Fundamentalismus-Studie: beunruhigende Werte

Über den religiösen Fundamentalismus unter muslimischen Einwanderern gibt es kaum Daten, die einen Vergleich mit einheimischen Christen erlauben. In einer Studie, die nachfolgend vorgestellt wird, ist dies nun untersucht worden – die Ergebnisse sind bedenklich.

Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung befragte in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden 9000 Personen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund, dazu eine einheimische Vergleichsgruppe. In der Studie "Six Country Immigrant Integration Comparative Survey"1 wurde dann die Frage nach Ausmass und Auswirkungen des religiösen Fundamentalismus in Europa wissenschaftlich bearbeitet.

Der Studie wurde die anerkannte Fundamentalismus- Definition von Bob Altemeyer und Bruce Hunsberger zu Grunde gelegt. Religiöser Fundamentalismus wird dort anhand von drei Kernelementen definiert:

  • Die Gläubigen sollen zu den unabänderlichen, früher festgelegten Regeln zurückkehren.
  • Es existiert nur eine Interpretation der Regeln. Diese sind für alle Gläubigen bindend.
  • Religiöse Regeln haben Vorrang vor weltlichen Gesetzen. Migranten wie Einheimischen, die sich als Christen bezeichneten, legte man folgende Statements vor: "Christen [Muslime] sollten zu den Wurzeln des Christentums [Islam] zurückkehren."

"Es gibt nur eine Auslegung der Bibel [des Korans], und alle Christen [Muslime] müssen sich daran halten."

"Die Regeln der Bibel [des Korans] sind mir wichtiger als die Gesetze [des Landes, in dem die Studie durchgeführt wurde]."

Das Fazit: Fast 60 Prozent der Muslime sagen, dass alle Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten. 75 Prozent glauben an eine einzige richtige und für alle Muslime verbindliche Auslegung des Korans. 65 Prozent sehen religiöse Regeln als wichtiger an als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Allen drei Aussagen stimmen 44 Prozent zu. Aleviten dagegen (eine türkische Minderheitsrichtung) stimmen nur zu 15 Prozent zu.

Einheimische Christen stimmen zwischen 13 und 21 Prozent einzelnen Aussagen zu. Weniger als 4 Prozent bejahen alle drei Aussagen, womit also eine sehr kleine Zahl von Christen als "konsistente Fundamentalisten " anzusehen sind. Die Zustimmung zu diesen Aussagen ist unter Protestanten mit 4 Prozent etwas höher als bei Katholiken (3 Prozent). Am ausgeprägtesten ist sie mit 12 Prozent bei Gruppen wie den Siebenten-Tags-Adventisten, den Zeugen Jehovas und den Pfingstkirchlern. Aleviten sehen die Rolle der Religion damit ähnlich wie die einheimischen freikirchlichen Christen und unterscheiden sich stark von den sunnitischen Muslimen. Die fundamentalistische Haltung ist unter jungen Muslimen ausserdem ebenso verbreitet wie unter älteren. Dies im Gegensatz zu den Christen: Junge teilen diese Haltung seltener als ältere. Bildungsniveau, Arbeitsmarktstatus, Alter, Geschlecht und Familienstand spielen bei den Antworten eine gewisse Rolle. Wie die Autoren der Studie betonen, erklären diese Faktoren Variationen beim Fundamentalismus innerhalb der beiden religiösen Gruppen. Die Differenz zwischen Muslimen und Christen erklären und/oder verringern sie nicht.

Gegen Andersdenkende

Christliche Fundamentalisten sind ausgeprägt feindselig gegenüber anderen Gruppen. Dies hat die Forschung in den USA gezeigt. In Europa wurde dieser (mögliche) Zusammenhang ebenfalls untersucht anhand folgender Aussagen:

  • "Ich möchte keine Homosexuellen als Freunde haben."
  • "Juden kann man nicht trauen."
  • "Die Muslime wollen die westliche Kultur zerstören" [für Einheimische]; "Die westlichen Länder wollen den Islam zerstören" [für Personen mit türkischem/ marokkanischem Migrationshintergrund].

Einheimische Christen sind zu 9 Prozent offen antisemitisch und bejahen die Aussage, dass man Juden nicht trauen kann. In Deutschland liegt der Prozentsatz sogar bei 11 Prozent. 13 Prozent lehnen Homosexuelle als Freunde ab. Muslime werden zu 23 Prozent abgelehnt. Nur 1,6 Prozent stimmen allen drei Aussagen zu.

Die muslimische Referenzgruppe lehnt zu fast 60 Prozent Homosexuelle als Freunde ab. 45 Prozent trauen Juden nicht. (In Frankreich ist dieser Anteil in der letzten Zeit massiv gestiegen. In sechs Monaten gab es 500 gewalttätige Attacken gegen Juden, ein hoher Prozentsatz der Täter hat einen muslimischem Hintergrund). 45 Prozent der Befragten glauben, dass der Westen den Islam zerstören will. Das passt zu einer Studie des "Pew Research Center" von 2006, dass die Hälfte der Muslime in Frankreich, Deutschland und Grossbritannien glaubt, dass die Anschläge vom 11. September 2001 vom Westen und/oder von Juden geplant worden sind.

Fremdenfeindlichkeit ist generell unter sozial benachteiligten Gruppen weiter verbreitet als unter gut gestelten. Die multivariate Regressionsanalyse zeigt, dass dies hier auch der Fall ist. Doch selbst unter Berücksichtigung sozioökonomischer Variablen werden die Gruppenunterschiede kaum kleiner: Der Unterschied zwischen Personen mit niedrigem Bildungsniveau und solchen mit Universitätsabschluss ist immer noch etwa halb so gross wie der Unterschied zwischen Muslimen und einheimischen Christen. Der religiöse Fundamentalismus erweist sich als wichtigstes Zeichen für Fremdgruppenfeindlichkeit und erklärt die meisten Unterschiede im Bereich Fremdgruppenfeindlichkeit zwischen Muslimen und Christen. Das Gleiche gilt für die Unterschiede zwischen Sunniten und Aleviten. Religiöser Fundamentalismus erklärt in separaten Analysen der Christen und Muslime nicht nur die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, sondern auch, warum einige Christen und einige Muslime fremdenfeindlicher sind als andere.

Kritik an Folgerungen

Die vorliegenden Ergebnisse der Studie "Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit" des WBZ kommentierten die muslimische Islamwissenschaftlerin Dr. Rifa’at Lenzin, der jüdische Theologe Michel Bollag und der katholische Theologe Dr. Hanspeter Ernst. Die drei Fachpersonen arbeiten als Leitungsteam im Zürcher Lehrhaus zu Fragen des interreligiösen Dialogs. Sie äusserten sich vor allem zur Wertung der Muslime zur Koranauslegung und die Bedeutung der Religion in deren Leben.

Rifa’at Lenzin ist "empört" über die Studie. Zwar habe auch die Studie von Sandro Cattacin2 zu Menschenfeindlichkeit und Religion gezeigt, dass Menschen, die sich als sehr religiös bezeichnen, mehr antisemitische, rassistische, sexistische, homophobe und xenophobe Überzeugungen aufweisen als andere. Trotzdem lehnt sie die Form der Fragestellung der WBZ-Studie ab. Michel Bollag hinterfragt die Definition des Fundamentalismus. "Die meisten Menschen, die in Europa leben, haben unabhängig vom Bildungsstand nur geringe Kenntnisse über Religionen – dies gilt für ihre eigene Herkunftsreligion wie auch für andere Religionen", betont der Theologe. Wisse man aber wenig, neige man dazu, diese Standpunkte nicht zu hinterfragen, sondern zu verteidigen.

Die Frage, ob der/die Befragte "die religiösen Regeln vorrangig über die weltlichen stelle" – über 60 Prozent Muslime stimmten ihr zu –, wird besonders kritisiert. Lenzin ist davon überzeugt, dass die Antworten anders ausgefallen wären, wenn die Frage gelautet hätte: "Wollen Sie, dass der Staat in Europa die Scharia umsetzt?" Sie glaubt, dass dann nur eine Minderheit der Muslime zugestimmt hätte. Sie betont ausserdem, dass die Veröffentlichung der Studie Ende 2014 auf dem Hintergrund des Krieges im Irak und in Syrien eine "Katastrophe" sei und Vorurteile stärke. Bollag betont weiter, auch orthodoxe Juden würden solche Aussagen bejahen – und der Satz, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, stehe in der Apostelgeschichte, sagt Ernst.

Alle drei erklären die starke Zustimmung der Muslime zu den von der Studie als fundamentalistisch definierten Aussagen als Abwehr: Die Migranten verteidigten sich und ihre Überzeugungen gegen die Mehrheitsgesellschaft aus einer Position der Schwäche heraus. (Reinhold Bernhardt, Professor für Systematische Theologie an der Universität Basel und Autor von Publikationen zu Fundamentalismus, sieht im Fundamentalismus ebenfalls "eine Reaktion auf Verunsicherung", die "zur Rückbesinnung auf religiöse Wurzeln" führe.)

Wie weiter?

Die Ergebnisse der Studie, so Lenzin, zeigten aber in jedem Fall, wie wichtig eine Ausbildung für Imame in den europäischen Ländern sei. Hier fehle es an geschulten muslimischen Theologen. Gerade bei den jüngeren muslimischen Migranten gebe es grosse Wissenslücken bei der eigenen Religion. Dies könne zu radikalen Standpunkten und zu einer Ideologisierung führen. Die Wissenschaftlerin nimmt die Studie also auch ernst. Dies sicher mit gutem Grund: Spätestens seit den Anschlägen in Paris im Januar können solche Ergebnisse nicht vom Tisch gewischt werden: Die Täter dort waren – zum wiederholten Male – französische Muslime mit Migrationshintergrund. Die Ablehnung westlicher Werte (für die es im Gegensatz zu Antisemitismus, Homophobie oder Islamophobie keinen wissenschaftlichen Ausdruck gibt) kann ein Nährboden für Radikalisierung und Gewalt sein. Von vielen Seiten wird daher (neben mehr Engagement für die innere Sicherheit) ein Religionsunterricht eines "europäischen Islam" an staatlichen Schulen gefordert und ein aktives Gegensteuern in den Moscheen gegen einen radikalen Islam. Institutionen wie das Zürcher Lehrhaus oder das Haus der Religionen in Bern werden noch wichtiger werden!

Aufmerksam bei radikalen Islamisten

Doch die Autoren der Studie betonen auch, dass Muslime in Europa rein zahlenmässig eine Minderheit sind. Es gibt etwa gleich viele christliche wie muslimische Fundamentalisten in Westeuropa, Christen stellen immer noch die Mehrheit der Homophoben und Antisemiten. Ob das ein Grund zur Beruhigung ist? Nach der neuesten Studie der Bertelsmann- Stiftung (publiziert vor den Anschlägen)3 sehen immerhin 50 Prozent der Deutschen den Islam als Bedrohung. Und in Demonstrationen wird diese Meinung unters Volk gebracht. Die Spannungen in der Gesellschaft steigen. Hier sind auch die Kirchen gefragt; sie müssen gegen fundamentalistische Werte in ihren eigenen Reihen vorgehen und ein respektvolles Miteinander einfordern. 

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Definitionen des Fundamentalismus

Der Begriff "Fundamentalismus" bezeichnet das Beharren auf festen politischen und v. a. religiösen Grundsätzen, in der Regel auf der Basis einer buchstäblichen Interpretation göttlicher Überlieferungen (z. B. Bibel, Koran). Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den Vereinigten Staaten von Amerika starke protestantische Bewegungen, die die Heilige Schrift unmittelbar als Gottes Wort ansehen (z. T. heute noch von politischer Bedeutung). Der islamische Fundamentalismus fordert die wörtliche Befolgung der Vorschriften des Korans, der jüdische Fundamentalismus die der Tora. Fundamentalistisch verstandene Religionen und daraus entspringende soziale Bewegungen betrachten ihre Überzeugungen und Vorstellungen als umfassende, absolute Lösung für alle (politischen, wirtschaftlichen und sozialen) Lebensfragen. Der Fundamentalismus birgt somit immer die Gefahr eines religiösen oder politischen Fanatismus in sich.

(Klaus Schubert / Martina Klein: Das Politiklexikon. Bonn 52011.)

 

Fundamentalismus kann als teilweise oder ganze Ablehnung der Moderne mit ihrer Globalisierung und Kommerzialisierung wichtiger Lebensbereiche, ihrem Werterelativismus, Individualismus und Rationalismus verstanden werden. Er versucht die Infragestellung durch die Moderne rückgängig zu machen und ist damit selbst ein Phänomen der Moderne. Kritik am Fundamentalismus tritt zuerst im Zeitalter der Aufklärung auf.

(Thomas Meyer: Fundamentalismus. Eine Einführung. Wiesbaden 2009; Gottfried Küenzlen: Artikelabschnitt Fundamentalismus II, in: RGG4 Bd. 3, 415).

 

 

1 Studie: Six Country Immigrant Integration Comparative Survey WZB: http://www.wzb.eu/de/forschung/migration-und-diversitaet/migration-und-integration/projekte Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit http://www.wzb.eu/sites/default/files/u252/s21-25_koopmans.pdf

2 Sandro Cattacin / Brigitta Gerber / Massimo Sardi / Robert Wegener: Monitoring misanthropy and rightwing extremist attitudes in Switzerland. An explorative study. Genf 2006.

3 Studie Bertelsmannstiftung: https://www.bertelsmannstiftung.de/de/presse-startpunkt/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/muslime-in-deutschlandmit-staat-und-gesellschafteng-verbunden/

Christiane Faschon

Christiane Faschon

Christiane Faschon ist dipl. Religionspädagogin, Fachjournalistin (BR) und Dozentin.