Gottes vollkommene Berührbarkeit

Die Frage nach dem Leiden Gottes führt mitten in die Gotteslehre. Wie können die Vollkommenheit und Allmacht Gottes angesichts des Leidens der Schöpfung verstanden werden?

«Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum warst du nicht zugegen / Warum bist du nicht hinzugeeilt, um meine Wunden zu heilen?»1 Dieses Zitat aus der Antoniusvita präsentiert der Isenheimer Altar rechts unten auf der Darstellung des Einsiedlers Antonius. Matthias Grünewald, der den Altar zu Beginn des 16. Jahrhunderts für das Spital des Antoniterordens schuf, trug in die Gemälde nicht nur die Krankheitssymptome der an Mutterkornvergiftung leidenden Menschen ein, sondern auch ihre Frage nach Gott. Bei der Ausschau nach dem guten Jesus konnten die Kranken ihn als Leidensgenossen wahrnehmen: Die Kreuzigungstafel zeigt Jesus mit Wunden am Körper und Zeichen von Atemnot und Erstickungstod.

Zwischen Erhabenheit und Barmherzigkeit

Die Frage, wo Gott im Leid ist, ist eine Variante der Theodizeefrage. Spekulative Versuche, Gott angesichts des Übels in der Welt zu rechtfertigen, haben jeweils eine gewisse Plausibilität, stossen aber angesichts konkreter Leidsituationen und angesichts des Übermasses von Leid an Grenzen. Wenn unbeantwortbar bleibt, warum Gott das Leiden zulässt, erhebt sich der klagende Ruf «Wo bist du, Gott?». Hier setzen kreuzestheologische Theodizeeansätze ein. Sie lenken den Blick darauf, dass Gott selbst an der Seite leidender Menschen zu finden ist. Über Jahrhunderte hinweg stiftete das Anschauen des Gekreuzigten Menschen Trost.

Dem Nachdenken sind damit allerdings weitere Fragen aufgeworfen. Schon die Alte Kirche arbeitete sich an der Zuordnung des Leidens Jesu zu seiner menschlichen und göttlichen Wirklichkeit ab. Ist es legitim zu sagen: «Einer aus der Dreifaltigkeit hat im Fleische gelitten»? Letztere Formel, die sich das Konzil von Konstantinopel 553 zu eigen machte, gebietet sachlich eine weitergehende Reflexion über die Christologie hinaus, soll nicht in Gott ein Zwiespalt zwischen dem vom Leiden unberührten Vater und seinem leidenden Sohn eingetragen werden. So ringt die Theologie um die Spannung von göttlicher Erhabenheit über Leiden und Leidenschaft (gemäss dem sog. Apathie-Axiom) und seiner souverän-freiwilligen Bereitschaft zum Erbarmen und Leiden.

Obwohl sich die Frage nach dem Leiden Gottes somit aus dem spezifischen Kern christlichen Glaubens aufdrängt, wurde sie erst im 20. Jahrhundert mit grösserem Gewicht zum Thema der Gotteslehre selbst. Dafür stehen Ansätze wie die von Jürgen Moltmann (*1926) oder Hans Urs von Balthasar (1905–1988), exegetische und theologiegeschichtliche Studien zu biblischen, rabbinischen, patristischen und mittelalterlichen Zeugnissen von Gottes Affizierbarkeit, Leidenschaft und Leiden sowie in jüngerer Zeit Strömungen wie die Prozesstheologie sowie der Open Theism*. Dabei verschiebt sich gerade in jüngerer Zeit die Reflexion von der inkarnationstheologischen Konstellation in die schöpfungstheologische Perspektive hinein: Zu klären ist, ob die Verhältnisbestimmung von Gott und Welt reziprok zu denken ist. Die traditionelle Bezeichnung Gottes als actus purus besagt, dass es in Gott nur Wirklichkeit, keine unverwirklichten Möglichkeiten gibt. Damit zugleich hält sie alle Vorstellung von Passivität – die Grundform des Erleidens – fern. Dann aber würde Gott von der Schöpfung nicht berührt und wäre nicht berührbar, geschweige denn verletzbar und leidensfähig.

In welcher Hinsicht ist Gott volllkommen?

Zur Debatte steht bei solchen Themen das Verständnis göttlicher Vollkommenheit. Bevor sich aber der abstrakte Begriff der Vollkommenheit für weitergehende Spekulationen eignet, ist er zu füllen und auf kulturell bedingte Voreinstellungen zu überprüfen. Die Frage ist nicht, ob Gott vollkommen ist, sondern in welchen Hinsichten die Vollkommenheit qualitativ zu suchen ist. Ist Gott in vollkommener Weise unberührbar oder in vollkommener Weise berührbar? Manche der klassischen theologischen Vollkommenheits-Attribute stehen unter dem Vorzeichen traditioneller Männlichkeitsideale von Aktivität und Unberührbarkeit in klischeehafter Gegenüberstellung zu als weiblich (v)erachteter Affektivität und Passivität.

Fraglos ist es unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit Gottes ein berechtigtes Anliegen, den Kontrollverlust der Leidenschaft ebenso wie ein Leiden aus Mangel vom Gottesbild fernzuhalten. Doch ist Affizierbarkeit schwerlich ein ontologisches Defizit. Zu entdecken ist, dass Vulnerabilität eine Fähigkeit (habilitas; vgl. vulnerability/ability) voraussetzt. Ebenso gründen positive Hochformen von passivem Berührtwerden auf einer aktiven Bereitschaft, sich berühren zu lassen. Bedeutsam sind darum Neuumschreibungen göttlicher Vollkommenheit, z. B. die Umkehrung der Formel vom «unbewegten Beweger» zur Bestimmung Gottes als «der am meisten bewegte Beweger» durch Abraham Heschel (1907–1972) und als «best and most moved mover» bei Charles Hartshorne (1897–2000). In jüdisch-christlicher Theologie geht es letztlich darum, den Glauben an einen Gott des Erbarmens, der sich aus freiem Willen und aus Liebe («patitur aliquid caritatis» [Origenes]) vom Leiden betreffen lässt, in der Gotteslehre konsequent ernst zu nehmen. Schliesslich verankern diverse Begriffe für Erbarmen (rchm, misericordia, Barmherzigkeit) die göttliche Anteilnahme an den Geschöpfen durch die Metapher der Gebärmutter bzw. des Herzens in Gottes Innerstem.

Allmacht als werbende Allwirksamkeit

Die Auffassung, Gott habe teil am Leiden der  Schöpfung, ist dem Widerspruch ausgesetzt, dass damit das Leiden der Geschöpfe verdoppelt und verewigt würde. Ein Kritiker wie Johann Baptist Metz (1928–2019) vermag darin keineswegs eine Antwort auf die Theodizeefrage zu erkennen. Gott in Verbundenheit mit der Weltgeschichte inklusive ihrer Leidensgeschichte zu sehen, töne nach Hegelscher Aufhebung des konkreten Leidens ebenso wie nach unangemessenen Vorstellungen von der Entwicklungs- und Erlösungsbedürftigkeit Gottes. Zudem wird die Frage virulent, ob ein leidender Gott helfen kann.2

Bei der Erörterung, wie sich das Mitleiden Gottes zur göttlichen Allmacht verhält, reiben sich wiederum unterschiedliche Vollkommenheitsideale aneinander. Zugleich schliesst sich der Kreis zur anfänglich thematisierten Theodizeeproblematik. Einer der theoretischen Antwortversuche läuft auf den Respekt des Schöpfers vor der Freiheit der Geschöpfe hinaus. Im Rahmen absoluter Allmachtsvorstellungen gilt dies als freiwillige und vorübergehende Selbstbeschränkung Gottes. Bestimmend bleibt das Ideal einer Macht, die sich prinzipiell unmittelbar durchsetzen kann. Prozesstheologische Entwürfe stellen dieses Ideal in Frage. Sie halten jene Macht für vollkommener, die grundsätzlich in weisheitlicher Interaktion mit anderer Freiheit und Seinsmacht auftritt und in einem offenen Prozess ihr Ziel zu erreichen sucht. Gott ist mit der Schöpfung so verbunden und in sie involviert, dass die göttliche Macht durch die Seinsmacht der Geschöpfe effektiv begrenzt ist, ohne deswegen aufgehoben zu sein: «Wir beten weder eine unverletzbare Macht an noch eine machtlose Verletzlichkeit» (Catherine Keller, *1953)3. Gottes Macht ist eine grösstmögliche und der Welt «adäquate» Macht, die lockend und werbend positive Entwicklungen hervorzurufen sucht. Sie kann aber den Weltlauf nicht gewaltsam unterbrechen und umkehren. Die Schöpfung geht also für Gott mit echtem Risiko und eigenem Betroffensein von den leidvollen Umwegen der Geschöpfe einher. Analog zu traditionellen Unterscheidungen zwischen der postulierten Allwirksamkeit und der abgelehnten Alleinwirksamkeit Gottes könnte die Allmacht Gottes von einer Alleinmacht unterschieden werden, um zu erklären, warum die göttliche Allmacht sich nicht direkt und zwangsförmig durchsetzen kann. Dies verunmöglicht nicht die Zuversicht, dass Gott auch im Blick auf die freigesetzte Schöpfung alles zu einem guten Ende führen kann.

Beim Isenheimer Altar bleibt offen, ob der Künstler die anfangs zitierte Frage «Wo warst du, guter Jesus?» durch die Darstellung Jesu am Kreuz und als Auferstandener beantworten möchte oder ob ihm diese Frage auch beim Vollbringen seines Kunstwerkes offenblieb. In der Tiefe der Theodizeefrage lauert das Leiden an Gott selbst, an Gottes Tatenlosigkeit. Jesu Schrei «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», interpretiert als «Gottverlassenheit Gottes», bringt eine letzte Zuspitzung des Leidens Gottes zum Vorschein: die Teilnahme Gottes am Leiden an Gott.

Eva-Maria Faber

 

* Open Theism: Open Theism (Offener Theismus) ist eine theologische Richtung, die ursprünglich im evangelikalen Kontext beheimatet ist. Sie tritt auf biblischer Grundlage für eine «offene Sicht» Gottes im Sinne einer offenen Geschichte Gottes mit den Menschen ein. Damit begegnet sie insbesondere Modellen des Gott-Welt-Verhältnisses calvinistischer Tradition.

1 «Ubi eras bone Jhesu ubi eras Quare non affuisti ut sanares vulnera mea.»

2 «Nur der leidende Gott kann helfen»: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt.  München 1998 (Dietrich Bonhoeffer Werke 8), 534.

3 Keller, Caterhine, Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie. Freiburg i. Br. 2014, 134.

 


Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber (Jg. 1964) ist seit 2000 Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie sowie seit 2015 Prorektorin an der Theologischen Hochschule Chur.

 

BONUS

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