An-sehen und respektieren

Der Ruf der Antigone in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie hallt als Echo aus der Vergangenheit bis in die Jetzt- Zeit: «Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.»1 Wie kein anderer Ruf offenbart er die Zerrissenheit einer Person, die von einem Mächtigen, dem König von Theben, lebendig eingemauert wird zur Strafe dafür, dass sie ihren Bruder bestatten wollte. Damit wäre auch ihm letzte Achtung möglich geworden. Das «Ungeheure», das hinter Mauern von kirchlichen und anderen Institutionen in der jüngeren Gegenwart geschah, waren respektlose Missbräuche und Grenzverletzungen, die von Personen beiderlei Geschlechts – sei es aus ungeheurem Kalkül oder aus Überforderung – begangen wurden.

Für respektvolles Verhalten

Die Frage nach Ursachen und Motiven wurde lange verdrängt und die in Institutionen heute stärker anerkannten Bedürfnisse der Person nach Intimität und geschütztem Raum2 erheblich vernachlässigt. Unterdessen bekamen Opfer ein Gesicht und etwas mehr Verständnis in der Gesellschaft. Täterinnen und Täter mussten lernen, sich mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen. Nun sind Opfer nicht zuletzt in ihrer Scham Verletzte. Darum ist Daniel Hells Deutung aufzunehmen: «Man benützt die Schamfähigkeit des Menschen, um ihn kleinzumachen und zu demütigen. Scham und Beschämung ist mindestens so verschieden wie Demut und Demütigung.»3

Den einschneidenden Ereignissen, die Menschen in Heimen und Organisationen erlitten haben, stellen sich Behörden in Kirchen und Gesellschaft. Erste Schritte der Aufarbeitung erfolgten. Präventive Massnahmen und die Förderung angemessener Feedback-Kultur müssen folgen. Die SKZ dokumentierte bereits, was an mangelnder Fairness und «Ungeheuerlichkeit», verursacht durch eine Un-Kultur des Verschweigens und dem Versagen der Verantwortlichen in Staat und Kirchen, geschah. Wo in der Seelsorge und ihrem weiteren Umfeld wenig oder gar nicht professionell gehandelt wurde und wird, tragen alle Beteiligten Verantwortung für respektvolles Verhalten.

Der Auferstandene vermittelt Ansehen

Einer Verzichts-Kultur das Wort redete Daniel Hell und meinte, dass wir in einer Gesellschaft leben, «die weniger den Respekt für den anderen in den Vordergrund rückt als objektivierbare Fakten, evaluierbare Ergebnisse und materielle Werte». All dies mache Anerkennung so wichtig und Kränkung so verletzend.4 Dem möchte ich beifügen, dass dort Rücksichtslosigkeit dominiert, wo der Blick in den eigenen Spiegel nicht mehr geübt wird. Anderseits ist das An-Sehen seiner selbst ein Vorgang, in den nicht zuletzt religiöse Riten einführen. Respekt anderen gegenüber empfinden lernen, kann sich aus der Kraft dessen nähren, der mitten unter ihnen ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Er, der als Auferstandener unter den zur Feier des Glaubens Versammelten ist, hat sie alle angesehen. Es ist diese jesuanische Einfühlung in die Situation der von Rücksichtlosigkeit Geschädigten, die hoffentlich zu neuem Ansehen in allen Beziehungen führt – familiären, sozialen und politischen.

Verantwortung in der Seelsorge

In ihrem Bereich stehen Seelsorgende als Fachpersonen in besonderer Verantwortung. Sie können Verdächtigungen ausgesetzt sein und müssen gleichzeitig Beziehungen professionell gestalten. Kommt dazu, dass ich als Seelsorger – die lehrmässige «Sexualmoral» und ihre Defizite bedenkend – den «Normalfall ethisch zu leistender Arbeit»5 kennen muss. Darum bin ich gefordert, die Praxis zu reflektieren. Was ansteht, hat Hanspeter Schmitt in diesem Organ im Blick auf die Moral so formuliert: «Alle Moralsätze, gleich welchen Bereiches, bedürfen einer ständigen fachgerechten Überprüfung ihrer humanen Relevanz und Begründung ... Klassischerweise müssen bei einem solchen Vorgang drei zentrale Komponenten sittlicher Erkenntnis zusammengesehen und sachlich wie kritisch miteinander im Gespräch gehalten werden: zum einen die Erfahrung und situative Kompetenz der in einem Gestaltungsbereich betroffenen und kundigen Menschen; zum zweiten fachwissenschaftliche Einsichten, hier jene, die mit der Bedeutung, Genese und kulturellen Einordnung von Sexualität, Erotik und Geschlechterbeziehung befasst sind. Schliesslich ist vor diesem Hintergrund der Bestand an gesellschaftlich geltenden und kirchlich tradierten Normen und Handlungsmodellen zu erörtern, teils um deren Triftigkeit zu bestätigen bzw. zu präzisieren, aber auch um gegebene Defizite ethisch-produktiv auszugleichen.» Wie ein säkulares Echo darauf liest sich die Kurzmeldung in der NZZ vom 26. Mai 2016 unter dem Titel «Sexualmoral-Unterricht für Flüchtlinge. Bund zieht Genderkurse in Betracht». Sich dem ethisch-moralischen Problemkreis entziehen kann sich also auch eine Behörde nicht.

Auf diesem Hintergrund kommt man nicht umhin, notwendige Schritte zur Revision eigener Haltungen und der Prävention zu gehen. Nach dem Benennen der «ungeheuerlichen» Realitäten des Missbrauchs wurde zwar neues Vertrauen aufgebaut.6 Wenn sich aber auch Fachpersonen in der Seelsorge selbst Mobbing oder Bossing ausgesetzt sehen, ruft dies nach Supervision ebenso wie nach Veränderungen im kirchlichen Arbeitsklima.

Respekt in allen Beziehungen

Wie sich gegenseitiges Respektieren finden lässt, kann nicht nur mit Regress auf die Feststellung «fehlender Kinderstube» erörtert werden. Einer Lagerleitung mit 16- bis 19-Jährigen wurde respektvoller Umgang wichtig, als sie selber erkennen mussten, wie und wann es unter den Kindern zu Grenzverletzungen kam. Prävention in diesem Umfeld gehört zum Programm aller Jugendverbände. Dann zeigen Diskussionen wie jene um den verweigerten Händedruck7, dass Erwartungen an allgemeines Verhalten in der hiesigen Gesellschaft nicht deckungsgleich sind mit Gewohnheiten einzelner Bevölkerungsgruppen. Neue Fragen stellen sich: Wie viel interkulturelle Sensibilität braucht es im Umgang miteinander? Was bedeutet es dann, «tolerant» zu sein?

Wenn mir vor der Begegnung in einem Schulzimmer die Mutter eines muslimischen Knaben ihre Hand nicht zum Willkommgruss gibt, ist es mein Entscheid, dies als Zumutung abzutun. Ich kann stattdessen meine Hände – wie ähnlich bei der Begrüssung eines Hindus – auf meine Herzgegend legen und mich leicht verneigen. Dies kommt nicht einer Verbiegung meiner Identität gleich, bleibt aber meine Entscheidung. Ich bevorzuge diesen Weg, um nicht neuen Zwängen zu erliegen, die juristisch vorschreiben, wie «man» sich zu verhalten hat.8

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Zitat

«Glaube ist unverfügbar. Nicht ich ‹habe› die Wahrheit, aber ich kann mich auf den Weg machen, das Leben und die Wahrheit zu entdecken, mich darauf einzulassen, mich davon anrühren und berühren zu lassen. So werde ich ‹in alle Wahrheit geführt› (Jo 16,13).

Es scheint mir aussichtsreich, (...) so etwas wie ein ‹experimentelles Christentum› zu wagen.

(...) Ich lerne, offene Fragen ohne Leidensdruck zu ertragen. Ich glaube, dass mich Jesus Christus in jeder Begegnung trägt und dann auch Orientierung gibt, um in dieser Welt zu bestehen. Das wird alles sehr menschlich sein, aber gerade darin ‹christlich›. Denn nicht irgendein ‹absolutes Wissen›, sondern die Gewissheit ist Kennzeichen eines freien Christenmenschen. Das macht den Glauben durchaus schwieriger, aber es macht ihn kostbarer.»

Aus: Andreas Goetze: Wenn der Geist sich radikalisiert, in: Kirche, Evangelische Wochenzeitung für Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz 35/2014, 5.

 

1 https://de.wikiquote.org/wiki/Sophokles#Antigone_.28442_v._Chr..29

2 Vgl. Publik-Forum EXTRA Nr. 5 Sept./Okt. 2012 zum Thema: Intimität und Scham. Vom Verlangen nach geschützten Räumen.

3 Vgl. Interview mit Daniel Hell: «Der Sündenfall ist eigentlich ein Schamfall», in: bref Das Magazin der Reformierten 6/2016, 19 f.

4 Daniel Hell in seinem Essay: Besser scheitern, in: Tages-Anzeiger, 23. Oktober 2013, 27

5 Hier und nachfolgend Hanspeter Schmitt: Sexualmoral auf dem Prüfstand – ein Normalfall!?! SKZ 178 (2010) 431 f.

6 Schweizer Bischofskonferenz, Richtlinien «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld», 3. Auflage 2014.

7 In der Schule den Handschlag von Personen als Pflicht einfordern lassen, sieht nun die von der Baselbieter Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion (BSKD) am 25. Mai 2016 erlassene Regelung vor.

8 Als Landespfarrer für den interreligiösen Dialog der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) hat Andreas Goetze einen Durchblick zur Frage vorgelegt. Jenseits von Absolutheitsdenken und Beliebigkeit. Perspektiven einer «spirituellen Toleranz», EZW-Texte Nr. 242 Berlin 2016, 109 S. mit ausführlichem Materialteil


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)