Angelo Scola: Buone ragioni per una vita in comune. Religione, politica, economia. (Mondadori) Milano 2010, 96 S.
Scola, früher Patriarch von Venedig und jetziger Erzbischof von Mailand, ist einer der führenden Köpfe im hohen Klerus Italiens. Mit diesem Buch legt er eine Zeitdiagnose vor, die ausgehend von einer pluralistisch geprägten Gesellschaft nach dem guten Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger fragt. So verbindet er einen zentralen Bestand katholischer Soziallehre – die aristotelisch-thomistische Perspektive auf das gute Leben in menschlicher Gesellschaft – mit einer säkularen Gesellschaftstheorie, die das Faktum eines scheinbar irreversiblen Pluralismus ins Zentrum stellt. Der vor kurzem verstorbene amerikanische Philosoph John Rawls ist diesbezüglich der einflussreichste Denker und wird vom Autor auch zitiert. Naheliegenderweise ist Scola an der Stellung der Religion in der westlichen Gesellschaft interessiert. Und tatsächlich eröffnen sich für die Religionen Räume in dieser nicht mehr von säkularistischen Gewissheiten geprägten Gesellschaft, insbesondere dann, wenn die religiösen Bürger es schaffen, ihre Argumente in einer allen verständlichen, nicht mehr ausschliesslich auf die eigene Tradition bezogenen Sprache auszudrücken. Auch zur aktuellen, in Italien sehr viel spürbareren Wirtschaftskrise äussert sich Scola, wobei er sich eng an die Enzyklika «Caritas in veritate» hält. Ein theologisches Schlusskapitel, das die Lehrtätigkeit des Autors als Dozent für theologische Anthropologie verrät, schliesst das Buch ab. Während in Italien frustrierte Erwartungen und Abstiegsangst von verschiedenen politischen Gruppierungen ausgeschlachtet und angeheizt werden, verkörpert der Erzbischof von Mailand die Stimme der Kirche, die zu Mässigung und Vernunft aufruft. Es ist die Ratzinger-Linie, die hier zum Ausdruck kommt. Mittlerweile hat in der römischen Kurie ein neuer, weniger diplomatischer Ton Einzug gehalten.
