Es ist eine zweite Seuche. Neben der Coronapandemie befiel die Gesellschaft eine Krankheit, die in der katholischen Kirche schon seit längerem grassiert: der Spaltkurs – die innerkirchlich wohl bekannte Gewohnheit alle Meinungsdifferenzen in ideologische Streitfelder zu verwandeln – überkommt wie eine zweite Pandemie Gemeinschaft und Politik. Wir leiden in der Kirche an einer Form der Hybris – der masslosen Überschätzung von Meinung. In den Fragen von Liturgie, Ämtern, Strukturen und Missbrauch: überall werden Meinungen überhöht. Diese mutieren zu Ideologien, die es vielerorts verunmöglichen, die Kirche als Lebensfeld miteinander teilen zu können. Die Überschätzung von Meinung und das Zerreden, als Form des Sprechens, das die Wirklichkeit nicht erhellt, sondern verdunkelt, scheint mit der Coronapandemie auch das gesellschaftliche Immunsystem der postmodernen Gleichgültigkeit überwunden und angesteckt zu haben.
Wenn wir heute innerkirchlich an einer 190-monatigen jona-eischen Zeitwende stehen, dürfte der Leibchristi nur heilen, wenn dieser im Bauch des Ungeheuers, das ihn verschluckt hat, wie Jona zugrunde geht, «bis an die Wurzel der Berge» (Jona 2,7). Was die Kirche auf ihrem Grund die kommenden sechzehn Jahren beschäftigen sollte, fasse ich in drei Thesen:
Wahrheit
Das Wahrheitsverständnis muss naturwissenschaftlicher werden. Einsteins Relativitätstheorie wurde in unzähligen Experimenten verifiziert und verdient das Prädikat wahr zu sein – dies obwohl die Theorie auf dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs ihre Vorhersagekraft einbüsst. Mit Einstein wissen wir um die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit. Wir werden nie alle Sterne zählen können, nie das ganze Universum durchmessen. Absolute Erkenntnis bleibt uns entzogen. Ein naturwissenschaftliches Verständnis von Wahrheit ist bescheiden, weil es den eigenen Ereignishorizont, über den hinaus (noch) nichts gesagt werden kann, kennt.
Ein jona-eisches Verständnis von Wahrheit wird sich diese Bescheidenheit aneignen. Eine Wahrheit der Bescheidenheit ist eine Wahrheit, die Bescheid weiss: um ihre Festigkeit des Seins und ihre Geringheit des Nichts. Sie ist Wahrheit in sich stets verwebender Bescheidenheit. Eine Wahrheit, die weiss, dass sie nie zu Ende gewoben ist – eine universale Verflechtung aus Mensch, Zeit und Raum, in der Wahrheit nichts von oben Kommendes, sondern teo-plektisch (πλεκτός – Verstrickung, Verwebung), horizontale Verwobenheit ist.
Liturgie
Wenn sich unser Verständnis der Wahrheit ändert, wird sich auch verändern, wie wir Liturgie feiern. Der Astrophysiker Martin Rees sagte in einem Interview in der Zeit, dass er die griechisch-orthodoxe Liturgie schätze, weil er da kein Wort verstehe: «Wenn die Liturgie auf Englisch ist, denke ich: wie können die all diesen Nonsens glauben?»1
Wir haben in der Liturgie das Geheimnis verwortet. Daraus geworden ist Nonsens, oder in den Worten von Martin Heidegger: erzwungenes Geklapper von Begriffen und Worthülsen.2 Nach Heidegger liegt dem Philosophieren als begreifendes Fragen eine wesenhafte Ergriffenheit zugrunde. Diese Grundstimmung der Ergriffenheit sollte die jona-eische Liturgie prägen, die mit Worten ringt, ergreift, ohne sich an der Sprache zu vergreifen; wo die Gläubigen stets im Begriff sind, etwas zu begreifen.
Christsein
Wenn wir Liturgie anders feiern, wird sich auch unser Christsein in der Welt wandeln. Wir werden uns von unseren ideologisierten Minenfeldern befreien und sie durch platonische und cartesianische Haltungen des Daseins ersetzen: durch Staunen und Zweifeln. Wir werden nicht mehr die Gesellschaft mit überhöhten Meinungen polarisieren, sondern die Kirche wird Orte schaffen, an denen die grossen Gegensätze, an denen die Gesellschaft zu zerreissen droht, ausgehalten und in einem freundschaftlichen Miteinander von Wahrheiten überwunden werden können.
Auf die Weise wird die Kirche jona-eisch ihrer Berufung folgen und sich allerheilig den Widrigkeiten des Zeitgeschehens aussetzen. «Rettung ist bei Gott» (Jona 2,10).
René Schaberger