann, in menschenrechtlichen Kategorien zu denken.

 

1 Dieser Artikel basiert auf meiner Studie, die abgedruckt wird in: Peter Kirchschläger, Nichtstaatliche Akteure und ihre Verantwortung für die Menschenrechte. Religionsrechtliche Studien, Bd. 4, Zürich 2017.

2 Marcel Stüssi, Models of Religious Freedom. Switzerland, the United States, and Syria by Analytical, Methodological, and Eclectic Representation, Münster 2012, 86. Obwohl Mitglieder der katholischen Kirche in den USA bereits 1649 wesentlich zur Abschaffung der Staatskirche beigetragen haben, ist die Religionsfreiheit von deren offiziellen Vertretern erst 1965 anerkannt worden. Das belegt die These, dass zwischen den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft (hier dem Katholizismus) und der offiziellen Vertretung derselben (hier der katholischen Kirche) zu unterscheiden ist.

3 Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld 2015, 145.

4 Ebd. 145–146.

5 Francis Newton Thorpe (Hrsg.), Federal and State Constitutions, Washington 1906, Government Printing Office. Vol. VI, 3814.

6 Ahmet Cavuldak, Gemeinwohl, 149.

7 LG 32; GS 29; NA 5; DH 1.

Adrian Loretan

Adrian Loretan

Prof. Dr. Adrian Loretan ist Ordinarius für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern und Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht