Das Kreuz als einzige Hoffnung

Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki (1933–2020) wollte mit seiner Passionsvertonung den Gräueln des Zweiten Weltkrieges entgegentreten und zur Versöhnung mit Deutschland beitragen.

Die Skizze zur Lukaspassion (links) und der Auszug aus dem Stabat mater der Lukaspassion.

 

Als am Mittwochabend in der Karwoche des Jahres 1966 im Dom zu Münster (Westfalen) die Uraufführung von Krzysztof Pendereckis Lukaspassion («passio et mors Domini nostri Jesu Christi secundam Lucam») nach 27 dramatischen Szenen voller Dissonanzen, Clustern1 und Aleatorik2 in strahlendem E-Dur endete, waren sich Zuhörerschaft und Mitwirkende bewusst, einem singulären musikalischen und spirituellen Ereignis beigewohnt zu haben. Der bedeutende Musikwissenschaftler und Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt (1901–1981) brachte es mit seiner Aussage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.4.1966 auf den Punkt, wenn er da Pendereckis Passionsmusik als «wichtigste Brücke zwischen liturgischem Geist und neuer Musik» bezeichnete.

Wie hatte dies der polnische Komponist (der am 29. März vor einem Jahr im Alter von 87 Jahren verstorben ist) zustande gebracht? Er hatte die Leidensgeschichte auf der Basis des Lukasevangeliums, ergänzt durch Passagen aus dem Johannesevangelium, den Sieben Worten, alttestamentlichen Psalmen und vier weiteren liturgischen Texten, darunter die Sequenz «Stabat mater», zu einem sowohl rational wie emotional packenden Kunstwerk von archaischer Dimension geformt; in lateinischer Sprache übrigens, vergleichbar Johann Sebastian Bachs grossen Passionsvertonungen oder Matthias Grünewalds Isenheimer Altar. Und dies in einer Zeit, wo sowohl die «grosse Kirchenmusik» kein Thema mehr war – die vatikanische Liturgiereform setzte andere Prioritäten – als auch zeitgenössisch-avantgardistische Musik kaum mehr öffentliches Interesse beanspruchen konnte.

Die Komposition der Lukaspassion

Betrachtet man Pendereckis Passionsmusik unter rein kompositorischem bzw. künstlerischem Aspekt, stellt man fest, dass dieses Werk in seinen musikalischen Dimensionen relativ einfach zu erklären ist: Pendereckis Melodik liegt im Spannungsbereich zwischen dodekaphonisch3  konzipierter Chromatik, welche auch den Einbezug des b-a-c-h-Motivs ermöglicht, und quasi gregorianischer Linearität (keine direkte Zitierung); die Harmonik gründet entweder auf polyphonen Zusammenklängen oder auf Cluster-Bildungen, der vokale Klang (drei gemischte Chöre und Knabenchor) ist geprägt von allen Varianten und Schattierungen, zu der die menschliche Stimme fähig ist (Singen, Sprechen, Flüstern, Pfeifen, Schreien); das Instrumentarium ist ausserordentlich reichhaltig, v. a. auch im Bereich des Schlagwerkes, dazu Harfe, Klavier, Harmonium und Orgel, und weitet die Spieltechnik aus bis hin zum Geräusch. Als Evangelist verlangt der Komponist einen Sprecher, die Christus-Worte sind einem Bariton übertragen, die ariosen Partien und die Soliloquentes (Petrus, Pilatus, Magd, Schächer) fallen einer Sopranistin und einem Bass zu.

Dass mit diesen Voraussetzungen und mit einem klar strukturierten Szenenaufbau eine eindrückliche Gestaltung der Leidensgeschichte Christi möglich wurde, ist nachvollziehbar, und dass in Anbetracht einer solch totalen, doch bekannten Tragödie, wie sie die Passion darstellt, die Zuhörenden bereit sind, auch Dissonanzen, Atonalität und Geräusche zu akzeptieren, ebenso. Doch letztlich genügt diese Analyse nicht, das künstlerische und spirituelle Faszinosum von Pendereckis Lukaspassion zu erklären. Vielleicht hilft da der Blick auf die Persönlichkeit des Komponisten, auf die Genesis dieses Werkes und ganz besonders auch auf Inhalt und Position der nicht-biblischen Texte in dieser Passionsvertonung.

Es steht ausser Frage, dass der Komponist Penderecki von seiner polnischen Herkunft her und bis ans Ende seiner Tage ein religiöser Mensch war. Nach seinen eigenen Äusserungen (der Verfasser kannte den Komponisten persönlich) wollte Penderecki mit seiner Musik nicht nur an die Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnern (Threnos, Dies irae), mit der Lukaspassion einen Beitrag zur Versöhnung zwischen Polen und Deutschland erbringen und mit späteren Kompositionen (Utrenja, Polnisches Requiem) auf die polnische Unterdrückung durch die kommunistische Diktatur aufmerksam machen. Es war ihm ebenso ein Anliegen, christlichen Werten beredten künstlerischen Ausdruck zu geben. Ein aufschlussreiches Beispiel diesbezüglich ist sein Credo von 1997, in welchem den dogmatischen Aussagen polnische Kirchenlieder gegenüberstehen und so die Lehren der katholischen Kirche mit der Gegenwart verbinden.

Das «Stabat mater»

Dementsprechend ist auch Pendereckis Lukaspassion nicht bloss eine philosophisch-geistesgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem biblischen Geschehen, sondern vielmehr eine persönliche Stellungnahme. Das verdeutlichen wie erwähnt die nicht-biblischen Einschübe und die Tatsache, dass der Ausgangspunkt für die Komposition dieser Passion ein «Stabat mater» von 1962 war, eine dreichörige Motette über den Text dieser populären Sequenz aus dem Mittelalter. In der Lukaspassion erscheint das «Stabat mater» im Anschluss an die Zwiesprache Jesu mit seiner Mutter unter dem Kreuz («siehe da deine Mutter»). Es beginnt mit einer gregorianisch-affinen Intonation, dem ein erster langgezogener Cluster folgt. Auf den Text «Quis non fleret» (Wer weint da nicht) wird die Musik subjektiv-emotional und mündet in ein angstvoll geflüstertes «in tanto supplicio» (in dieser Verzweiflung). Die nächste Strophe «Eja mater» beginnt wieder quasi gregorianisch und steigert sich bis hin zu einem zwölftönigen Cluster auf das Wort Christe, kontrapunktiert von einer gesprochenen Litanei «da per Matrem me venire ad palmam victoriae» (lass mich mit Hilfe der Mutter den Sieg erringen). Zum Schlusse setzen sich die Altistinnen mit einem insistierendes Ton d durch und führen zum erlösenden Gloria in strahlendem D-Dur – eine Vorwegnahme des eingangs erwähnten Abschlusses der gesamten Passion in E-Dur. Wie persönlich der Komponist diese Textaussage gestaltet, ist unüberhörbar. Ohne Zweifel artikuliert sich da die polnische Marienfrömmigkeit, die Penderecki zehn Jahre später mit einer Magnificat-Vertonung für den Salzburger Dom bestätigt.

Nicht-biblische Einschübe

Auch die drei weiteren nicht-biblischen Einschübe in die Lukaspassion geben Aufschluss über Pendereckis religiöse Motivation. So beginnt die Passion mit der 6. Strophe des Hymnus «Vexilla regis prodeunt», welche das Kreuz als «spes unica» (einzige Hoffnung) begrüsst. Penderecki personalisiert auf diese Weise jene Tradition, die früher am Passionssonntag und am Karfreitag zur Kreuzverehrung üblich war, und thematisiert damit schon in der eröffnenden Ölbergszene das Ziel von Christi Leiden.

Der zweite nicht-biblische Einschub erfolgt erst im zweiten Teil der Passion, quasi als Einleitung zum eigentlichen Kreuzweg. Es sind die Improperien (Anklagen), Herzstück der katholischen Karfreitagsliturgie. Penderecki baut sie hier zu einem zentralen Teil der Passion aus, und zwar in Form einer grossangelegten Passacaglia4 und unter Verwendung aller zur Verfügung stehenden Kompositionsmittel. Auch das Motiv b-a-c-h erscheint an dieser Stelle wieder und nimmt hier zweifelsohne auch auf die Emotionalität und die Theologie (!) der Bach-Passionen Bezug, wo sich die Gemeinde mit ihren Chorälen in das Geschehen einbringt. Was beim Anhören dieses Satzes besonders auffällt, ist der Umstand, dass die Anrufungen «Hagios o Theos –  Sanctus Deus – miserere nobis» nur mehr gesprochen, geflüstert werden: Dem Menschen versagt angesichts dieses durch ihn verschuldeten Leidens die Stimme.

Gleich anschliessend an diese Improperien singt die Sopranistin während der Kreuzigungsszene (bei Lukas nur ein kurzer Satz) die Antiphon «Crux fidelis» (wörtlich: getreues Kreuz), sozusagen die theologische Quintessenz des umfassenden Passionshymnus «Pange lingua» und hier ein Rückbezug auf Pendereckis Themensetzung «spes unica» zu Beginn der Passion. Dieses Vorgehen, aber auch der Einbezug weiterer Psalmverse aus Psalm 22, 15, 10, 43, 56 und 31 (in dieser Reihenfolge) im Verlauf der Passionsvertonung, weisen darauf hin, wie reflektiert und gleichzeitig subjektiv motiviert der Komponist mit dem Evangelienbericht umgeht. Am deutlichsten wohl am Schluss der Passion, der aus dem «in pulverem mortis» (aus dem Staub des Todes) zum gemeinsamen (Soli und Chor) «in te, Domine speravi» (ich hoffe auf dich, Herr) führt, hin zur unwiderstehlichen Schlussvision auf die Worte «Deus veritatis» (Gott der Wahrheit).

Pendereckis musikalische Theologie

Doch nicht nur in der Textgestaltung, sondern auch im Musikalischen lässt sich Pendereckis Religiosität erkennen. Als erstes fällt dabei auf, dass er den lateinischen Text vertont, und nicht wie seit Schütz und Bach üblich, eine deutsche Fassung. Das hat seinen Hintergrund: Die lateinische Sprache ermöglicht dem Komponisten sowohl eine gewisse emotionale Distanz zur Tragödie des Passionsgeschehens als auch zu den Gräueln des Krieges, denen Penderecki mit seiner Passion explizit entgegentreten wollte. Seine Passion stelle zwar «das Leiden und den Tod Christi dar, aber auch das Leiden und den Tod von Auschwitz, die tragische Erfahrung der Menschheit aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne soll sie nach meinen Absichten und Gefühlen universellen, humanistischen Charakter haben» (zitiert nach Robinson/Winold). Auch der auffällige Bezug auf das Motiv b-a-c-h steht meines Erachtens in diesem Zusammenhang: Einerseits ist Bach der wohl theologisch fundierteste Komponist überhaupt und seine Passionen grenzüberschreitende Kultur, anderseits kann Penderecki mit dieser Vernetzung seine persönliche religiöse und humanistische Emotionalität konkretisieren und verständlich machen, seine Religiosität ist damit in der Tradition verankert und erscheint so im weitesten Sinne überkonfessionell.

Dieses Vorgehen prägt auch Pendereckis musikalische Kompositionstechnik, welche traditionelle melodische, harmonische und formale Konventionen mit zeitgenössischen Mitteln (Geräusch, Cluster, Dodekaphonie) verbindet, neu definiert und in die Gegenwart transformiert.  Und dieser künstlerische Prozess schliesslich reflektiert – für die Hörenden mental nachvollziehbar und intuitiv erlebbar – Pendereckis Gottesbild, welches sowohl der Tradition verpflichtet ist, als auch für die Gegenwart Bestand hat. «Ma création tend au rétablissement de l’espace métaphysique», so der Komponist in Le labyrinthe du temps 1998.

Alois Koch

 

1 Cluster bezeichnet ein Klanggebilde, dessen Töne eng beieinanderliegen (sog. Tontraube).

2 In der Musik ist die Aleatorik eine den Zufall einbeziehende Kompositionstechnik. Die Zufälligkeiten können auf der Ebene der Komposition oder auf der Ebene der Interpretation angesiedelt sein.

3 In der Weise der Zwölftonmusik, eine Technik der atonalen Komposition.

4 Die Passacaglia ist eine Variationsform über einem Bass-Motiv (hier b-a-c-h), die ursprünglich aus dem Barock stammt.

CD-Empfehlung: Krzysztof Penderecki: St Luke Passion. Solisten, Chor und Orchester der Warschauer Philharmonie unter der Leitung von Antoni Wit. Label: Naxos, DDD, 2002.

Literaturhinweise
• Robinson, Ray / Winold, Allen, Die Lukaspassion von Krzysztof Pendereckis, Celle 1983;
• Penderecki, Krzysztof, Le Labyrinthe du temps, Montricher (Suisse) 1998;
• Stanislawski, Ryszard, Krzysztof Penderecki Itinerarium, Wydawnictwo / Krakow 1998.


Alois Koch

Dr. Alois Koch (Jg. 1945) ist emeritierter Rektor der Musikhochschule Luzern und ehemaliger Kirchenmusiker an der dortigen Jesuitenkirche und an der St.-Hedwigs-Kathedrale Berlin. Er wirkt heute als Dozent an der Seniorenuniversität Luzern, als Organist in Gersau und als musikalischer Experte im In- und Ausland. Ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist die Thematik «Musik und Theologie».