Erfahrungen von Selbsttranszendenz

«Es gibt Erfahrungen, in denen ich von etwas berührt werde, das mich übersteigt, und die mich transformieren.» Für den deutschen Soziologen Hans Joas sind solche menschlichen Erfahrungen der Ausgangspunkt für die Rede über Religion und Glauben.

Der deutsche Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas sprach an den diesjährigen Studientagen vom 13. bis 15. Juni in Freiburg i. Ü. Joas ist derzeit Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin sowie Professor für Soziologie an der Universität Chicago. (Bild: zvg)

 

«Die Macht des Heiligen. Über das Heilige, Heiligkeit und Heiligung in einem säkularen Zeitalter» war das Thema der diesjährigen Studientage des Zentrums Glaube & Gesellschaft der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. Inwieweit hat Heiliges Macht? Was ist uns heilig? Wie verbinden sich Macht und Heiliges? Über Grundformen, wie sich Macht und Sakrales bzw. Heiliges miteinander verknüpfen, sprach Hans Joas in seinem zweiten Referat.1 Wir geben seinen frei gehaltenen Vortrag «Selbsttranszendenz und Sakralisierung. Grundlagen einer alternativen Geschichtserzählung» ab Audioaufnahme in leicht gekürzter Form wieder.

Gestern war von Kritik an der Säkularisierungsthese und vom Zweifel an der grossen weltgeschichtlichen Erzählung eines seit Jahrtausenden fortschreitenden Prozesses der Entzauberung die Rede. Heute werde ich Ihnen in sechs Schritten Bausteine einer alternativen Rede über Religion, Glauben, auch den christlichen Glauben, vorlegen. Zuerst eine Vorbemerkung. Ich verweise auf ein Spannungsverhältnis zwischen meiner Verwendung des Begriffs des Heiligen, der aus einer bestimmten Entwicklung der Wissenschaften von der Religion seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist, und einer innertheologischen Verwendung dieses Begriffes. Mir geht es um einen elementaren Aufbau der Rede über Religion und Glauben. Der elementare Aufbau ist eine Antwort auf die Frage: Wie redet man über den Glauben in einer Welt, in der dieser nicht mehr als Wissen verfügbar ist und existiert oder in der jeder leiseste Anklang an eine christlich tradierte Sprache auf Widerwillen stösst? Ich habe über viele Jahre in Berlin Soziologie gelehrt und dabei die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich christlich aufgefüllte Begriffe verwendete, ein beträchtlicher Teil der Studenten nicht mehr zuhörte. Wenn ich über totemistische Rituale der australischen Urbevölkerung lehrte, dann herrschte im Raum gebannte Stille. Daraus kann man lernen, dass es einen Weg zur Religion und zum Glauben über einen elementaren Neuaufbau braucht. Die Kunst besteht darin, die neue, völlig fremde Sprache so zu nutzen, dass man auf die tradierte Sprache umschalten kann. Ich werde nun in sechs Schritten den Aufbau einer alternativen Rede über Religion vorstellen.

Erster Schritt: Erfahrung

Was ist das Besondere, wenn wir bei der Erfahrung einsetzen? Der pragmatistische Denker William James (1842–1910), der für meine Arbeit ganz wichtig ist, hat eine methodische Revolution im Studium der Religionen herbeigeführt. Er legt dies in seinem Buch «The Varieties of Religious Experience» (1902) vor. Bis anhin hätten die Forscher meistens versucht, sich einen Zugang zu Religionen, die sie nicht schon aufgrund eigener Erziehung kannten, über Lehrgebäude und Institutionen zu schaffen. Das sei als Ausgangspunkt unfruchtbar. James’ Zugang zu Religionen über die Erfahrung besagt nicht, dass Theologie und Institutionen unwichtig sind. Es soll vielmehr heissen, dass man die innere Logik theologischer Gebäude erst versteht, wenn man sich einen Zugang über die darin sich auslegende religiöse Erfahrung verschafft. Man versteht die Institutionen auch erst, wenn man den Geist versteht, der sie hervorgebracht hat, durchlebt und durchweht. Wenn man den Geist abstrahiert, dann erscheinen auch die Institutionen als unverständlich und merkwürdig. James legt grossen Wert darauf, dass schlicht menschliche Erfahrungen der Ausgangspunkt sind. Es geht ihm um die allen Menschen gemeinsamen und zugänglichen Erfahrungen. Dennoch ist nicht jede beliebige Erfahrung von Interesse für das Verständnis von Religion, sondern nur bestimmte Typen menschlicher Erfahrung. Der deutsche Soziologe Max Weber unterscheidet zwischen alltäglichen und ausseralltäglichen Erfahrungen. Wir machen täglich unzählige alltägliche Erfahrungen. Es gibt aber auch Erfahrungen, die herausragen aus dem ständigen Fluss des Registrierens täglicher Eindrücke und des Umgangs damit. Manchmal passiert etwas mit mir, das mich zutiefst ergreift. Ich bin von etwas ergriffen. Das passivische Moment ist stark betont. Um diese Erfahrungen geht es und um deren genaueres Verständnis, um deren reiche Phänomenologie und um ihre begriffliche Erfassung.

Zweiter Schritt: Selbsttranszendenz

Der zweite Schritt ist mir besonders wichtig. Ich habe an einem gewissen Punkt einen Begriff aufgebracht, um diese Erfahrungen positiv zu kennzeichnen. Der Begriff lautet Selbsttranszendenz. Ich habe den Begriff im Buch «Die Entstehung der Werte» eingeführt.2 Der Begriff hat ein Problem. Die Gefahr ist ein Missverständnis. Im Begriff kommt das Wort «Transzendenz» vor. Theologen und auch Philosophen beispielsweise denken bei Transzendenz an etwas Metaphysisches, das sich vom Irdischen fundamental unterscheidet. Das interessiert mich auch, hat aber mit dem Begriff Selbsttranszendenz nichts zu tun. Dieser ist ein pur deskriptiver, psychologischer Begriff. Menschen haben von einem bestimmten Punkt der kindlichen Entwicklung an ein Selbst. Wir haben gewissermassen ein abgegrenztes Selbst, aber dann machen wir unbeabsichtigt, zumindest nicht intentional herstellbar, Erfahrungen, die die symbolisch gezogenen Grenzen um unser Selbst aufsprengen. Diese Erfahrungen – die Erfahrungen der Selbsttranszendenz sind – können fundamentale Transformationen des Selbst auslösen. Ein besonders geläufiges Beispiel hierfür ist das Sich-Verlieben. Wer sich verliebt – in einem ernsthaften Sinne –, bei dem bleibt das Selbst nicht unverändert. Man gerät in einem bestimmten Sinn aus dem Zentrum der eigenen Lebensführung heraus und ist vielleicht mehr bei dem anderen als bei sich selbst. Weitere Beispiele sind «Erschüttern des Mitgefühls» und «Fusion mit der Natur». Nach meiner Erfahrung wissen alle Menschen, wovon ich spreche, wenn ich «Fusion mit der Natur» sage. Ich kann beim Wandern in den Bergen, beim Schwimmen im Meer einen Punkt erreichen, wo ich das Gefühl habe, in die Welt «ozeanisch» eingebettet zu sein. Ein weiteres Beispiel für Erfahrungen der Selbsttranszendenz ist das Gespräch, in dem personale Nähe entsteht. Auch Gewalterfahrungen können Erfahrungen der Selbsttranszendenz sein, sowohl von Opfern als auch von Tätern. Ich habe auch zur Soziologie des Krieges geschrieben.3 Es ging dabei z. B. um amerikanische Vietnamkriegssoldaten, die wissen, dass das, was sie da getan hatten, ihre ganze Persönlichkeit auf Dauer verändert hat.

Dritter Schritt: Heiligkeit oder Sakralität

Es ist ein logischer Bestandteil der Erfahrungen von Selbsttranszendenz, dass sie Erfahrungen einer begegnenden Kraft sind. Ich kann mich nicht willentlich verlieben oder einem Gesprächspartner öffnen. Etwas geschieht mit mir. Mit mir ist etwas passiert. Eine Kraft hat mich ergriffen. Im passiven Ergriffenwerden steckt drin, dass mich etwas ergreift. Das ist auf der Ebene der Erfahrung, nicht auf jener der Deutung. Ich bringe Ihnen ein Beispiel: Ein Zuhörer kam nach einem Vortrag auf mich zu und erzählte, dass er seine Frau in einem Konzert kennengelernt habe. Er habe festgestellt, dass er die Konzerteintrittskarte nicht wegwerfen könne. Er fragte mich, ob ich so etwas meine. Ja, so etwas meine ich. Diese Konzertkarte hat sich für ihn mit einer Aura aufgefüllt, sie ist kein profaner Gegenstand mehr. Er weiss reflexiv, dass sie ein profaner Gegenstand ist. Präreflexiv ist es kein profaner Gegenstand. Das ist in meinem Versuch eines elementaren Aufbaus von Religionsverständnis die Ebene «Heiligkeit». Und deshalb vertrete ich auch die These, dass nicht Religion ein universal anthropologisches Phänomen ist. Sondern vielmehr ist das Phänomen des Ergriffenwerdens und der Auffüllung von Zeiten, Orten, Personen, Gegenständen, Vorstellungsgehalten in präreflexiver Weise mit so einer Kraft ein universal anthropologisches Phänomen. Dieses ist konstitutiv für das, was wir Religion nennen. Religionen sind Versuche, diese Phänomene gedanklich zu durchdringen, sie sinnvoll auszulegen, zu systematisieren, an andere weiterzugeben und rituell wieder herzustellen.

Vierter Schritt: Artikulation

Ich nehme wieder Bezug auf William James. Er nennt in einer ausführlichen Analyse mystischer Erfahrungen vier Eigenschaften, zwei davon brauche ich für mein Argument. Wir haben Erfahrungen der Selbsttranszendenz gemacht. Die eine Eigenschaft solcher Erfahrungen ist nun, dass diese ungeheuer schwer in begriffliche Sprache zu transponieren sind. Die andere Eigenschaft ist, dass wir es unbedingt nötig finden, sie zur Sprache zu bringen. Das ist paradox. Wir finden es unbedingt nötig, das auszudrücken, was wir erfahren haben. Und wir merken gleichzeitig, dass unsere Ausdrucksversuche unzulänglich sind gegenüber der Erfahrungsqualität. Menschen greifen in dieser Situation gerne zu Texten wie Gedichten, Liedtexten, spirituellen Texten usw. Sie haben das Gefühl, dass ihre Erfahrung im Text eines anderen besser ausgedrückt ist, als ihnen dies jetzt selbst gelingen könnte.

Fünfter Schritt: Ethisierung der Sakralität

Darf ich das, was ich spontan als sakral erlebe, tatsächlich verehren oder ist es eine Verführung – sagen wir es im christlichen Horizont – zum Diabolischen? Bei der Bildung von Überzeugungen und Idealen aus der Erfahrung spontaner Heiligkeit heraus, ist es wichtig, dass darüber reflektiert wird. Denn es ist nicht so, dass das, was spontan sakralisiert wird, auch von allen als heilig empfunden wird und wirklich der Verehrung würdig ist. Dies zeigt sich als Problem zunächst im Verhältnis zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen: Was den einen heilig ist, kann den anderen als ganz schlimm und als abzulehnend erscheinen. Denken Sie an die Christianisierung, wo es Missionare gab, die die als heilig verehrte Eiche umhackten. Für sie war sie Ausdruck des Aberglaubens. Oder die kluge Strategie, wo Missionare auf dem als heilig verehrten Berg eine Kirche bauten und sie zum Ziel von Pilgerschaft machten. Ein weitere, zu klärende Frage ist jene der Konkurrenz verschiedener Formen der Selbsttranszendenz. Ich kann auf religiösem Wege zu einer Erfahrung der Selbsttranszendenz kommen oder auch zum Beispiel durch den Genuss von Alkohol oder durch sexuelle Erfahrung. Aus diesem Grund haben alle Religionen eine spezifische Aufgabe: nämlich, ihr Verhältnis zu diesen anderen Formen der Selbsttranszendenz zu definieren. Ich nehme das Beispiel Alkohol: Die Religion kann Alkohol ablehnen als eine implizit gefährliche Form oder Alkohol integrieren und seinen Genuss zu einem Teil eines religiösen Rituals machen.

Sechster Schritt: Die Macht des Heiligen

Wie ist das Wechselspiel von Macht, speziell politischer Macht und solchen spontanen Prozessen der Sakralisierung? Wie zieht politische Macht Sakralität heran, um sich zu rechtfertigen? Der sechste Schritt ist die Verknüpfung der Religionstheorie mit der Theorie der Macht in historischer Perspektive. Macht kann als solche nicht bestehen. Als pure Macht ist sie eine kurzfristige, instabile Angelegenheit. Deshalb muss sie – in Weberscher Terminologie – zur Herrschaft werden. Zur Herrschaft wird sie durch Legitimation. Es gibt Macht, die wird von denen, die sie nicht haben, als gerechtfertigt empfunden. In diese Rechtfertigung hält notwendig das Sakrale Einzug. Es kann etwas durch pure Tradition gerechtfertigt sein. In dem Fall muss die Tradition selbst eine Art sakrale Aura haben. Es zählt nicht nur «Das haben wir immer schon so gemacht», sondern vielmehr «Es ist gut, so wie wir es immer schon gemacht haben. Es ist böse, das auch nur in Frage zu stellen und davon abzuweichen». Ich habe am Schluss des Buches «Die Macht des Heiligen»4 die Verknüpfung von Sakralität und Macht thematisiert und mache dies ausführlich in einem Buch, an dem ich gerade schreibe. Ich nenne Ihnen kurz einige Grundformen der Verknüpfung von Sakralität und Macht. Eine erste Grundform ist die kollektive Selbstsakralisierung: Wir sind die, die den Zugang zum Heiligen haben. Wir sind selbst in bestimmter Weise heilig. Aus meiner Sicht gibt es menschheitsgeschichtlich diesen Typus immer. Bei der zweiten Grundform sind Inhaber von Macht als solche sakral. Als Stichwort nenne ich Ihnen das Sakralkönigtum. Im Protest gegen diese Machtinhaber kann es zur dritten Form kommen: der Sakralisierung grösserer Kollektive. Nicht mehr der Herrscher ist sakral, sondern wir als Nation sind gemeinsam sakral. Wenn Nationen mit Sakralitätsgehalten aufgefüllt werden, geschieht das auf Kosten anderer Nationen. Als vierte Grundform nenne ich Ihnen die Sakralität der Person – die universale Menschenwürde. Jeder Mensch als solcher hat Sakralität. Sie kommt auch Angehörigen anderer Nationen zu, sogar, wenn meine Nation mit diesen verfeindet ist. Hier will ich zum Schluss noch erwähnen: Die Gefahr der kollektiven Selbstsakralisierung besteht sogar dann, wenn diese hochanspruchsvolle universalistische Vorstellung universaler Menschenwürde existiert. So können sich Länder selbst im Zeichen dieses Universalismus sakralisieren. Zum Beispiel sieht sich Frankreich als Nation der Menschenrechte und brachte dies in die Rechtfertigung seiner Kolonialpolitik bis hin zum Algerienkrieg ein. Das heisst, auch universalistisch argumentierende Politiken sind nicht gefeit gegenüber der Selbstsakralisierung der eigenen Macht. Und in diesem Zusammenhang sage ich, die katholische Kirche hat ein Problem mit der Selbstsakralisierung als Institution. Wir können das Verhalten von Klerikern gegenüber Fällen sexuellen Missbrauchs nicht verstehen, wenn wir nicht sehen, dass in deren Bewusstsein eine Konkurrenz bestanden hat – in meiner Terminologie – zwischen der Sakralität der Person – jener der missbrauchten Kinder – und der Sakralität der Institution Kirche. Und man hat den Eindruck, diese Kleriker geben der Sakralität der Institution den Vorzug, d. h. dass sie mehr zu schützen sei als die verletzte Sakralität der missbrauchten Kinder. Das ist mir sehr wichtig, dass diese Gefahr der Selbstsakralisierung besteht, und deshalb die Schlussfrage: Welches sind die Dynamiken, die dieser immer drohenden Selbstsakralisierung wehren können? Welches Potenzial haben die verschiedenen Religionen, die verschiedenen säkularen Weltbilder, dieser Gefahr Widerstand zu leisten?

Transkription: Maria Hässig

 

1 Hans Joas hielt an den Studientagen die Referate: «Säkularisierung und Entzauberung: Forschungs­ergebnis oder Mythos der Moderne?» sowie «Ist Transzendenz organisierbar? Ideen zu einer Soziologie der Kirche».

2 Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997.

3 Zu diesem Thema: Joas, Hans, Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist, 2000.

4 Joas, Hans, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.