Wer von sich sagt, dass es sein Wunsch sei, «heilig zu werden», dem wird bestenfalls ein Höchstmass an Arroganz vorgeworfen oder aber ein psychologisches Gutachten verordnet. Nobody is perfect! Unsere Gesellschaft findet mittlerweile auch in jeder Biografie mindestens etwas Rassismus oder Sexismus, sodass man die Leistung jeglicher Pioniere, Schaffer und Vorbilder gehörig abwerten kann. «So viel besser waren die auch nicht.» Und wenn alle ihre Fehler haben, dann muss sich ja auch niemand mehr bemühen. Authentizität ist das Gebot der Stunde. Was in der Antike mit dem tiefgründigen Begriff areté (Tugend, Vortrefflichkeit, Vorzüglichkeit) gelobt wurde, wird heute als marode Schwärmerei belächelt. Alles ist schön! Selbst offensichtlich ungesunde Plus-Size-Models müssen auf Twitter für schön befunden werden. Wer anderes zu behaupten wagt, wird mit einem Maulkorb versehen. Allgemeine Massstäbe sind untragbar geworden – denn wer könnte sich anmassen, diese zu bestimmen? Heiligkeit in einer Welt ohne Wahrheit ist pure Anmassung. Natürlich hat die Kirche auch Menschen heiliggesprochen, deren Existenz zweifelhaft ist, deren Leben nachweislich sehr fragwürdig war oder die den «Märtyrertod» starben, weil sie bloss zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Aber genau darum ist auch der Heiligenkatalog nicht heilsnotwendig. Vielmehr hält die Kirche daran fest, dass unser Leben nicht bloss eine individuelle Zirkusnummer ohne Zuschauer ist, in der einfach jeder ein bisschen herumhüpfen kann, wie es ihm gefällt. Dies erachte ich als hohes Gut und eine je länger desto notwendigere Provokation für unsere Tage. Angesichts unseres Toleranzwahns, der in jeder Exzellenz gleich ein Diskriminierungspotenzial vermutet, ist das aristotelische Lob der Tugend eine Wohltat. Und als Christen dürfen wir sogar noch auf die beruhigende Tatsache vertrauen, dass wir die Vortrefflichkeit nicht mühsam allein erkämpfen müssen. Der Heilige ist es, der uns heiligt. Auch wenn einem der Heiligenschein nicht ganz von selbst auf den Kopf fällt.
Johannes Tschudi