Die politische Kirche

"Gaudium et spes" und die politische Emanzipation der Gläubigen

Das Verhältnis von Kirche und Politik gehört zu den regelmässig wiederkehrenden Themen des innerkirchlichen oder gesellschaftlichen Diskurses. Unter geschichtlich wechselnden Schlagworten werden Distanz und Nähe der Kirche zu politischen Systemen sowie der Grad des politischen Engagements der Kirche erörtert. Jüngst hat ein im "Schweizer Monat" erschienener Essay des Generalvikars der Diözese Chur, Martin Grichting, diese Debatte wieder angeregt.1

Eine wichtige Positionsbestimmung in Bezug auf Kirche und Politik, Kirche und "Welt von heute" nahm das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (GS) vor. Dieses Jahr erinnert sich die katholische Kirche an die feierliche Verkündigung dieser Konstitution vor fünfzig Jahren, am 7. Dezember 1965.

1. Die Leitideen von "Gaudium et spes" Kirche zwischen Weltverbundenheit und Respektierung der menschlichen und gesellschaftlichen Autonomie

GS gibt eine klare, wenngleich nicht eindimensionale Antwort auf diese Fragen, die sich zugespitzt wie folgt zusammenfassen lässt:

– Grundsätzlich ist die Kirche für den ganzen Menschen da, nicht nur für die religiöse Dimension im Menschen. Und weil der Mensch immer ein soziales Wesen ist, ist die Kirche nebst dem Menschen auch für die Gesellschaft da.

– Das heisst aber nun nicht, dass die Kirche als Institution permanent in die Weltgestaltung der Menschen bzw. der Gesellschaften hineinregieren will. Die Kirche weiss um die schöpfungstheologische Gabe der Freiheit des Menschen und seine ihm zukommende Aufgabe der Weltgestaltung. Die Kirche weiss auch um ihre eigenen Grenzen der Erkenntnis und des Wissens. Deshalb spricht GS von der "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" (Nr. 36). Die Kirche wird bei der Weltgestaltung in erster Linie durch ihre Gläubigen, durch Christen, die ihren Beruf im christlichen Geist ausüben, vertreten. Das kirchliche Lehramt beschränkt sich auf diesem Gebiet, wie die moderne kirchliche Soziallehre zeigt, überwiegend auf Sozialprinzipien, deren Anwendung insbesondere den Christen in Politik und Wirtschaft obliegt. Dabei kann es auch legitimerweise zu unterschiedlichen Positionen und Parteibildungen zwischen den Christen kommen. Schauen wir dazu einige Textpassagen genauer an:

1. Grundsatz: Die Kirche ist für den ganzen Menschen und die Gesellschaft da.

"Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände (…). Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden" (GS 1).2

2. Grundsatz: Die Kirche anerkennt die "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten".

Die kirchliche Sorge für den Menschen in seiner Ganzheit und für die Gesellschaft darf nicht zu einer Bevormundung des Menschen führen. Der Abschnitt über die "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten " gehört meines Erachtens zu den wichtigsten Aussagen von GS.

Damit wird die theoretische Grundlage geschaffen für die Trennung von gesellschaftlicher und religiöser Sphäre und, was die gesellschaftliche Sphäre betrifft, für die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Menschen gegenüber religiösen Amtsträgern. Diese Autonomie wird schöpfungstheologisch begründet und gilt allgemein; sie gilt aber insbesondere für die katholische Kirche und ihre Mitglieder. Damit setzt dieses Dokument den kirchlichen Amtsträgern bzw. dem Lehramt Grenzen ihres Zuständigkeitsbereichs und unterstützt die politische Emanzipation der Katholikinnen und Katholiken. "Nun scheinen viele unserer Zeitgenossen zu befürchten, dass durch eine engere Verbindung des menschlichen Schaffens mit der Religion die Autonomie des Menschen, der Gesellschaften und der Wissenschaften bedroht werde. Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muss, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muss" (GS 36).3

3. Grundsatz: Die Kirche identifiziert sich nicht mit einem bestimmten politischen oder wirtschaftlichen System.

Es ist daher nur folgerichtig (und wohl auch politisch klug, da die Kirche in verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systemen lebt und, was totalitäre Systeme angeht, in diesen auch überleben muss), dass sich die Kirche für kein politisches oder wirtschaftliches System ausspricht – zumindest explizit. "Da sie weiterhin kraft ihrer Sendung und Natur an keine besondere Form menschlicher Kultur und an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist, kann die Kirche kraft dieser ihrer Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden" (GS 42).4

Dennoch möchte die Kirche "Wohlstand und Wohlergehen" des Menschen und der Gesellschaft fördern. Die Trennung der gesellschaftlichen und religiösen Sphären ist bei GS keine hermetische. Es sind ja die gleichen Menschen, die sich in beiden Sphären bewegen und die christlichen Ideen der Personwürde, der menschlichen Gemeinschaft und der Sinnhaftigkeit menschlichen Tätigseins von der religiösen in die gesellschaftliche Sphäre mitnehmen. GS drückt es so aus:

"Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: Das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fliessen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein" (GS 42).5

4. Grundsatz: Die Kirche schafft mit den Sozialprinzipien einen Orientierungsrahmen für das politische und wirtschaftliche Handeln.

Die Hilfestellungen, die die Kirche für den Aufbau und die Festigung der menschlichen Gemeinschaft gibt, erfolgen in der Regel in Form von Prinzipien. Anders als Ge- und Verbote sind Prinzipien Orientierungsgrössen, die einer Gesellschaft einen relativ grossen Spielraum für ihre Einlösung belassen. Sie tragen der Dynamik bzw. den Entwicklungsmöglichkeiten einer Gesellschaft Rechnung und sind dennoch wieder so begrenzend, dass sie das gesellschaftliche Handeln der Beliebigkeit entziehen. Die kirchliche Soziallehre kennt drei klassische Sozialprinzipien: das Personalitäts-, das Subsidiaritätsund das Solidaritätsprinzip.

Insbesondere das Personalitätsprinzip, das zugleich auch das Fundament der beiden anderen Prinzipien ist, wird in GS zunächst theologisch und anthropologisch herausgearbeitet: So beschäftigt sich das erste Kapitel im 1. Hauptteil mit der Würde der menschlichen Person. Diese grundsätzlichen Überlegungen müssen nun auch in die politische und wirtschaftliche Ordnung des Staates einfliessen: "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft" (GS 63).6

5. Grundsatz: Es sind in erster Linie die Laien, die den Geist des Evangeliums in die Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft einbringen sollen.

Wir halten fest: Die Kirche als Institution will sich nach GS grundsätzlich nicht in politische oder wirtschaftliche System- oder Ordnungsfragen und schon gar nicht in Detail- bzw. technische Fragen einmischen. Das Lehramt beschränkt sich in gesellschaftlichen Angelegenheiten weitgehend auf die Sozialprinzipien. Ansprechpartner für eine dem Geist des Evangeliums gemässe Transformation der einzelnen Kulturbereiche der Gesellschaft sind die Laien. Sie tragen Verantwortung für eine nach christlichen Grundsätzen gestaltete Gesellschaft. "Die Laien sind eigentlich, wenn auch nicht ausschliesslich, zuständig für die weltlichen Aufgaben und Tätigkeiten. Wenn sie also (…) als Bürger dieser Welt handeln, so sollen sie nicht nur die jedem einzelnen Bereich eigenen Gesetze beobachten, sondern sich zugleich um gutes fachliches Wissen und Können in den einzelnen Sachgebieten bemühen (…). In Anerkennung der Forderungen des Glaubens und in seiner Kraft sollen sie, wo es geboten ist, mit Entschlossenheit Neues planen und ausführen. Aufgabe ihres dazu von vornherein richtig geschulten Gewissens ist es, das Gebot Gottes im Leben der profanen Gesellschaft zur Geltung zu bringen" (GS 43).7

6. Grundsatz: Bei der Implementierung christlicher Überzeugungen in die Gesellschaft gibt es legitimerweise verschiedene Lösungsansätze.

Im Hinblick auf die politische Emanzipation der Gläubigen ist eine weitere Aussage der Pastoralkonstitution von grosser Bedeutung: GS sieht es als legitim an, dass die Christen bei der gesellschaftlichen Umsetzung des Evangeliums zu verschiedenen Auffassungen über den richtigen Realisierungsweg kommen. Es gibt also in vielen Fällen nicht die christliche Antwort auf gesellschaftspolitische Fragestellungen. Christen können deshalb auch verschiedenen politischen Parteien angehören.

"Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen [den Laien, d. V.] eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem an deren Urteil kommen. Wenn dann die beiderseitigen Lösungen, auch gegen den Willen der Parteien, von vielen andern sehr leicht als eindeutige Folgerung aus der Botschaft des Evangeliums betrachtet werden, so müsste doch klar bleiben, dass in solchen Fällen niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschliesslich für sich und seine eigene Meinung in Anspruch zu nehmen" (GS 43).8

2. Positive und defizitäre Aspekte in der Wirkungsgeschichte von GS

Welches Fazit lässt sich fünfzig Jahre nach Veröffentlichung der Pastoralkonstitution ziehen?

a) Positive Aspekte: Politische Emanzipation der Gläubigen und politische Zurückhaltung der kirchlichen Amtsträger

GS legt bezüglich des Verhältnisses von Religion bzw. Kirche und Politik ein liberales Konzept vor. Das Dokument tritt für die politische Mündigkeit der Menschen gegenüber religiösen Autoritäten ein. Dieser Emanzipationsgedanke beruht auf der Idee zweier unterscheidbarer, wenn auch nicht hermetisch abgetrennter Sphären, einer gesellschaftlichkulturellen und einer religiösen Sphäre. Der gesellschaftlich- kulturellen Sphäre billigt GS aufgrund der christlichen (insbesondere katholischen) Schöpfungstheologie "Eigenstand", eine "eigene Wahrheit" und eine "eigene Gutheit" zu. Ihre Eigengesetzlichkeiten kann sich der Mensch wissenschaftlich-technisch erschliessen. Die religiöse Sphäre spielt in die gesellschaftlich-kulturelle Sphäre insofern hinein, als zum einen der Mensch ein Bedürfnis hat, diese kulturellen Einzelphänomene und Techniken in einen Sinnzusammenhang zu stellen, und zum anderen die kulturellen Erzeugnisse des Menschen dem Wohl der menschlichen Person und der Gemeinschaft dienen sollen. Religion bietet dem Menschen Ressourcen für die Sinnstiftung und die moralische Gestaltung des Zusammenlebens an.

Die Christen werden durch GS ermuntert, Verantwortung für die Weltgestaltung zu übernehmen. Eine sorgfältige wissenschaftliche oder Berufsausbildung und die Pflege eines geistigen, sittlichen, spirituellen und religiösen Lebens werden als Voraussetzungen genannt.

Folgerichtig müssen kirchliche (Lehr-)Amtsträger in der gesellschaftlichen Sphäre zurückhaltend agieren. Lehramtliche Aussagen sollten sich auf die "basics" beschränken, auf die Wahrung der Personwürde, auf die Erhaltung einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung und auf diejenigen Elemente unserer Kultur des Zusammenlebens, die zur Sinnstiftung beitragen und ausserhalb der Kirche nicht beachtet werden.9 Die vielen anderen gesellschaftlichen Fragen sind damit in der Kirche nicht heimatlos geworden; sie werden von den Gläubigen in ihrem Weltdienst und gemäss ihrer politischen Verantwortung aufgegriffen.

Damit geht auch die Einsicht einher, dass kirchliche Amtsträger in einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht sachkundiger zu politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Problemen Stellung nehmen können als andere Bevölkerungskreise. Eine politische Zurückhaltung kirchlicher Amtsträger bietet sich auch aus einem anderen Grund an: GS hebt in Nr. 43 hervor, dass nicht selten als spezifisch christlich bezeichnete Positionen in Wahrheit auch nur parteiisch sind und von anderen Christen bei gleicher Gewissenhaftigkeit auch anders bewertet werden können. Dies gilt auch für politische Meinungen kirchlicher Amtsträger. Auch von daher ist eine Selbstbeschränkung dieser Personen in politischen Angelegenheiten klug, ist es doch ein Zeichen des Respekts gegenüber Demokratie und Pluralismus. Deshalb sollten gerade katholische Amtsträger, die das Lehramt ausüben und daher in Glaubens- und Sittenfragen besonderes Gehör der Gläubigen erwarten, m. E. sorgfältig darauf achten und entsprechend kommunizieren, ob die von ihnen vertretene Position ihre Privatmeinung ist oder ob sie den Anspruch erheben, die kirchliche Position zu vertreten.

Die Bedeutung von GS liegt in der Neujustierung der politischen Kompetenzverteilung. Die Kirche ist nicht nur politisch, wenn Papst und Bischöfe sich politisch äussern; die Kirche ist auch und ebenso politisch, wenn Christinnen und Christen aus ihrem Glauben heraus sich im demokratischen Diskurs- und Entscheidungsverfahren für das Wohl der Menschen und der Gesellschaft einsetzen.

b) Defizite in der Umsetzung und Rollenzuteilung

Diese bezüglich der "Weltseite" moderne, liberale Konzeption stösst jedoch bei der Umsetzung und der Rollenzuteilung auf Probleme.

– Bestrittene Rollenzuteilung: Eine passive Rolle der Laien in innerkirchlichen Angelegenheiten?

Vereinfacht ausgedrückt ist nach GS den Laien die Verantwortung für die christliche Gestaltung der Welt und den Klerikern die Verantwortung für den "Innenraum" der Kirche anvertraut. Die seit dem Konzil nicht zur Ruhe gekommenen innerkirchlichen Kontroversen zeigen, dass die Akzeptanz dieser Rollenzuteilung brüchig ist.

Ohne hier auf dieses Thema und seine ekklesiologische und sakramententheologische Dimension eingehen zu können, scheint mir zum Verständnis dieser mangelnden Akzeptanz ein Hinweis auf eine schon ältere sozioökonomische Analyse hilfreich zu sein: Der Ordoliberale Walter Eucken entwickelte daraus seine These von der «Interdependenz der Ordnungen», wonach Bürger, die in einer Demokratie leben, sich langfristig nicht mit einer Planwirtschaft zufrieden geben werden, weil sie auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten selbst bestimmen wollen. Ebenso verhalte es sich mit Bürgern, die in einem politisch autoritären System leben, aber im Wirtschaftsverkehr gewohnt sind, marktwirtschaftlich zu entscheiden. Sie werden sich diese Freiheit auch im Politischen erkämpfen.

Übertragen wir die anthropologischen Überlegungen bezüglich Staats- und Wirtschaftsordnung auf die (vereinfacht dargestellte) Konzeption "Weltgestaltung für die Laien, Kirchengestaltung für die Kleriker", so lässt sich schon fragen, ob dieses Zwei- Sphären-Modell nicht die Psyche der in der Welt und der Kirche agierenden Menschen übersieht. Christen, die sorgfältig und erfolgreich einen Beitrag zur Weltgestaltung leisten, verfügen in der Regel über ein Wissen und ein Mass an Selbstbewusstsein, die nicht gerade gute Voraussetzungen sind, sich im kirchlichen Raum mit der Rolle des passiven Rezipienten zu bescheiden.

Und umgekehrt lockt die kirchlichen Amtsträger der Raum des Politischen, wo sie sich angesichts des kirchlichen Bedeutungsschwundes höhere Aufmerksamkeit (und vielleicht auch Anerkennung) erhoffen. Von daher lässt sich fragen, ob die vom Konzil gewählte Abgrenzung der Sphären mit der klaren Rollen- und Verantwortlichkeitszuteilung von Laien und Klerikern langfristig tragfähig sein wird.

– Unverstandene Rolle: Der Laie und die Aufgabe der Weltgestaltung

Der von GS initiierte Schwung hinsichtlich des Laienapostolats und der Weltgestaltungsaufgabe der Christen ist fünfzig Jahre später merklich abgeebbt. Irgendwie scheint die Kirche, scheinen die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Interesse an der Welt verloren zu haben. Lieber beschäftigt man sich mit internen Problemen.

Und die Christen in Wirtschaft und Politik, in die GS grosse Hoffnungen setzte: Wissen sie überhaupt (noch) von der ihnen zugedachten Aufgabe der christlichen Weltgestaltung? Welchen Stellenwert schenkt die Kirche, die Gemeindepastoral, die kirchliche Erwachsenenbildung diesem Thema? Welchen Impuls kann die Kirche im Hinblick auf die Ethos-Bildung der berufstätigen Menschen vermitteln? GS verweist u. a. auf das Leitbild der "Nachfolge Christi" (GS 43). Es geht dabei um eine den individuellen Möglichkeiten und der historisch-kulturellen Situation entsprechende Interpretation und persönliche Aneignung wesentlicher Elemente der Geisteshaltung Jesu.10

– Übersehene Rolle: Kirche als "Governmental" und als "Non Governmental Organisation"

Ein weiterer, zeitbedingter Schwachpunkt der Zwei-Sphären-Konzeption der Pastoralkonstitution ist das Ausblenden der intermediären politischen Ebene. GS bleibt auch im fünften Kapitel im Abschnitt über den "Aufbau der internationalen Gemeinschaft" überwiegend in der klassischen Rollenverteilung mit staatlichen Akteuren, ergänzt durch nicht näher spezifizierte "Institutionen" (vielleicht Unterorganisationen der UNO), die der internationalen Zusammenarbeit dienen. Die heute in der internationalen Politik durchaus bedeutsamen NGOs stehen damals noch nicht auf dem "Radarschirm" des kirchlichen Dokuments. Auch eine Reflexion über die Weltgestaltungsaufgabe des Heiligen Stuhls oder des Staates Vatikan als Völkerrechtssubjekte findet nicht statt, genauso wenig wie die der karitativen kirchlichen Organisationen, die damals schon eine Rolle ausübten, die wir heute als NGO bezeichnen würden.

Trotz dieser Schwächen steht GS für den weltzugewandten Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Pastoralinstruktion bietet im Hinblick darauf, wie sich eine Religionsgemeinschaft in Beziehung setzt mit der Welt, auch fünfzig Jahre später eine moderne, liberale Konzeption an. Gerade in diesen Tagen, wo aufgrund verschiedener terroristischer Ereignisse die Demokratiefähigkeit des Islam in Europa kontrovers diskutiert wird, kann sich die katholische Kirche mit diesem an die Moderne anschliessenden Dokument glücklich schätzen. 

 

 

1 Vgl. Martin Grichting: Nicht Mitte, nicht links, nicht rechts, in: Schweizer Monat, Dezember 2014, 41–43. Der Präsident des Synodalrates der römischkatholischen Körperschaft des Kantons Zürich, Benno Schüriger, verfasste darauf hin eine Replik: http://zh.kath.ch/blog/standpunkt/will-generalvikar-grichtingcaritas-und-fastenopferabschaffen/. Die Duplik von Martin Grichting ist nachzulesen unter http://www.bistum-chur.ch/aktuelles/die-kirche-undpapst-franziskus-sind-nichtklerikalistisch-von-drmartin-grichting-generalvikar-des-bistums-chur/. Der hier abgedruckte Aufsatz von Stephan Wirz ist auf der Basis eines im November letzten Jahres gehaltenen Vortrags vor dem Priester- und Laienrat des Bistums Chur in Einsiedeln entstanden und steht somit in keinem ursächlichen Zusammenhang mit besagter

2 Vgl. ausserdem GS 3 sowie die Sozialenzyklika "Mater et Magistra" (MM 2 und 3).

3 Vgl. dazu auch GS 41.

4 Vgl. auch GS 76.

5 Vgl. auch GS 40.

6 Vgl. auch GS 64 und MM 219.

7 Vgl. auch GS 43 und 76.

8 Vgl. auch GS 74 und 92.

9 Vgl. GS 40. 10 Zwei Elemente dieser "Conformitas" erachte ich hinsichtlich ihrer Bedeutung für ein vom christlichen Menschen- und Weltverständnis geprägtes Berufsleben eines Christen als wesentlich: das Leben im Horizont der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe und das Leben im Horizont der eschatologischen Erwartung. Ausführlicher dazu: Stephan Wirz: Erfolg und Moral in der Unternehmensführung. Eine ethische Orientierungshilfe im Umgang mit Managementtrends. Frankfurt a. M. 2007, 195–204.

Stephan Wirz

Stephan Wirz

Stephan Wirz, Prof. Dr. theol., leitet den Bereich «Wirtschaft und Arbeit» der Paulus-Akademie Zürich und ist Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.