Gegen Missbräuche - auf hohem Niveau

Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Eine notwendige Konfrontation,

Bischof Geoffrey Robinson, Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Eine notwendige Konfrontation, Public-Forum Verlagsgesellschaft, D-61410 Oberursel, 2010, 318 S., broschiert.

Die bekannten sexuellen Missbräuche sind Anlass zu diesem Buch. Es werden keine wohlfeilen Ratschläge angeboten, wie man das Übel minimieren kann, weitere Zusammenhänge stehen im Vordergrund. Der Zölibat, als «einer von vielen Faktoren», wird kurz erwähnt, darüber hinaus geht es um die ganze Struktur der Kirche und der darin obwaltenden Mentalität.

Bischof Geoffrey Robinson kennt sich in der Materie aus.1 Als besonders eklatante Beispiele nimmt er den Skandal des Kardinal-Erzbischofs von Wien Hans Hermann Groër (1919–2003) und des Gründers der Legionäre Christi Marcial Maciel Degollado (1920–2008), die von Rom über Jahrzehnte aufschiebend behandelt wurden. Als Kind wurde Bischof Robinson selber missbraucht, zwar nicht aus Kreisen der Kirche oder Verwandschaft, und musste das traumatisierende Erlebnis während seiner Kommissionsarbeit mit therapeutischer Hilfe aufarbeiten.

Weil er seine Enttäuschung über Rom einmal öffentlich äusserte, wurde er umgehend dort, auch beim Papst persönlich, denunziert und mit beschämenden Methoden drangsaliert. Der Anfeindungen überdrüssig, resignierte er als Weihbischof mit erst 67 Jahren, um das vorliegende umfassende Buch zu schreiben. Es geht ihm darum, mitzuhelfen, dass die Kirche an Haupt und Gliedern umdenkt, gemäss dem alten Ruf «metanoeite» («kehrt um, wandelt euch»).

Er ortet drei Hauptfaktoren für die Missbräuche: ungesunde psychische Verfassung; ungesunde Vorstellungen von Macht und Sexualität; ungesunde Umgebung und Gemeinschaft. Der erste Faktor, im Individuum gegründet, muss sorgfältig ergründet werden. Der zweite bezieht sich auf die Kirche ganz allgemein, nicht nur auf den Täter, der seine Machtstellung als Priester ausnützt oder seine Sexualität nicht zügeln kann: Die Kirche selbst ist eine Machtstruktur, pyramidal gegliedert, ohne Machtkontrolle. In ihr hat Sexualität nicht immer eine adäquate Beurteilung gefunden. Schliesslich ist auf die jeweilige Umgebung zu achten, in der Macht und Sexualität ausgeübt werden, was im Laufe der Geschichte immer wieder anders war und sich weiter ändern wird.

Das erste Drittel des Buches ist einer ruhigen Grundlegung gewidmet. Der Autor stellt ein paar Grundüberzeugungen vor: zwei Quellen, die Gott entspringen – die Bibel und die Welt in und um uns, die wir uns mit dem Mittel der Erkenntnis aneignen. Die Kirche ist keine Quelle der Offenbarung, wohl aber dazu da, diese Offenbarung weiterzutragen, auszudeuten. Gestalt und Geschichte Jesu Christi sind entscheidend. Robinson drängt darauf, das Wesentliche dessen zu überliefern, was die Identität der Kirche ausmacht und Sekundäres auf sich beruhen zu lassen. So äussert er sich zu einem der beiden «Frömmigkeits-Dogmen» (Unbefleckte Empfängnis und Himmelfahrt Mariae), die ohne Not definiert wurden und uns nur Zwist mit den Protestanten und den Orthodoxen eingetragen haben. Noch strenger geht er mit den Dogmen von 1870 ins Gericht: Wie kann man eine Unfehlbarkeit definieren, die diese Definition schon voraussetzt – nämlich für eine «Wahrheit» definitive Glaubenszustimmung verlangt, die sich selber definiert? Man versteht, dass man in Rom über solche Anfragen unruhig wird und den «Fall Robinson» schon der Glaubenskongregation überwiesen hat. Aber hat nicht schon Hans Küng das «Unfehlbar» mit einem Fragezeichen versehen und unter anderem dadurch seinen theologischen Lehrstuhl verloren?

Verhältnis Papst–Bischöfe ungeklärt

Das Buch widmet sich einer sorgfältigen Analyse von Macht- und Sexualitätsmissbrauch, die sich nicht in Allgemeinheiten ergehen, sondern entwickelt konkrete Vorstellungen über die guten, bisher nicht eingelösten Ansätze des II. Vatikanischen Konzils. Die Unfehlbarkeit des Papstes, 1870 auf ganz präzise seltene Fälle eingeschränkt, wird dauernd auf das «ordentliche Lehramt» und seine Verlautbarungen ausgeweitet. So erklärte Joseph Ratzinger, die Aussagen Johannes Pauls II. zur Unmöglichkeit des Frauenpriestertums seien unfehlbar, obwohl der Papst dies selber nicht behauptet hat. Das Verhältnis Papst–Bischöfe ist weiterhin ungeklärt. Unter «Kirche» versteht man weiterhin die hierarchische Kirche und nicht das ganze Volk Gottes, welches nicht in die Entscheidungsfindungen einbezogen werden müsse. Die Kirche ist im Gefängnis, das sie selbst errichtet hat, blockiert, indem sie alle zeitbedingten Aussagen aus zwei Jahrtausenden für unwandelbar erklärt – und damit einen erheblichen Druck ausübt. Missbrauch in allen Schattierungen, ausgeübt von «Söhnen und Töchtern der Kirche», wird zwar streng geahndet, dass eine Ursache davon in den Strukturen der Kirche selber liegt, will man nicht eingestehen.

Bischof Robinson schreibt keineswegs aggressiv. Er lädt zur Diskussion seiner Argumente ein. Man möchte nur wünschen, dass dieses Buch in alle wichtigen Sprachen übersetzt und von den Entscheidungsträgern gelesen und beherzigt wird.

 

1 Geoffrey Robinson, 1937 in Australien geboren, 1960 Priester, weitere Studien in Australien und Rom, Seelsorger, Dozent für Kirchenrecht, 1984–2004 Weihbischof von Sydney. Seit 1994 damit beauftragt, die Klagen gegen sexuelle Missbräuche mit einer Kommission aufzuarbeiten. Dabei muss er feststellen, dass die leitenden Gremien der Kirche, v. a. die Kurie in Rom, nicht angemessen reagierten.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).