Gnade als Basis christlicher Nachfolgepraxis

«Liebe Gerlinde», so Karl Rahner in einem Brief an Abiturienten/-innen aus Leverkusen, «Wenn ein junger Mensch von heute erkennt, dass er eine wirkliche und doch nicht resignierende Distanz zu der fürchterlichen Welt von heute gewinnen und aufrechterhalten muss, wenn er ein wahrer Mensch von Verantwortung, Freiheit und Hoffnung sein will und wenn dieser unabhängige Standpunkt nicht die Leere der Resignation und des Skeptizismus sein soll, dann muss er ein persönliches Verhältnis zu dem unbegreiflichen, alles umfassenden Geheimnis gewinnen, das wir Gott nennen, zu dem Geheimnis, das birgt und in das hinein, weil es die unendliche und vergebende Liebe ist, alle unsere Probleme im Allerletzten entlassen werden dürfen, auch wenn sie tapfer weiter zu tragen sind.»1

Was Rahner in der ihm eigenen «Satzbaustellung» hier zusammenfasst, kann als Mitte dessen bezeichnet werden, was wir allgemein unter Berufung – als Kontrapunkt aller Nachfolgepraxis – verstehen dürfen: Jeder Mensch besitzt genuin das Angebot eines persönlichen Verhältnisses zu Gott, dessen Basis die voraussetzungslose Gnade Gottes ist. Dieser basale «Vorschuss an Gnade» will nicht nur eine freisetzende Perspektive auf Leben, Menschen und Welt generieren lassen, sondern sie gibt den Ausschlag dafür, was eine Nachfolgepraxis im Geiste Jesu ermöglicht, die nicht selbstbezogen und elitär, weltfremd oder weltenthoben machen will, sondern sensibel für einen «Standpunkt der Erlösung» (Th. W. Adorno), der aller Nachfolgepraxis vorausgeht. Gemeint ist damit ein Standpunkt, dessen Sensibilität in einer entmachtenden Perspektive gründet, wonach «die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird».2

Verbunden mit der voraussetzungslosen Gnade Gottes will und kann die Sensibilität eines solchen «Standpunkts der Erlösung» eine Lebens- und Glaubensperspektive in «Verantwortung, Freiheit und Hoffnung» ergreifen lassen, die keineswegs vor Zweifel, Resignation wie lebens- und glaubensgeschichtlichen Sackgassen bewahrt und die durchaus auch angesichts der Radikalität des eigenen und fremden Versagens, der eigenen und fremden Schuld sprachlos macht. Doch sollte dieser Standpunkt immer wieder zu einer Perspektive zurückfinden lassen, die der Christo-Logik der «Grammatik der Gnade Gottes» folgt, wonach ein sich Festmachen in Gott (als ein «credere in deum») keinen zu Grunde gehen lassen will (vgl. den Schlusssatz des Te Deums).

Nachfolgepraxis unter der «Grammatik der Gnade»

Jedes Erlernen einer Sprache und ihrer Grammatik bedarf einer didaktischen Vermittlung, die nicht nur im Theoretischen stehen bleiben darf, sondern die beides in praktischen Erzählkontexten einholen und einüben lässt. Ähnliches trifft in analoger Weise auch auf die Frage der Nachfolge zu. So kommt es vor allem auf die Sprachgestaltigkeit des Lebens derjenigen Frauen und Männer an, die von den Höhen und Tiefen christlich gelebter Nachfolge erzählt und die einen, wenn nicht sogar den wesentlichen Zugang zu einem «Standpunkt der Erlösung» auf der Basis der voraussetzungslosen Gnade Gottes ermöglicht. Es kommt also auf besonders dichte Weise auf die Sprachgestaltigkeit ihrer Nachfolgepraxis an, ob und wie andere Menschen dazu ermutigt werden, an die Energie und an die (Sprach-) Bilder der befreienden Gnade Gottes anzuknüpfen und diese gemäss deren Heilsgrammatik und Heilsdramatik lebens- und glaubensgeschichtlich selbst zu «exegetisieren» beginnen.

Nachfolgepraxis als Christopraxis

Die Lesungen und das Evangelium des 13. Sonntag im Jahreskreis (Lj C) machen keinen Hehl daraus, dass eine christliche Nachfolgepraxis im Sinne einer Christopraxis davon erzählen müsste, dass es nichts Wichtigeres im Leben der Getauften geben dürfte, als dass jeder Mensch sich in seine gottgeschenkte Würde und Grösse gestellt erfahren und andere in diese ihre Würde und Grösse stellen sollte. Darin besitzt kein/e Verantwortungsträger/in in der Kirche ein Alleinstellungsmerkmal. Doch wird ihr bzw. ihm diesbezüglich mehr zugemutet, nämlich mit der ganzen Existenz gegen solche Beziehungen und Strukturen in und durch die Kirche «anzuleben», die die Priorität der Gnade Gottes im Leben der Menschen verhindern, ersticken oder erst gar nicht aufkeimen lassen. Keiner und keine Verantwortungsträger/in sollte den eigenen «Standpunkt der Erlösung» so (vor)leben, dass sich die eigene Nachfolgepraxis als reiner Selbstzweck entlarvt, die den Logiken eines elitären (individuellen oder systemischen) Selbstbezugs folgt. Vor eben dieser Gefahr scheint Paulus eindringlich warnen zu wollen, wenn er mahnt: «Zur Freiheit seid ihr berufen!» Eine Mahnung, die vor allem diejenigen kirchlichen Verantwortungsträger/innen trifft, die in ihrer Nachfolgepraxis zu «Beifahrern der Belanglosigkeit» (Sandra Kreisler) degenerieren, die zwar Interesse an den Menschen vorgaukeln, diese jedoch zum Spielball der je eigenen Eitelkeiten, Karrierismen und Selbstbestätigungen machen.

Nachfolgepraxis mit «menschlichem Antlitz»

«Lass die Toten ihre Toten begraben ... Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes» – Kein Zweifel, dass es sich hier um harte Sätze handelt, deren Rezeptionsgeschichte vor allem in der spirituellen Begleitung von Ordensfrauen und Ordensmännern zu inhumanen Bruchsituationen geführt hat. So hart diese Sätze erscheinen, so unnachgiebig bringen sie jedoch die Radikalität christlicher Nachfolgepraxis auf den Punkt. Denn nicht vermeintlich unumstössliche Rückbindungen, Abhängigkeiten und Sozialgestalten, sondern rückhaltloses und entschlossenes Vertrauen in die voraussetzungslose Gnade Gottes ermöglichen solche Bindungen, Sozialisationen und Begegnungserfahrungen, die Menschen in ihrer Glaubenspraxis «erwachsen» werden lassen. Dieses Erwachsenwerden, im Sinne Rahners errungen und erkämpft in «Vertrauen, Freiheit und Hoffnung», prägt der christlichen Nachfolgepraxis ein je eigenes «menschliches Antlitz» ein, das zu keinem vergrämten Zerrbild glaubender Praxis degenerieren sollte. Vielmehr sollte sie zur Ikone unbändiger, weil in Gott gründender Freiheit anderen von der Durchsichtigkeit eines Lebens erzählen, das Mut macht, sich als mündige Christinnen und Christen zu verstehen und den Überraschungen des Evangeliums zu trauen beginnen, um so den Weg in eine je eigene Nachfolgepraxis zu finden, die einen selbst wie andere befreit und nicht versklavt.

 

1 Karl Rahner, Geistliche Schriften. Späte Beiträge zur Praxis des Glaubens, Freiburg 2007, 481 (= SzTh 29).

2 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 231997, 67.

Salvatore Loiero

Salvatore Loiero

Dr. theol. habil. Salvatore Loiero ist Professor des deutschsprachigen Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.