Leere Kirchenbänke. Mangel an kirchlichen Mitarbeitenden. Fehlendes Geld. Ungenutzte und umgenutzte Kirchengebäude. Überalterte Kirchenchöre. Verheiratete Priester. Eine Päpstin. Auflösung der Pfarreistruktur. Ausschliesslich digitale Kontakte. Die Kirche ohne gesellschaftliche Relevanz.
Kein konkretes Zukunfts-Szenario
Anders als es die provokative und teilweise pessimistische Einleitung suggeriert, zeichne ich in diesem Artikel kein konkretes Zukunftsbild der Kirche. Das oben aufgelistete Szenario ist zwar theoretisch möglich, wird zum Glück aber kaum in allen Punkten Realität werden. Anstatt eine fiktive Situation zu visionieren, versuche ich Tendenzen zu erörtern, wie es mit der Kirche in der Gesellschaft weitergehen könnte.
Kurz-Einschätzung der Gesellschaft
Die Zeit der Volkskirche ist längst vorbei. Immer weniger Menschen nehmen kirchliche Angebote aus purer Gewohnheit in Anspruch. Diese bereits bestehende Entwicklung wurde wie so vieles seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie weiter beschleunigt. Das aktuelle Leben ist geprägt von permanenter Informationsflut, geschürter Angst, steigendem Erwartungsdruck, zunehmender Arbeitstätigkeit, beschleunigender Digitalisierung und einer Überfülle an Angeboten realer oder virtueller Natur. Daher suchen viele Menschen in ihrer Freizeit Orte zum Auf- und Durchatmen. Sie fragen bei ihren Aktivitäten nach dem Nutzen. Ein freiwilliger Beitrag wird auch heute noch häufig geleistet, wenn sich jemand in einer Gemeinschaft gestützt fühlt und die Person in ihrem Einsatz einen Sinn findet.
Was die Kirche im Kern ausmacht
Daher stelle ich folgende Fragen: Was hat die Kirche denn zu bieten? Was macht sie besonders und unverzichtbar? Was fasziniert und begeistert Menschen, die sich nicht oder nur sehr lose mit der Kirche verbunden fühlen? Aus meiner Sicht sollte es die barmherzige und bedingungslose Liebe sein. Es reicht nicht schön zu reden, sondern Taten sagen mehr als Worte; oder wie es der französische Schriftsteller Paul Claudel ausdrückte: «Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, dass man dich fragt.» Die gelebte Liebe von Menschen erhält m. E. eine besondere Kraft, wenn sie in einer gepflegten Gottesbeziehung und in der Freude am Evangelium gründet. Auf solche Weise stelle ich mir heute auch missionarisches Wirken vor: faszinierend, einladend und ungezwungen. Weiter wird die Kirche für mich unverzichtbar, wenn es ihr gelingt Räume für Gotteserfahrungen zu schaffen; wenn sich die Menschen von der Liebe Gottes angesprochen und getragen fühlen. Als Zusammenfassung meiner Antwort auf die Fragen führe ich ein Zitat aus einer neueren Enzyklika von Papst Franziskus auf: «Als Gläubige sind wir herausgefordert, zu unseren Quellen zurückzukehren, um uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Anbetung Gottes und die Nächstenliebe, [ …]» (Fratelli tutti 282).
Thesen zur Zukunft
Für die Kirche in der Schweiz in 190 Monaten stelle ich als Tendenzen folgende Thesen auf: Die römisch-katholische Kirche existiert noch. Sie ist flexibler und dynamischer als heute. Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen erhält zunehmende Bedeutung. Den freiwilligen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden werden mehr Verantwortung und Gestaltungskompetenz zuteil. Kirchliche Gemeinschaft wird in kleineren Gruppen vermehrt erfahrbar. Die Anzahl der Kirchenmitglieder ist viel kleiner, aber das durchschnittliche Zugehörigkeitsgefühl ist höher als heute. Das Ineinandergreifen der vier Grundvollzüge Liturgie, Diakonie, Verkündigung und Gemeinschaft wird gestärkt. Es wird vermehrt Funktionierendes weiterentwickelt, Neues gewagt und weniger Gelingendes verworfen. Die klassische Kirchenmusik wird durch die populäre vermehrt ergänzt. Die digitale Modernisierung hat in der Kirche längst Einzug gehalten.
In Gelassenheit vertrauen: Es geht weiter!
Die Kirche steht heute vor grossen Herausforderungen. Das ist aber nichts Neues. Das Wissen um die Vergangenheit lässt hoffen und in Gelassenheit darauf vertrauen, dass der Weg weitergeht – vielleicht einfach anders als wir denken. Ich bin optimistisch, sehe mehr Chancen als Probleme und vertraue auf das Wirken von Gottes Geist in allen und allem.
Simon Bachmann