Liturgie und soziales Handeln in Afrika

Barbara Feichtinger: Liturgie und soziales Handeln. Afrikanische Praxis als Inspiration (= Praktische Theologie heute Bd. 93). Stuttgart 2008, 392 S.

Die zu besprechende liturgiewissenschaftliche Dissertation der Pastoralassistentin Barbara Feichtinger (Bistum St. Gallen) wurde bei den Professoren Klemens Richter, Albert Gerhards und Claude Ozankom in Bonn angefertigt. Sie geht zurück auf Erfahrungen in dem Slum-Viertel Korogocho (Nairobi, Kenia) und hebt den wechselseitigen Zusammenhang von Liturgie und sozialem Handeln ans Licht. In grösster Armut lebend, solidarisch mit den Ärmsten der Welt, gelang es etwa 30 Missionaren, Kleine Christliche Gemeinschaften mit jeweils 20 Erwachsenen und ihren Kindern zu gründen, die ein eigenes spirituelles Leben entwickelten und in der Gemeinde St. John Gebete und Feiern gestalten. Aus der Kraft der Liturgie und der biblischen Quellen erwuchsen soziale Projekte für Arbeitslose, Diebe, Alkoholiker und Aidskranke, für und mit Prostituierten, dazu der Beginn von Schule und Unterricht. «Die Mitglieder einer Christlichen Gemeinschaft besuchen die Kranken, segnen sie, feiern mit ihnen Gottesdienst und helfen ihnen, das alltägliche Leben zu bewältigen» (119).

Diakonie in der Liturgie

Nach methodischen Klärungen und einer allgemeinen Einleitung (17–32) befasst sich Teil I mit der «Wiedergewinnung der diakonischen Dimension in der Gemeindepraxis und speziell in der Liturgie» (33–104). Tatsächlich vernachlässigen einige Gemeinden diese wechselseitige befruchtende Interaktion zwischen Gemeindepraxis/Diakonie und Liturgie. Die Autorin stellt die relevanten Bezüge aus der Liturgiekonstitution heraus und referiert einschlägige Aussagen aus theologischen und liturgiewissenschaftlichen Lehren (Jürgen Holtmann, Benedikt Kranemann, Stanley Hauerwas, Bernd Wannenwetsch, Johannes Baptist Metz und Karl-Heinz Bieritz).

Blick auf die Praxis in Afrika

Teil II wirft einen «Blick auf die fremde Praxis», indem er die «Verbindung von Liturgie und Dia-konie in St. John, Nairobi» (105– 256) darstellt. Entsprechend einer kontextuellen Theologie zeichnet Abschnitt A (105–135) die soziokulturellen Hintergründe des Projektes, die den Leser/die Leserin den Atem anhalten lassen. Es fehlt praktisch kein soziales Problem, das auf der Welt existiert: Armut, Krankheit, Stras-senkinder, Prostitution, Alkohol, Drogen, Hehlerei. Doch den Kleinen Christlichen Gemeinden gelingt es, zumindest punktweise durch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit die Not zu lindern. Sehr spannend liest sich in Abschnitt B (138–237) die Analyse liturgischer Feiern. Ausgehend von der traditionellen katholischen Gottesdienststruktur werden indigene Elemente gestaltet und in die Feiern integriert. Der Sonntagsgottesdienst bleibt die Herzmitte des Gemeindelebens und das geistliche Kommunikationszentrum der Pfarrei. Sakramentliche Feiern, Morgengebete für die Mitarbeitenden und Wortgottesfeiern werden ergänzt durch autochthon verankerte Segensfeiern, lokal gewachsene Krankengottesdienste, ökumenische Friedensgebete mit Prozessionen und drei Ganznachtsfeiern. Impulsgeber sind der Pastoralrat und Ordenspriester P. Alex Zanotelli. Bereits ist ein mehrstufiger Katechumenat mit begleitenden Ritualen entwickelt worden. Die sonntägliche Eucharistie wird selbstverständlich in der Muttersprache Kiswaheli gehalten. Das Schuldbekenntnis thematisiert – abgesehen von den persönlichen subjektiven Sünden – auch «Umweltsünden», die vor Ort geschehen, und bei der Gabenbereitung begleiten Mädchen die Gabenprozession tänzerisch. Aktuell kranke Frauen und Männer werden im Kanon ausdrücklich erwähnt. Als spezifisch afrikanischer Ritus wird genannt, dass der Priester vor der Kommunion «mit Honig vermischte Milch» (145) trinkt und mehrmals Milch für die Ahnen auf den Boden giesst. Auf diese Weise werden die in Afrika ganz bedeutsamen Ahnen in die Feiergemeinde einbezogen. Die Gebete werden oft frei formuliert und hierbei die jeweilige Lebenssituation eingeblendet. Alle Gemeindeglieder erheben die Hände zur Orantenhaltung.

Die Osternachtliturgie arbeitet mit der Symbolik von Licht und Dunkel: Licht steht zuerst für das lebenswichtige Licht der Sonne bei Tag, dann für Jesus Christus, das Licht der Welt; das Dunkel konnotiert mit dem Bösen, der Gewalt, der Armut und mit schlechten Wohnsituationen. Die Allerheiligenlitanei berücksichtigt neben den Aposteln und bekannten Heiligen auch afrikanische Frauen und Männer. «Die Heiligen fungieren hier als eine Art Ahnen, als die Vorfahren im Glauben an Jesus Christus» (150). Die biblischen Lesungen sind keine unverständlichen Texte aus vergangenen Zeiten, sondern Botschaften Gottes an diese Gemeinde. Ihre Auslegung bezieht sich auf die gegenwärtige Situation. So sei aus der Predigt zum Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Prasser zitiert: «Wie damals in Israel ist es heute in Kenia. Es gibt wenige Reiche und viele Arme. Eine Minderheit der Menschen in Nairobi ist reich, während die Mehrheit in den Slums lebt. Selbst nach dem Tod bestehen die Unterschiede fort. Die Reichen kommen in die feinen Totenhallen in Langata, während sich die Armen nicht einmal eine ordentliche Beerdigung leisten können» (243). Im Anschluss an eine blutige Auseinandersetzung in Korogocho entstand folgendes Gabengebet: «Herr, wir sind es, deine Kinder, die wir heute vor dir stehen. Nimm uns alle an mit unseren Gaben, mit dem Gemüse für unsere Armen und Kranken. Nimm alle Kranken an. Und heute, Vater, nimm die Menschen an, die hier ermordet worden sind unter uns; der junge Mann, der verbrannt worden ist, die anderen, die ermordet, und die vielen, die verletzt worden sind. Nimm sie alle an, Vater. – Vater, reinige uns alle, reinige uns von dem vergossenen Blut, bis wir eine reine Opfergabe sein können vor dir. Darum bitten wir durch Jesus Christus, unseren Herrn. Amen» (242).

Impulse für den deutschsprachigen Raum

Teil III reflektiert die «Liturgie in ihrem Verhältnis zur Diakonie» und gibt «Inspirationen für die Liturgie im deutschsprachigen Raum» (257–340). In tiefschürfender Weise gelingt es der Autorin, liturgische Feiern mit dem konkreten Leben zu verschränken. Was entsteht, ist eine ausgesprochen lebendige Liturgietheologie, welche die Gemeinschaftsdimension betont und auf aktive Teilnahme aller, besonders der Benachteiligten und Marginalisierten, abhebt. Freilich ein gewisser Transfer auf unsere Verhältnisse ist nicht einfach zu bewerkstelligen. Behutsam analysiert die Verfasserin unseren differenten Kontext. Es muss unterschieden werden zwischen herkömmlichen Gottesdiensten, bei denen hier fast nur mehr ältere Menschen 60+ teilnehmen, und eigens vorbereiteten Gottesdiensten, in denen auch Familien, Kinder und Jugendliche erreicht werden. Frau Feichtinger entwirft eine Vielzahl bedenkenswerter Inkulturationen der europäischen Liturgie. Versöhnungsfeiern, Mahlgestalt, intergenerationelle Gottesdienste, Feiern mit Menschen mit und ohne Handicap, Krankenfeiern. Sie ist überzeugt, dass wir die Zeichenhaftigkeit der liturgischen Formen und Elemente noch nicht ausgeschöpft haben. Liturgie hat ein implizit diakonisches Poten-zial, das «quasi automatisch» (335) der Feier entspringen kann und sich im sozialen und politischen Engagement zeigt. Insgesamt hat diese ausgezeichnete Dissertation Liturgie und Leben näher zusammengeführt, Diakonie und Liturgie in ihrer Wechselwirkung artikuliert und «ein mitgestaltendes Sich-Einbringen in die liturgischen Feiern angeregt» (338). Herzlichen Dank dafür!

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.