Heilighalten, was der Heilige heiligspricht

Das Heiligkeitsgesetz in Levitikus 19 ist der Schlüssel für das Heiligkeitsverständnis der Bibel und des Judentums. In der Mitte des vermeintlichen Sammelsuriums von Vorschriften steht das Gebot der Nächstenliebe.

Levitikusrolle in althebräischer Schrift (11QpaleoLeva), Schrein des Buches im Israel-Museum, Jerusalem. (Bild: Wikipedia)

 

Der 7. Wochenabschnitt des 3. Buches Moses in der Leseordnung der Synagoge (Kapitel 19 und 20) heisst Qedoschim nach dem Imperativ «Qedoschim Tihju» – «Heilig sollt ihr sein!» (Lev 19,2). Die Begründung folgt auf dem Fuss: «Denn ich der Herr, euer Gott, bin heilig» (Lev 19,2). Was Heiligsein konkret heisst, wird in den folgenden 36 Versen des 19. Kapitels entfaltet. Es ist der Kern des in der Bibelwissenschaft sogenannten Heiligkeitsgesetzes. Nach der traditionellen Gebotszählung sind in diesem Kapitel nicht weniger als 48 der 613 Ge- und Verbote der Tora enthalten. Wenn wir fragen, was die Bibel und das Judentum unter Heiligkeit (Qeduscha) versteht, dann müssen wir an dieser Stelle ansetzen.

Die Dreimalheiligpreisung berührt

Zu sagen, heilig sei das vom Gemeinen Abgesonderte, ist eine Binsenwahrheit. Gott ist nach dem Zeugnis des Propheten dreimalheilig (Qadosch Qadosch Qadosch, Jes 6,3) – über den Mikro-, dem Meso- und dem Makrokosmos erhaben, könnte man sagen. Die Rabbinen nennen ihn schlicht: «Der Heilige» (HaQadosch). Die Dreimalheiligpreisung ist in der Kirche wie in der Synagoge ein Höhepunkt des Gottesdienstes. Dort, in einer winzigen Synagoge in den labyrinthischen Gassen des Mellahs von Mogador in Marokko, ist Rudolf Otto, dem Verfasser des Kultbuches «Das Heilige», das Phänomen aufgegangen. In seinem Reisebericht 1911 schildert er, wie er am Schabbat diese Synagoge betrat und das Folgende erlebte: «Plötzlich löste sich die Stimmenverwirrung und – ein feierlicher Schreck fährt durch die Glieder – einheitlich, klar und unmissverständlich hebt es an: ‹Kadosch Kadosch Kadosch Elohim (sic!) Adonai Zebaoth Male‘u (sic!) haschamajim (sic!) wa-ha‘arez kebodo!› Ich habe das Sanctus Sanctus Sanctus von den Kardinälen in St. Peter und das Swiat Swiat Swiat in der Kathedrale des Kremls und das Hagios Hagios Hagios vom Patriarchen in Jerusalem gehört. In welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabensten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft. Mehr als sonst an diesem dürftigen Orte, wo sie erklingen in der Sprache, in der sie Jesajas zuerst vernommen hat, und von Lippen des Volkes, dessen erstes Erbteil sie waren.» Dieses orientalische Ur-Erlebnis hätte Otto freilich in jeder x-beliebigen Synagoge seiner Heimat haben können, wenn auch die Qeduscha in der 1907 eingeweihten Synagoge Bodenstedtstrasse seiner Heimatstadt Peine etwas zivilisierter angemutet haben dürfte. Aber wie gebändigt, geordnet, gesittet immer, die Qeduscha bleibt ein ekstatisches Gebet.

Im Fokus ist der Alltagsheilige

Im Sinne Ottos ist das Dreimalheilige das dreimal Andere, das «ganz Andere» eben: «das Fremde und Befremdende, das aus dem Bereich des Gewohnten, Verstandenen und Vertrauten und darum ‹heimlichen› überhaupt Herausfallende und zu ihm im Gegensatz sich Setzende». Wenn man dem folgt, dann fragt sich allerdings, wie die «ganze Gemeinde der Kinder Israels» (Lev 19,1) heilig werden soll? Ist der Graben nicht zu garstig zwischen dem dreimal Heiligen und den bestenfalls einmal Heiligen? Sehen wir uns einmal den Forderungskatalog Gottes an! Was erwartet er vom Menschen, damit er ihn heiligspreche?

Wenn man diesen Katalog mit Ottos Kriterien im Kopf überfliegt, dann wird man vergeblich nach dem «mysterium tremendum et fascinans» suchen. Mit dem irischen Philosophen John Toland (1670–1722) ist man geneigt auszurufen: Judaism not Mysterious! Es werden kein religiöser Alpinismus, keine transzendentale Meditation, keine athletische Askese verlangt. Lässt man einmal die kultischen Beimischungen ausser Acht, dann handelt es sich um Alltagstugenden, ja um die minimalen Anstandsregeln im Umgang mit Menschen: Nicht stehlen! Nicht lügen! Nicht betrügen! Nicht ausbeuten! Nicht rauben! Nicht in die Irre führen! Nicht übel nachreden! Nicht nachtragen usw. (Lev 19,11–18)! Der ganze Abschnitt ist ja ausdrücklich nicht an Ausnahmeerscheinungen, sondern an die ganze Gemeinde gerichtet. Der Heilige, das ist einfach der anständige Mensch! Es stimmt also, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel schrieb, mit Israel halte die Prosa Einzug in die Religionsgeschichte. Wenn Heiligkeit zweifellos etwas mit Absonderung zu tun hat, dann geht es dabei jedenfalls nicht um besondere Ausnahmemenschen im Gegensatz zu Durchschnittsmenschen und auch nicht um religiöse Sonderleistungen. Die Frage aber bleibt, was die kultischen Gebote wie Mischungstabus in diesem Porträt des prosaischen Alltagsheiligen zu suchen haben.

In der Mitte steht die Nächstenliebe

Moderne Exegese bestätigt, was schon die jüdische Tradition erkannt hat. Die Sammlung in Levitikus 19 ist eine Summe des ganzen Gesetzes, gleichsam der Dekalog der Priesterschrift (P). Wenn die modernen Exegeten allerdings von Sammlung sprechen, dann denken sie an ein Sammelsurium. Denn welchen Zusammenhang sollte es zwischen erhabenen sozialethischen Geboten wie das der Nächstenliebe (V. 18) und kleinlichen Vorschriften über Hairstyle (V. 27) und Tattoos (V. 28) geben? Kapitel 19 erscheint wie ein Potpourri aus «praecepta moralia, judicialia», und «ceremonialia». Diesem Sammelsurium nähert sich der moderne Exeget lieber historisch als holistisch. Der christliche Exeget jubelt, sein Herr hat die Spreu vom Weizen getrennt und die Nächstenliebe aus diesem Wust von Geboten hervorgehoben (Mt 22,37–40, Mk 12,28–34, Lk 10,25–37). Nur so viel ist ganz sicher, wir werden nie verstehen, was die Bibel «heilig» nannte, wenn es uns nicht gelingt, einen Begriff von Heiligkeit zu bilden, aus dem sich die besagten 48 Bestimmungen mühelos ergeben. Und es wäre doch ein eklatanter performativer Widerspruch, wenn ein Text, der allerlei Mischungen verbietet (V. 19), selbst ein sinnloser Mischmasch wäre. Wir suchen einen Gesichtspunkt, von dem aus das scheinbare Wirrwarr sich in lauter Ordnung auflöst.

Dagegen weist die Bibelkritik auf die zahlreichen inhaltlichen Wiederholungen und Brüche des Textes hin. Ja, eine lineare Lektüre des Textes – auf Hebräisch – von oben rechts bis unten links, stösst auf eine verwirrende Unordnung. Nicht so, wenn sie die Ringkomposition des Textes erkennt, der nicht linear von seiner Mitte her gelesen werden will. Es ist wie bei der Betrachtung eines Medaillon-Teppichs. Wer ein Motiv nach dem anderen wahrnimmt, wird die kunstvollen Spiegelsymmetrien übersehen und die Wiederholungen diesseits und jenseits des Symmetriepunktes nicht erkennen. Wir haben den orientalischen Teppich Levitikus 19 an anderer Stelle ausgerollt und müssen darauf verweisen.1  Jedenfalls ist die Mitte der 36 Verse, um die sich alles dreht, das Gebot der Nächstenliebe im Vers 18. Diesseits und jenseits dieses Mittepunktes wiederholen sich die Gebote in umgekehrter Reihenfolge: dem Gebot, die Eltern zu ehren (V. 3a) und die Schabbate zu hüten (V. 3b), stehen die fast wortgleichen Gebote die Schabbate zu hüten (V 30) und die Alten zu ehren (V. 32) gegenüber. Inwiefern ist nun die Textmitte auch die Sinnmitte des Textes?

Das Heiligkeitsgesetz ist Gewaltprävention

Das Gebot der Nächstenliebe ist in seinem näheren Umkreis (V. 17 und 18) der Schluss einer kleinen Reihe von sozialethischen Geboten, die wir sämtlich auch als Ratschläge in der biblischen Weisheit wiederfinden: Hege keinen geheimen Hass gegen den Nächsten (17a)! Vielmehr – heraus mit der Sprache (17b, Spr 28,23), auf, dass es nicht zu Gewalt komme (17c)! Sinne ferner nicht auf Rache und Vergeltung (18a), sondern: «Liebe deinen Nächsten, er ist wie du – Ich bin der HERR»! In diesem Kontext gehört das Gebot der Nächstenliebe zu einem Programm der Gewaltprävention. Entscheidend ist dabei zweierlei: Erstens, die Erkenntnis, dass der Andere ein zweites Ich, ein Alter Ego ist, es geht ihm genau wie mir. Dass die berühmte und vielfach missverstandene Formel als Einladung zu verstehen ist, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, erhellt aus dem Gebot der Fremdenliebe, die der im Zentrum stehenden Nächstenliebe an der Peripherie des Rings gegenüberliegt (V. 33). Sie wird mit der Erinnerung begründet, «denn Fremdlinge ward ihr im Lande Ägypten», das heisst, der Fremde steht heute genau an der Stelle, wo du gestern gestanden hast, und du weisst, was es heisst, ein Fremder zu sein.

Daraus geht hervor, dass unsere Übersetzung des Verses 18 kein Modernismus ist, jedenfalls hat man sie so bereits zur Zeitenwende verstanden (Sir 28,4; ARN B 26). Das war dem Chassid Jesus noch nicht genug, er über­trumpfte – übrigens nach Matthäus mit einem fatal falschen Levitikus-Zitat – die Nächsten- und Fremdenliebe (V. 33) mit der Feindesliebe (Mt 5,43–48). Unserer Meinung nach ist aber die Feindesliebe in der Nächstenliebe bereits enthalten, denn es geht ja gerade darum, im vermeintlichen Feind den Nächsten wiederzuerkennen. Zweitens darf der Gottesbezug in Vers 18 nicht vergessen werden. Erst diese Exzentrik auf das grosse Ego (Ani) hin sprengt die Festung der kleinen Egozentrik und öffnet sie für Allozentrik. Gewaltverzicht ist der Schlüssel für die ganze Gebotsreihe!

Gott liest mir die Leviten
Heiligkeit (Qeduscha) bezieht Gott, den Heiligen (Qadosch), die Gebotsadressaten, die Heiligseinsollenden (Qedoschim) und das zu Heiligende und Geheiligte (Mequdasch) aufeinander. Heilig werden heisst nicht Gott unmittelbar gleich werden. Heilig wird man, indem man das, was der Heilige (HaQadosch) heiligspricht (Mequdasch) heilighält, d. h. in seiner Unantastbarkeit achtet und vor Übergriffen verschont. Was für den Umgang mit Menschen gilt, soll auch für den Umgang mit anderen höheren und niederen Wesen gelten. Das erklärt vielleicht, warum unmittelbar nach dem Liebesgebot gleich die Mischungstabus in Bezug auf Tiere und Pflanzen auf der Tagesordnung stehen (V. 19), denn auch die niederen Wesen verlangen Achtung ihres Eigenseins, Eigensinns und Eigenwertes.

Allgemeiner verbietet das Heiligkeitsgesetz, dass wir die Ansprüche von Personen, Zeiten, Lebewesen, Dingen usw. missachten und ihre Würde verletzen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie ihre Rechte uns gegenüber nicht selber behaupten können oder wenn eine Verletzung ihrer Rechte nicht geahndet werden kann, sodass sie ihre Sache ganz auf Gott stellen müssen. Deshalb erinnert der Gesetzgeber ständig an seine Autorität: Ich bin JHWH. Heiligkeit heisst auch hier wie gewöhnlich Absonderung, aber nicht meine Absonderung von Personen und Dingen, sondern die Absonderung der Personen und Dinge von mir, dem sie sonst wehr- und schutzlos ausgeliefert wären – der Reihe nach: die Eltern (V. 3) und die Alten (33), die Feiertage (3; 30), Gott selber und seine Opfer (V. 4–8; 30), die Armen (9f.), die Betrogenen (V. 11f.), die Tagelöhner (13), die Krüppel (14), die Benachteiligten (15) die Verleumdeten (16), die Verhassten (17), die Tiere (V. 19), die Pflanzen und Früchte (23) und nicht zuletzt – der eigene Körper (V. 28). Das erklärt, weshalb die Gesetzesreihe so uneinheitlich wirkt. Die Gegenstände sind zwar verschieden, die Rücksicht aber ist immer die gleiche – ihr Ausgeliefertsein, ihre Schutzbedürftigkeit, ihre Unantastbarkeit. Diesen Heiligkeitsbegriff können wir in einem Dreieck schematisieren, an dessen Ecken Personalpronomina stehen: ER liest in der ersten Person mir in der zweiten Person die heiligen Rechte der dritten Personen und Dinge vor; er liest mir die Leviten!

Daniel Krochmalnik

 

1 Krochmalnik, Daniel, Kadosch. Das Heilige im Buch Levitikus und in der jüdischen Tradition, in: Bibel und Kirche.   Die Zeitschrift zur Bibel in Forschung und Praxis 69 (2/2014): Vom Rand in die Mitte. Das Buch Levitikus, 80–85.

 


Daniel Krochmalnik

Prof. Dr. Daniel Krochmalnik (Jg. 1956) studierte Philosophie und Judaistik an der Ludwig-Maximilians-Universität und an der Hochschule für Philosophie in München. Er lehrte jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg und war ausserdem Privatdozent für jüdische Philosophie an der Universität Heidelberg. Seit 2018 ist er Professor für jüdische Religion und Philosophie an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam.