Genesis: Eine «Bibel im Kleinen»

Es ist dem Tag des Judentums zu wünschen, dass er im sechsten Jahr seines Bestehens in der Schweiz an Bekanntheit gewinnt. Schliesslich verfolgt der von der Schweizer Bischofskonferenz am zweiten Fastensonntag eingeführte Tag kein geringeres Ziel, als «die tiefe Verbundenheit von Judentum und Christentum zum Ausdruck [zu bringen]» und «ins Bewusstsein [zu] rufen, was das Judentum in Vergangenheit und Gegenwart für den christlichen Glauben bedeutet».1

Dafür sind die ersttestamentlichen Lesungstexte besonders gut geeignet. Im aktuellen Lesejahr C ist mit Ausschnitten aus Gen 15 ein Text vorgesehen, der in seiner theologisch-spirituellen Dichte, aber auch in seiner religionsgeschichtlichen und nicht zuletzt narrativen Komplexität geradezu eine «Bibel im Kleinen» darstellt.2 Leider macht die ausschnitthafte Aufnahme von Gen 15 ins Lektionar das Verständnis des Textes und seines «roten Fadens» nicht gerade einfacher. Einen hilfreichen Zugang bietet die bereits zitierte Wegleitung zum Tag des Judentums, die Auslegungen der Lesungstexte und Evangelien für alle drei Lesejahre, Hintergrundartikel und auch liturgische Gestaltungsvorschläge für den Gottesdienst enthält. Aus dem sehr lesenswerten Artikel von Adrian Schenker, em. Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg i. Ü., zu Gen 153 seien hier einige Aspekte aufgegriffen und weitergeführt.

1. Zweifache Verheissung

Gen 15 erzählt von einer doppelten Verheissung JHWHs gegenüber Abram (Abraham, Vater der vielen [Völker], erhält er bekanntlich erst in Gen 17,5 als neuen Namen zugesprochen): Eine Verheissung zahlreicher Nachkommenschaft (Gen 15,1–6) sowie eine Verheissung auf gesicherten Landbesitz (Gen 15,7–21). Die erste Verheissung bedeutet zunächst eine Absicherung seines und Sarais Wohlergehen im Alter, die zweite Verheissung stellt ihr ungefährdetes Leben in der Fremde sicher, in die Abram und Sarai ja erst wenige Jahre zuvor von JHWH selbst geführt wurden.

2. Zweifache Zweifel

Beide Verheissungen kommen Abram angesichts seiner und Sarais Lebenssituation mehr als unwahrscheinlich vor (15,2 f.8). Die griechische Übersetzung der zweiten Rückfrage Abrams aus der Septuaginta (katá tí ginósomai, 15,8) begegnet viel später wörtlich identisch im Mund des Zacharias, der in ebenfalls hohem Alter eine Kindesverheissung für sich und seine Frau Elisabeth erfährt (Lk 1,18).

3. Zweifache Ermutigung JHWHs

Beiden Zweifeln begegnet JHWH durch einen Zuspruch, den Abram jeweils nicht im «Wachzustand» erfährt, sondern der ihn in der Tiefe seiner Seele berühren und ihm so Vertrauen ermöglichen soll: Der Blick in den Sternenhimmel ist nicht als normale Himmelsbeobachtung gekennzeichnet, sondern als Vision (15,1). Und das Schwurritual, das heutige Lesende wohl eigenartig archaisch anmutet, wird von Abram zwar tagsüber vorbereitet, doch die Selbstverpflichtung JHWHs ereignet sich nachts, während Abram von einem gottgewirkten Tiefschlaf befallen ist (15,12.17; das seltene hebr. Wort tardemah begegnet zuvor nur in Gen 2,21).

4. Bund und Selbstverpflichtung JHWHs

Gen 15,18 deutet das ganze Geschehen als Bundesschluss JHWHs mit Abram (und Sarai). Auffällig ist dabei, dass das eigentliche Schwurritual einseitig ist. Aus Jer 34,18–20 ist ein vergleichbares Ritual aus der Zeit König Zidkijas belegt. Das rituelle Abschreiten eines Weges zwischen den Stücken eines zerlegten Opfertieres hindurch sollte die Schwurparteien unwiderruflich binden und ihnen vor Augen führen, was ihnen im Fall eines Eidbruchs drohen würde: Vernichtung wie dem zerstückelten Opfertier.

Hier in Gen 15 weist JHWH Abram zwar an, das Schwurritual vorzubereiten (15,9 f.), das eigentlich beide Vertragsparteien binden sollte. Doch nur JHWH allein geht dann – symbolisch in Gestalt des «rauchenden Ofens» und der «Feuerfackel», was u. a. an die Feuer- und Wolkensäule des späteren Exodus erinnert – zwischen den zerteilten Opfertieren hindurch. JHWH unterzieht sich also einer einseitigen Bindung an Abram, bei der JHWH – undenkbar zwar, aber im Schwurritual so rituell zum Ausdruck gebracht – nicht weniger als die eigene Existenz aufs Spiel setzt: «Die Zeichenhandlung stellt dergestalt eine schwindelerregende Selbstverfluchung dar für den Fall des Eidbruches – eine bei Gott absolut unvorstellbare Möglichkeit! Doch Gott steigt selbst herab und geht menschliche Selbstbindungen ein, damit Abraham und wir die absolute Unmöglichkeit der Nichterfüllung von Gottes Versprechen anschauen können.»4 Abram antwortet auf seine Weise: «Und er glaubte JHWH, und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit an» (15,6). Dieser Satz wird viel später zum Dreh- und Angelpunkt paulinischer Theologie (Gal 3,6; Röm 4,3).

Wer – der herausragenden Bedeutung des Tages entsprechend – in den Gottesdiensten des zweiten Fastensonntages einen Akzent auf den «Tag des Judentums» setzen möchte, ist gut beraten, die ausschnitthafte Lesung aus Gen 15 auf das ganze Kapitel zu erweitern und zum Predigtthema zu machen. Gen 15 eröffnet ersttestamentliche Perspektiven auf Glauben und Vertrauen, Menschen- und Gottesbilder und insbesondere die unwiderrufliche Selbstbindung Gottes an die Menschen, die allzu viele Christinnen und Christen als Botschaft (nur) des Neuen Testaments empfinden. Wie sehr gerade diese neutestamentlichen Kernthemen im Ersten Testament wurzeln, kann Gen 15 exemplarisch verdeutlichen und so einen Zugang zur Wertschätzung des Ersten Testaments, des Judentums und des jüdisch-christlichen Dialogs eröffnen.

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1 Prof. Dr. Verena Lenzen und Rabbiner Dr. David Bollag, katholische Co- Präsidentin und jüdischer Co-Präsident der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission, in der Einleitung der Wegleitung zum Tag des Judentums (2015), 9. Die Wegleitung ist am Schluss dieses Artikels aufgeschaltet.

2 Adrian Schenker, C: Genesis 15 – Der Bund Gottes mit Abraham, in: Wegleitung (wie Anm. 1), 43–53, hier 53.

3 Ebd.

4 Ebd., 49.


Detlef Hecking

Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Theologe, Bibliodrama- und Bibliologleiter. Nach Tätigkeiten als Pfarreiseelsorger, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Dozent an der Universität Luzern (RPI) ist er seit 2021 Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel.