Gedenken zum Nachdenken

Vor 150 Jahren wurden zwei Papstdogmen verkündet, die zur Abspaltung der christkatholischen Kirche führten und noch heute immer wieder Anlass zu Diskussionen geben.

Es musste ja so kommen. Im Moment der feierlichen Verkündigung der beiden Dogmen des päpstlichen Lehr- und des Jurisdiktionsprimates am 18. Juli 1870 spielte auch ein gewaltiges Unwetter seinen Part. Durfte man diese Koinzidenz symbolisch als Reaktion übernatürlicher Mächte interpretieren? Es ging um den verbissenen ideologischen Kampf von diametralen Weltanschauungen und -deutungen, traditionellen und neuen, und deren unbedingten Ansprüchen auf das Leben der Menschen. Richtigerweise spricht man in jener Epoche von Kulturkämpfen. Die kirchentreuen Schweizer Katholiken wussten davon ein vielstimmiges Lied zu singen (Staatskirchentum, Klosteraufhebungen, Jesuitenhatz, Freischarenzüge, Schulwesen).

Kampf der Weltanschauungen

Wichtige Lehrentscheidungen bargen zu allen Zeiten Konfliktpotenziale in sich und führten zu Streit und Spaltungen. Seit dem 19. Jahrhundert kam allerdings ein Element hinzu, dessen Tragweite man unterschätzt: die publizistische Öffentlichkeit. Die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen brauchten Diskussion und Propaganda, ermöglichten Aufklärung und Verführung. Eine agile Presse warf eine enorme Fülle von Informationen in ein neugieriges Publikum. Für die Schaltstellen in Staat und Kirche eröffneten sich beeindruckende Propagandamöglichkeiten, aber mit dem Risiko, scharfe Kritik und Blossstellung gewärtigen zu müssen. Man konnte Druck aufbauen und Einfluss nehmen, aber auch getrieben werden. Über allem stand das Pathos des Wahrheitsbesitzes: Wo ist die Quelle der Wahrheit, wer hat die Wahrheit, wer darf die Ordnungen der Welt(en) bestimmen?

Die Dynamik des für die Kirche neuen Öffentlichkeitsspieles lastete schwer auf dem Konzil. Schon seit Jahrzehnten tobte der Kampf der Weltanschauungen. Angst und Besorgnis wegen echter oder vermeintlicher Religions- und Kirchengefahr machten sich breit. Das aufklärende geschichtliche Bewusstsein vermochte sich nicht gebührend durchzusetzen, sondern litt unter Verzerrungen. Selektive Geschichtserinnerung war durchaus im Hintergrund präsent. Die Totengerippe von Episkopalismus1 und Gallikanismus2 schreckten die Konzilsväter noch auf, massiv beeinflusst von dem sich ungehemmt entfaltenden Ultramontanismus3, einer Massenbewegung von unten, die leicht manipulierbar blieb und wankelmütig werden konnte. Konnte er als Fundament dienen? Warum wurden andere gewichtige Erinnerungen und Erfahrungen übergangen?

Forciertes Szenario einer Bedrohung

Wer gegen die übergrosse Offensive der Moderne in die Defensive geriet, griff verständlicherweise nach jedem angebotenen Rettungsanker. Es wurde, theologisch und praktisch unsinnig, von Befürwortern und Gegnern einträchtig eine Drohkulisse hochgezogen, die auch dem ordentlichen Lehramt einen unfehlbaren Schimmer verlieh. Auffällig ist, wie auf beiden Seiten Laien aktiv waren. Den ultramontanen Laien wurde eine unerschütterliche Sicherheit gegen die allgemeine Kritik, Verunsicherung und Verführung vorgegaukelt. In der Wahrnehmung fortschrittsverliebter Politiker und Propagandisten liberaler Staats- und Gesellschaftsideen führte ein universaler päpstlicher Entscheid zu internationalem Aufruhr und staatsgefährdender Opposition.

Das für die Kirchenleitung wirklich entscheidende Dogma des Jurisdiktionsprimates segelte erstaunlicherweise im Windschatten des Lehrprimates. Mit diesem Dogma kam eine umstrittene Entwicklung der päpstlichen Kirchenlenkung zum einseitigen Abschluss. Die Väter des Konzils von Trient hätten einer solchen Vorlage nie zugestimmt, weil sie sich der letztlich unlösbaren Spannung zwischen Papsttum und Episkopat bewusst waren.

Vielleicht war am Konzil folgende historische Erfahrung (zu) bestimmend: Im Laufe der Geschichte war letztlich in jeder Krise das Papsttum gegen andere Kirchenakteure erfolgreich gewesen, weil es der Kirche den besseren Dienst versprach. Das in der Revolutionszeit an einen Tiefpunkt gelangte und durch Napoleon gedemütigte Papsttum konnte sich in unfassbar kurzer Zeit zum unerhörten Souveränitätserweis bei der Neuordnung der französischen Kirche aufschwingen. Der allmächtige Erste Konsul brauchte den ohnmächtigen Papst, der in absoluter Souveränität die bedeutendste Ortskirche mit einem Federstrich erledigte und mit einem zweiten wieder errichtete.4 Wie hoch der Preis für diesen Machterweis wirklich war, können wir nicht wissen, aber er war mit Opfern verbunden, der Opferung von Bekennern (wie schillernd deren Motivationen auch waren). Vielleicht sollte man dies in der Kirche auch als unentrinnbares Menetekel bei der Machtausübung wahrnehmen. Das starke Wachstum der Kirche und ihre Globalisierung erforderten eine stetige Vermehrung der Verwaltungseinheiten. Papst und Kurie sicherten sich durch die freie Ernennung der Bischöfe die zentrale Lenkung der Kirche.

Licht- und Schattenseiten der Dogmen

Die Papstdogmen des Ersten Vatikanischen Konzils sind Symbole einer der grössten Erfolgsgeschichten der lateinischen Kirche. Sie bezeichnen die Kanonisierung eines zur Konzilszeit bereits vorhandenen Kirchenbildes, das vom breiten Kirchenvolk und der Kirchenhierarchie gelebt wurde. Sie ermöglichten die Entfaltung unzähliger Initiativen in von oben geführter Einheit von Hierarchie und Volk. Das Wachstum der Kirche in den Missionen und in den amerikanischen Einwanderungsländern geschah unter der Führung des von den Ultramontanen höchst verehrten Papsttums. Innerkirchlich erfolgte nach kleinen Krisen durch Abspaltungen eine Festigung und Selbstvergewisserung, welche viele Gläubige ermutigte, sich für die Belange der Kirche zu engagieren. Der Einheits-, Sicherheits- und Opfergedanke in der vom medial überhöhten Papst geleiteten Kirche inspirierte viele Frauen und Männer zum Ordenseintritt, zum Priesteramt und zur Mitarbeit in unzähligen kirchlichen Werken. Die zentrale Lenkung der Kirche bewies ihre Vorteile im 20. Jahrhundert. Die unter totalitäre Regimes geratenen Ortskirchen konnten sich dank ihrer starken Bindung an den Papst vor der vollständigen Knebelung bewahren. Das ist auch heute noch aktuell.

Die Schattenseiten des Erfolgs dürfen allerdings nicht verschwiegen werden. Das Hauptproblem war nicht die Abspaltung eines doch erstaunlich geringen Teiles des Kirchenvolkes. In der Schweiz vollzog ein erheblicher Teil des an sich gegen die Unfehlbarkeit eingestellten Kirchenvolkes den Übertritt in die entstehende, laizistisch und freisinnig geprägte christkatholische Nationalkirche nicht. Langfristig entscheidender waren die undifferenzierten und für viele Bereiche wenig sensiblen Grundzüge des von oben verordneten Sehens und Denkens. Die Selbstimmunisierung gegenüber der Welt verunmöglichte das rechtzeitige Erkennen von Problembereichen in einer sich rasend schnell wandelnden Welt. Über mehrere Generationen wurden in der Kirche loyale, aber kritische Stimmen zugunsten einer vertieften Wahrnehmung der Wirklichkeit übergangen, verschwiegen, ja unterdrückt. Es wurde vergessen, dass die dialektische Dynamik der Aus- einandersetzung und des mühsamen Suchens ein der Kirche vom Heiligen Geist geschenktes Prinzip ist.

Gregor Jäggi

 

1 Episkopalismus ist die kirchenrechtliche Auffassung, nach der die Versammlung der Bischöfe über dem Papst steht.

2 Gallikanismus bezeichnet das Staatskirchentum in Frankreich (bis zur Französischen Revolution), das Sonderrechte gegenüber dem Papst hatte und episkopal ausgerichtet war.

3 Unter Ultramontanismus (jenseits der Berge, gemeint waren die Alpen) versteht man den romtreuen politischen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

4 Am 15. Juli 1801 unterzeichneten Napoleon und Pius VII. ein Konkordat, durch welches Frankreich die römisch-katholische Religion wieder anerkannte, die katholische Kirche aber faktisch zu einer staatlichen Einrichtung machte.

Lehrunfehlbarkeit: Wenn der Papst in höchster Autorität eine Glaubens- oder Sittenlehre als allgemein von der Kirche festzuhalten definiert, lehrt er unfehlbar. Eine solche Definition ist aus sich, nicht aus der Zustimmung der Kirche, unabänderlich.

Jurisdiktionsprimat: Der Papst ist höchster Gesetzgeber und Richter der Kirche und untersteht keiner anderen kirchlichen Instanz. Er hat die höchste Jurisdiktionsgewalt sowohl in Dingen des Glaubens und der Sitten wie auch in den Bereichen der Ordnung und der Leitung der über die ganze Welt zerstreuten Kirche inne.


Gregor Jäggi

P. Dr. phil. et lic. theol. Gregor Jäggi (Jg. 1954) studierte in Freiburg i. Ue., Paris und Rom (Archivschule des Vatikans, Gregoriana). Er arbeitete zunächst als Archivar des Bistums Basel. Nach dem Eintritt ins Kloster Einsiedeln unterrichtete er an der hauseigenen Theologischen Schule und bekleidete das Amt des Novizenmeisters. Aktuell ist er Stiftsarchivar und Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Chur