Gott, das Böse und die Bibel

Führt Gott den Menschen in Versuchung, wie die sechste Vaterunser-Bitte andeutet? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage konfrontiert mit der Vielfalt und Problematik des biblischen Sprechens von Gott.

In einer bestimmten Regelmässigkeit wird im Rahmen der Frömmigkeitspraxis und -reflexion die Frage nach dem Bösen in den Vordergrund gerückt. Dies geschieht interessanterweise mit einem Mass an Engagement, das sonst im Umfeld von Glaubensfragen seltener auftaucht. Das Phänomen ist keinesfalls neu: Es kann bis in die Geschichte der jüdischen Glaubensreflexion zurückverfolgt werden, ist bereits in der Jüdischen Bibel bezeugt und ist auch in der Epoche des Wirkens Jesu von Nazaret und der ersten christlichen Verkündigung über den Kyrios Jesus Christus zu orten. Gerade die dadurch ermöglichten biblischen Belegstellen geben Anlass zur Kontroverse und werden oft etwas unbesehen als Argumente in die entsprechende Diskussion geworfen. Ist diese – wie gerade in diesen Wochen – sogar durch die Kirchenleitung anhand der Bezugnahme auf den Text eines christlichen Grundgebets aufgeworfen,1 wird sie mit auffallender Dringlichkeit geführt. Eine Besinnung auf verschiedene inhaltliche und methodische Vorgaben theologischen Denkens könnte in diesem Zusammenhang nützlich sein.

Ein Gott als bibeltheologische Vorgabe

«Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig.» Mit dieser Proklamation beginnt das Urcredo Israels (Dtn 6,4). Die Einzigkeit Gottes ist das grundlegendste Unterscheidungs- und Alleinstellungsmerkmal der israelitischen Religion im Umfeld von vielgestaltigen Variationen eines Mehrgötterglaubens. Die uneingeschränkte Konzentration auf diesen einen Gott, dem zunächst die gesamte Schöpfungsverantwortung, sodann auch die gesamte Geschichts- und Zukunftsverantwortung zuerkannt wird, hat, betrachtet von einer übergeordneten Ebene, allerdings auch eine Kehrseite: Denn die Menschheitserfahrung in Bezug auf Welt, auf Menschenschicksal und auf Zukunft ist keineswegs nur positiv. Böses, Unvollkommenes, Lebensfeindliches (bis zum Tod) kann nicht ausgeblendet werden. Die sich daraus schon an die jüdische Theologie ergebende Anfrage nach dem Warum und Wieso aller negativen Phänomene steht zwischen den Zeilen. Der Preis für den kompromisslosen Eingottglauben Israels ist die ungelöste Frage nach dem Bösen.


In frühen biblischen Texten wird die Frage unkritisch überspielt und das Böse der Allmacht Gottes einfach beigeordnet: «Ich bin der HERR, und sonst niemand, der das Licht formt und das Dunkel erschafft, der das Heil macht und das Unheil erschafft, ich bin der HERR, der all dies macht» (Jes 45,6b–7, 6. Jh. v. Chr.). Aber eine solche Position lässt sich nicht auf Dauer halten. Als König David eine Zählung der waffentauglichen Männer in Israel und Juda anordnet (anstelle im Krieg auf die Macht Gottes zu vertrauen), wird ihm dies als Sünde angerechnet (vgl. 2 Sam 24, bes. 24,10.17, vor 600 v. Chr.). Ein Vergleich mit der späteren Wiedergabe dieser Erzählung in 1 Chr 21 (Ende 4. Jh. v. Chr.) ist insbesondere im Blick auf den Ausgangspunkt der Darstellung aufschlussreich:

2 Sam 24: «Der Zorn des HERRN entbrannte noch einmal gegen Israel und er reizte David gegen das Volk auf und sagte: Geh, zähl Israel und Juda!»

gegenüber

«Der Satan trat gegen Israel auf und reizte David, Israel zu zählen.»
 

«Satan» als Hilfskonstruktion

Der Subjektswechsel vom «HERRN» zu «Satan» legt eine theologische Hilfskonstruktion offen, die bis heute erhalten geblieben ist. Die Erzählung vom Fall der Engel, die sich apokrypher Überlieferung verdankt,2 hat dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf «Satan» (oder wie auch immer benannt) als böses Wesen zu stärken. Streng genommen verbirgt sich dahinter nach wie vor das Ringen um eine Antwort auf die bohrende Frage nach dem Bösen. Die Rahmenerzählung des Buches Ijob (vgl. Ijob 1,6–2,10, bes. 1,11–12 und 2,1–6) zeigt, wie sehr umfeld- und kulturbezogen das Thema abgehandelt wurde: Satan wird als Versucher dargestellt, der mit Zustimmung Gottes Ijob schrittweise auf die Probe stellt.

Jesus – ein «Kind seiner Zeit»

Die christologische Kurzformel «wahrer Gott und wahrer Mensch» bringt den Versuch eines Verstehens der Person Jesus von Nazaret an Grenzen. Jede einseitige Schwerpunktsetzung in dieser spannungsgetragenen Aussage muss sich daher sofort korrigieren lassen. Das gilt, wollte frau oder man Jesus lediglich als Mensch des 1. Jh. n. Chr. vereinnahmen; es hat aber auch seine Richtigkeit, wird Jesus von Nazaret einfach aus seinem Lebensumfeld herausgehoben und zu einer perfekten zeitlosen (göttlichen) Gestalt stilisiert. Vor allem Letzteres geschieht in der vorliegenden Frage immer wieder. Dabei wird übersehen, dass Jesus von Nazaret, wollte er in seiner verbalen und nonverbalen Verkündigung verstanden werden, diese in das Weltbild der Menschen seiner Zeit und seines Umfelds einordnen musste.


Deshalb treibt Jesus Dämonen aus und verdeutlicht so die voranschreitende Verwirklichung einer Königsherrschaft Gottes (und nicht des Teufels, vgl. Lk 11,14–23 par Mt 12,22–30). Deshalb macht er seine Nachfolgegemeinschaft mit der Vorstellung von Versuchungen durch den «Teufel» vertraut (vgl. Mk 1,12–13 par Mt 4,1–11; Lk 4,1–13) und warnt davor, dass diese Gestalt die Jüngerinnen und Jünger erneut als versucherischer Ankläger zu Fall bringen möchte (Lk 22,31–32, vgl. dazu bereits Sach 3,1–2 und Ijob 1–2). Daraus erschliessen zu wollen, Jesus von Nazaret habe in solchen Fragen aus höherer Einsicht gehandelt, ist simplifizierend. Vielmehr wäre Phil 2,6–8 ernst zu nehmen: Die Logik unseres Gottes liegt ja gerade darin, dass «der in der Gestalt Gottes war, es nicht als Raubgut verstand, daran festzuhalten», sondern sich entäusserte, und zwar total, bis hinein in den Tod. Dazu gehört ohne Zweifel auch die Zurücknahme und die Selbstbeschränkung auf das Menschliche und auf die geschichtliche Konkretheit von Zeit, Kultur, religiösem Erbe und Gottesbild.

Ausdruck des Gottesbildes Jesu

Das Vaterunser spiegelt als ureigenes Gebet Jesu sowohl diese spannungsvolle Weite und Tiefe der Verwurzelung im Vater wie auch die Bezogenheit auf das Umfeld Jesu. Der liebende Gott Jesu kann auch an eine Grenze, ja über eine vorstellbare Grenze hinaus führen, wie die Zumutung der Passion Jesu und dessen Ringen damit zeigt (vgl. Mk 14,32–42). Ungeachtet dessen ist und bleibt dieser Gott ein Gott mit uns, der auch dann zu uns steht, wenn es menschlich nicht mehr denkbar ist, also in unserer Sündhaftigkeit und in unserem Tod. Deswegen, um dieser geoffenbarten Identität Gottes willen, durfte Jesus von Nazaret nicht im Tod bleiben, er musste auferstehen (siehe Mk 8,31 sowie Lk 24,26.46). Es liegt durchaus im Rahmen der Vorstellungswelt Jesu und seiner Zeit, darum zu bitten, dass Gott uns nicht in die Versuchung «hineinführt» (Mt 6,13a; Lk 11,4), sondern uns «herausreisst» aus dem Bösen (Mt 6,13b) – eine Formulierung, die an das befreiende Handeln Gottes im Exodusgeschehen anspielt.3 Das kann ich auch in meinem persönlichen Beten durchhalten, wenn ich mir die von Paulus geäusserte Überzeugung zu eigen mache und sie für mich ernst nehmen kann: «Gott ist treu. Er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt» (1 Kor 10,13).

Übersetzung und Übertragung ins Heute

«Und führe uns nicht in Versuchung» ist eine korrekte Übersetzung, die dem griechischen Urtext entspricht. Auch der sprachliche Befund ist eindeutig: «Eisphero» heisst hineinführen, hineintragen. Es besteht also kein Grund für eine Änderung. Und auch «laisser entrer en tentation» oder «soumettre à la tentation»5 bleibt letztlich Sprachkosmetik, vielleicht mit unterschiedlichen Nuancen der Intensität.


Allerdings besteht aller Grund dazu, das biblische Gottesbild erneut zu reflektieren und sich dabei von einer statischen Tunnelsicht auf die dynamische Vielfalt der biblischen Gottesverkündigung einzulassen, um dabei ermutigende, ernüchternde, menschennahe und provozierende Facetten in der Art zu entdecken, wie sich dieser eine Gott im Darstellungsreichtum von einem Jahrtausend biblischen Schrifttums, in der Breite verschiedenster Kulturen und in einem wechselvollen Geschichtsverlauf der biblischen Zeit (um nur einige entscheidende Eckpunkte zu benennen) dem Menschen als dem Du seiner Liebe zu erkennen gibt.


Dazu besteht aller Grund, und nur dafür ist ein Sinn in der gegenwärtigen Debatte erkennbar. Das könnte dazu führen, dass die Absicht des Konzils ernst genommen wird, die Schrift nicht wörtlich zu lesen, sondern nach dem Sinn ihrer Aussagen zu fragen6 und dann darüber nachzudenken, was sie für uns heute bedeuten. Dass wir als einzelne Christen und als Kirche dabei den Mut aufbringen, uns auch mit den uns verborgenen Seiten unseres Gottes auseinanderzusetzen, wäre eine lohnenswerte Option.
 

 

1 Siehe Bischof Franziskus, Interview mit dem italienischen TV-Sender TV 2000 am 6. Dezember 2017   (www.vaticannews.va/depapst/news/2017-12/franziskus-bemaengelt-vaterunser-uebersetzung.html).
2 Siehe äthHen 1–36. Die Erwähnung dieser Thematik in 2 Petr 2,4 und Jud 6 kann nicht als biblischer Beleg gewertet werden.
3 Vgl. Kol 1,13, des Weiteren 2 Kor 1,10; 1 Thess 3,2; 2 Tim 4,18, dazu Ex 6,6; 14,30.
4 Es ist zu beachten, dass die den Jak verfassende Person in diesem Punkt nicht anders denkt, sondern einen anderen Akzent setzt:   siehe Jak 1,12–15.
5 Kath.ch 7 Tage, in: SKZ 185 (2017), H. 50, S. 662.
6 Siehe dazu Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung «Dei Verbum» Art. 12.

 

Weiterführende Literatur
• Brüning, Christian; Vorholt, Robert, «Die Frage des Bösen». Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, Würzburg 2018.
• Gielen, Marlies, «Und führe uns nicht in Versuchung». Die 6. Vaterunser-Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild? in: ZNW 89 (1998), S. 201–216.
• Haag, Herbert, «Teufelsglaube», Tübingen 1974.
• Kirchschläger, Walter, «Satan et Démons à Qumran et dans le Nouveau Testament», in: Supplément au Dictionnaire de la Bible XII, Paris 1992, S. 21–47.


Walter Kirchschläger

Prof. Dr. Walter Kirchschläger (Jg. 1947) war von 1982 bis 2012 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der 
Theologischen Fakultät in Luzern.