Der verletzliche Gott

Einige Texte in der Bibel geben Einblick in die Herzensregungen Gottes. Sie erzählen von Gottes Kummer, Zorn, Schmerz und Leiden. Wird hier allzu menschlich von Gott gesprochen?

Die biblische Gottheit ist ins Herz getroffen vom Zustand der Welt und dem Verhalten der Menschen vor der grossen Flut (Gen 6,5f). Sie klagt darüber, dass ihre Kinder, die Israelitinnen und Israeliten, sich abwenden (Jes 1,2 f; Jer 31,20), sie weint über das Schicksal Moabs (Jes 15,5; 16,9) und Jerusalems (Jer 9,9 f). Sie leidet mit Israel (vgl. Ex 2,23–25; 3,7; Jes 63,7–9.11) und müht sich von Anfang an um das Gottesvolk – «und ich werde tragen, ich werde schleppen und retten» (Jes 46,3 f). Gott gerät ausser sich vor Schmerz wie eine Bärin, der man die Jungen genommen hat (Hos 13,8), und schreit und stöhnt wie eine Gebärende, um neue Zukunft für die Erwählten in die Welt zu setzen (Jes 42,14).

Schon diese kleine Auswahl von Bibelstellen zeigt, dass die Bibel häufiger und mit grösserer Bandbreite von Gottes Kummer und Schmerz, von Einfühlung und Anstrengung spricht, als vielen Christinnen und Christen geläufig ist. Ich wähle aus der Fülle der Stellen nun zwei aus, Gen 6,5 f und Hos 11, an denen zugleich deutlich wird, dass die Rede vom Schmerz Gottes nicht als «nur» bildliche und somit primitive Theologie abgewertet werden darf.

«und es tat seinem Herzen weh» (Gen 6,6)

Die biblische Urgeschichte in Gen 1–9 kommt mit der Erzählung von der grossen Flut (Gen 6,5–8,22) und der anschliessenden Neuordnung der Verhältnisse im Bund Gottes mit Menschen und Tieren (Gen 9,1–17) zu ihrem Höhepunkt. Die Sintfluterzählung ist dabei keine Straferzählung, sondern eine Rettungsgeschichte und vor allen Dingen eine Geschichte über einen Klärungsprozess in Gott.

In der biblischen Urgeschichte geht es von Anfang an nicht um eine Darstellung göttlicher Allmacht (Schöpfung aus dem Nichts), sondern um die Frage, wo und wie Gott in einer von destruktiven Mächten bedrohten Welt wirkt. Dass es diese chaotischen Mächte gibt, ist die Voraussetzung der Erzählungen (Gen 1,2). Die Frage ist, wie Gott zu ihnen steht. In Gen 1,1–2,4 schafft Gott die Welt wie eine Luftblase in die Mächte von Finsternis, Urflut und Tohuwabohu hinein und teilweise aus ihnen heraus. Das prekäre Gleichgewicht dieser Schöpfung gerät jedoch im weiteren Verlauf der Urgeschichte aus den Fugen, im menschlichen Herzen nistet die Bosheit und zwischen den Lebewesen bricht Gewalt aus und droht alle zu verschlingen. An diesem Punkt setzt die Fluterzählung ein. Gen 6,5 f (EÜ):

«Der HERR sah, dass auf der Erde die Bosheit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den HERRN, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben und es tat seinem Herzen weh.»

Der Blick in das Innere Gottes in Gen 6,6 spricht von der Reue Gottes über die Entwicklung, die seine Schöpfung genommen hat, und vom Schmerz Gottes. Es trifft Gott zuinnerst: Das Herz ist biblisch die Mitte der Person, nicht nur Sitz von Gefühlen, sondern auch von Vernunft und Entscheidungen. In der Fluterzählung steht Gottes Beziehung zu Welt und Mensch insgesamt auf dem Spiel und es ist Gottes Umgang mit ihnen, der sich verändert – nicht etwa die Anlage der Menschen. Am Ende der Flut ist es Gottes zuverlässiges und treues Ja zu Welt und Mensch, das in aller Deutlichkeit vor Augen gestellt wird. Es gibt einen Gottesbund mit Menschen und Tieren, und Gott spricht von der dauerhaften Ordnung der Zeiten. Gott hält an der Welt und den Lebewesen fest – und macht sich so zugleich auch in Zukunft verletzlich.

Das ungute Gefühl, hier werde womöglich zu menschlich von Gott gesprochen, ist schon sehr alt. Schon die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Textes, hat hier lieber ein Nachdenken Gottes eingesetzt (Gen 6,6bLXX «und er dachte nach»).1  Im Horizont hellenistischer Philosophie und der aristotelischen Vorstellung vom unbewegten Beweger legt wenig später der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (ca. 20 v. bis 50 n. Chr.) Gen 6,6 f aus und kann der Rede von Veränderung und Betroffenheit Gottes nur pädagogischen Sinn zuerkennen. Es sind nur (Vor-)Stufen auf dem Weg zu echter theologischer Einsicht. Diese Einschätzung gibt es bis heute. Im Unterschied dazu will biblische Gottesrede ihre Adressatinnen und Adressaten in Beziehung zu einem Gott bringen, der selbst von Beziehungen bewegt und geprägt ist. Die Texte wollen in ihrer Vielstimmigkeit und Buntheit Leserinnen und Leser treffen und auf den Weg bringen, ihr Leben für diesen Gott zu öffnen.

«Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid» (Hos 11,8)

An einigen Stellen der Bibel gewähren Gottesreden Einblick ins Innere Gottes selbst. Natürlich ist auch dies nicht «reines» Gotteswort, sondern menschliche Rede, doch die Seltenheit gibt solchen Stellen zugleich auch Gewicht. Eine besonders bemerkenswerte Stelle dieser Art ist das 11. Kapitel im Buch Hosea. Der Prophet Hosea wird im Buch vorgestellt als Mahner und Warner vor dem Untergang des Nordreiches Israel (722 v. Chr.), der in bildgewaltiger und provokant zugespitzter Weise ein selbstzufriedenes Israel aufzurütteln versucht. Im Buchverlauf wechseln sich steigernde Anklagen immer wieder mit plötzlichen Umbrüchen zu neuer Hoffnung. Dabei ist zunächst unklar, worauf die neue Hoffnung gründen kann. Dieser Grund wird in Hos 11, am Ende einer langen Reihe von Anklagen, explizit.

In Hos 11 rekapituliert Gott selbst seine Geschichte mit seinem Volk Israel von ihren Anfängen her. «Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten» (Hos 11,1). Damit kommt die Geschichte Israels vom Exodus aus Ägypten her in den Blick. Gott stellt sein Handeln an Israel im Bild elterlicher Fürsorge vor Augen («ich war es, der Efraim gehen lehrte» [11,3]; «ich war da für sie wie die, die den Säugling an ihre Wangen heben […] ich gab ihm zu essen» [11,4, vgl. Dtn 32,6 und 16]). Von allem Anfang an wendet sich Israel jedoch ab («je mehr man sie rief, desto mehr liefen sie vor den Rufen weg» [11,2]). So blickt Gott in Hos 11,1–6 zurück auf eine dramatische Geschichte von beständiger göttlicher Fürsorge und sich im Lauf von Jahrhunderten steigernder menschlicher Abkehr. Die zerrüttete Beziehung erreicht mit Vers 7 einen Höhepunkt («mein Volk verharrt in der Abkehr; sie rufen zu Baal»). Jetzt wäre es Zeit für den endgültigen Bruch von Seiten Gottes.

Doch an genau dieser Stelle beginnt Gott zu klagen («wie könnte ich dich preisgeben»), redet das «Du» Efraim und Israel an und gewährt Einblick in sein Inneres. Die Katastrophe, der Umbruch findet in Gott statt. Gott kann und will von diesem Volk nicht lassen, es nicht aufgeben. «Gegen mich selbst wendet sich mein Herz» (11,8). Gerade darin zeigt sich nicht Schwäche, sondern die Heiligkeit Gottes. Gott wird seinem gerechten Zorn nicht freien Lauf lassen. «Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte» (11,9). Gott wird erneut rufen – diesmal wird es jedoch ein unwiderstehliches Rufen sein, Gott wird brüllen wie ein Löwe (11,10). Daraufhin wird Israel sich neu sammeln aus den verschiedenen Richtungen, in die es zerstreut wurde («wie ein Vogel kommen sie zitternd herbei aus Ägypten, wie Tauben aus dem Land Assur» [11,11]). Es wird eine neue und hoffentlich glücklichere Geschichte im Land beginnen («ich lasse sie wieder in ihren Häusern wohnen»).

Gott dreht sich das Herz um, als er Israel endgültig loslassen will – Gott ruft im Schmerz laut nach seinem geliebten Efraim und Israel. Diesen Ruf zu hören bedeutet, umzukehren und sich neu auf diesen Gott hin zu orientieren – aus allen möglichen Situationen heraus. Aber können Christinnen und Christen sich eigentlich angesprochen fühlen, wenn Gott nach Efraim und Israel ruft?

Im Zuge der Erneuerung christlichen Denkens und Lebens nach der Schoah sind Christinnen und Christen immer noch erst dabei zu lernen, wie sie die Bibeltexte des Alten Testaments angemessen auf sich beziehen können. Christgläubige dürfen sich auf Wort und Leben des Juden Jesus und seiner frühen Jüngerinnen und Jünger hin mit angesprochen fühlen von den Texten des Alten Testaments, sie dürfen sich in der Position der Völker sehen, die von Israel lernen, wer Gott ist. Sie dürfen dabei nicht wieder einfach übersehen, verdrängen und vergessen, dass es ein lebendiges Israel und Gottesvolk im gegenwärtigen Judentum gibt. Die Spannung auszuhalten, das Alte Testament als eigene Bibel zu sehen und doch nicht allein darin angesprochen zu sein – das ist offenbar ein hermeneutischer Balanceakt, der noch viel weiterer Übung bedarf, nicht zuletzt auch bei Theologinnen und Theologen.

Ruth Scoralick

 

1 Ausführlich zu diesen Fragen: Janowski, Bernd, Die Empathie des Schöpfergottes. Gen *6,5–8,22 und das Apathie-Axiom, in: JBTh 30 (2015) 49–74.


Ruth Scoralick

Prof. Dr. Ruth Scoralick (Jg. 1960) war von 2000 bis 2011 Professorin für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Seit 2011 ist sie Professorin für Altes Testament an der Universität Tübingen und seit 2019 Gleichstellungsbeauftragte an derselben Universität.