Der vergessene Papst

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Vor fünfzig Jahren wurde der damalige Mailänder Erzbischof und Kardinal Giovanni Battista Montini am 21. Juni 1963 im fünften Wahlgang vom Kardinalskollegium zum Papst gewählt – als Wunschkandidat seines Vorgängers Papst Johannes XXIII. Dieses 50-Jahr- Jubiläum wird durch eine Buchveröffentlichung bereichert, die eine empfindliche Lücke schliesst: Jörg Ernesti: Paul VI. Der vergessene Papst. (Verlag Herder GmbH) Freiburg im Breisgau 2012, 374 S.

Karl Kardinal Lehmann macht gleich im Vorwort klar, dass man von Paul VI. zu Recht als dem «vergessenen Papst» sprechen kann, denn im Vergleich zu den übrigen Päpsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht Paul VI. im Hintergrund, und zwar zu Unrecht. Paul VI. wird fast nur auf die «Pillenenzyklika» von 1968 reduziert, was nicht nur betreffend «Humanae vitae» selbst eine unzulässige Verkürzung ist, sondern bezüglich des ganzen Pontifikats.

Der in Paderborn geborene und seit 2007 als Kirchengeschichtsprofessor in Brixen wirkende Jörg Ernesti darf mit dem spannend geschriebenen Buch in Anspruch nehmen, Paul VI. für den deutschsprachigen Raum aus der Versenkung geholt zu haben. Ein grosser Vorteil sind dabei die Kenntnisse der italienischen Sprache und Kultur, die sich Jörg Ernesti während vieler Studienjahre in Rom und in Brixen aneignen konnte. Das ist eine der guten Voraussetzungen, denen wir ein sehr differenziertes Buch über den «vergessenen Papst» verdanken. Einige nachfolgend herausgegriffene Themen aus dem Buch belegen dies.

Sorgfältige Vermittlung

Jörg Ernesti setzt sich zum Ziel, nicht einfach viel Material zu verarbeiten, wie dies in etlichen italienischen Büchern der Fall ist, die hagiografisch geprägt sind. Er pocht auf kritische Distanz und sachliche Neutralität, um damit eine gerechte Würdigung vornehmen zu können (vgl. dazu S. 23 f.) Dem widerspricht nicht, dass Ernesti Paul VI. selbst zu Wort kommen lässt. Er benennt die Forschungsdesiderata und greift nicht nur auf die zahlreichen italienischen Veröffentlichungen zurück, sondern auch auf anderssprachige Literatur, Fotografien und Filmmaterial, die er alle sorgfältig auswertet und überlegt würdigt.

40 Seiten sind der «Vita bis 1963» des 1897 in Concesio bei Brescia Geborenen gewidmet, die einen konzisen Einblick in die Herkunft Pauls VI. ermöglichen. Dieser wuchs in der katholisch geprägten norditalienischen Stadt Brescia auf, wo der Einsatz für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität selbstverständlich war, was sich auch im journalistischen Wirken seines Vaters zeigte. Die Mutter, welche die französische Literatur im Original las, eröffnete ihm den französischen Kulturkreis. Sie hatte, weil der junge G. B. Montini wegen Kränklichkeit die Schule nicht regelmässig besuchen konnte, durch den Hausunterricht besonderen Einfluss auf ihn. Einflussreich waren ausserdem Jesuiten, Oratorianer und Benediktiner.

Eine Kurienlaufbahn mit anschliessender Überraschung

Nach der Priesterweihe 1920 wurde Montini zum Weiterstudium nach Rom geschickt und unter dem Protektorat von Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri in die Päpstliche Diplomatenakademie aufgenommen. Er studierte an der Universität Gregoriana Kirchenrecht, Philosophie und Theologie. Daneben betätigte er sich in der Studentenseelsorge, wo er auch mit dem Faschismus konfrontiert wurde. 1925 trat er in die Dienste des vatikanischen Staatssekretariats ein, wo er eng mit Eugenio Pacelli, dem späteren Pius XII., zusammenarbeitete. Auf Montini ist die berühmt gewordene Formulierung Pius’ XII., «Nichts ist verloren mit dem Frieden – alles kann verloren sein mit dem Krieg» (S. 42), zurückzuführen. 1954 ernannte ihn Pius XII. unerwartet zum Erzbischof von Mailand, was als Abschiebung aus Rom aufgefasst wurde.

Diese grösste Diözese der Welt machte Montini überraschenderweise zu einem Zentrum moderner Grossstadtpastoral. Dieser «Abstecher» nach Mailand war für den zukünftigen Papst von grösster Bedeutung: «Als ein Mann, der bloss jahrzehntelang im Staatssekretariat tätig war, wäre Montini sicher niemals zum Papst gewählt worden. Als ‹Kirchenbeamter› und Mann der Kurie hätte er nicht die Autorität gehabt, die er als Konzilspapst nötig hatte, um die Versammlung [das Konzil] zu einem guten Ende zu bringen. Insofern stellt die Zeit als Erzbischof eine unverzichtbare Vorbereitung auf das Papstamt dar. In nuce ist in Mailand manches zu beobachten, was dann später in der Gesamtkirche umgesetzt wird» (S. 64).

Wahl ohne Überraschungen

Die vor 50 Jahren erfolgte Wahl Montinis zum Papst war keine Überraschung. Er galt als der geborene Kandidat, der die verschiedenen Strömungen des Konzils zusammenführen und das Konzil zu Ende bringen konnte. Gleich wie bei seinem Vorgänger war sein Auftreten schlicht und seine Arbeitshaltung sehr diszipliniert – durch Selbsterziehung angeeignet, um trotz der schwächlichen Konstitution eine Überfülle an Arbeit leisten zu können (Ernesti bringt auch den Begriff «workaholic », S. 75). Die Bescheidenheit war nicht nur «private Attitüde», sondern sollte Zeugnischarakter haben; die Betonung der Armut war für ihn ein Gebot moderner Pastoral. Er konnte als Papst mit andern zusammenarbeiten, während seine Alleingänge wie etwa bei den Reizthemen Zölibat und Empfängnisverhütung von der Öffentlichkeit ungnädig aufgenommen wurden. Gemäss Ernesti ist Paul VI. mehr noch Erbe von Pius XII. als von Johannes XXIII.; er vertraute wie Pius XII. auf das Wort, weit weniger auf nichtverbale Äusserungen.

Der Retter des Konzils

«Paul VI. selbst war überzeugt, dass er das Konzil als wichtigstes Vermächtnis seines Vorgängers bewahren müsse und dass die Kirche einen Modernisierungsschub benötige» (S. 80). Noch als Kardinal legte er im Oktober 1962 einen Plan vor, wie es mit dem Konzil weitergehen soll; diesen Plan setzte er schliesslich als Papst um. Im September 1963 erliess er eine neue Geschäftsordnung mit vier Moderatoren, die sich als sehr wichtig erweisen sollten. Der Versuch Pauls VI., das schwierige Unterfangen Konzil zu einem guten Ende zu bringen, indem die Einheit der Kirche auch durch Kompromisse gewahrt blieb, gelang, was vielleicht bei einem längeren Pontifikat des «Papa buono» misslungen wäre. In diesem Sinne betont Ernesti zu Recht die grosse Bedeutung Pauls VI.

Wichtige Eckpunkte nach dem Konzil

Wenige Beispiele verdeutlichen, dass vieles nach 1965 epochemachend war. Paul VI. nützte als erster Papst die Bewegungsfreiheit nach den Lateranverträgen von 1929, bestieg ein Flugzeug und bereiste alle fünf Kontinente. 1964 traf er den Ökumenischen Patriarchen; am 7. Dezember 1965 hoben Rom und Konstantinopel den gegenseitigen Bann von 1054 auf. 1966 steckte Paul VI. dem Erzbischof von Canterbury einen Bischofsring an und besuchte 1969 den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Das Verhältnis zum Judentum wurde normalisiert und die bereits durch Johannes XXIII. veränderte Karfreitagsfürbitte weiter entschärft.

Von eminenter Bedeutung war die 1970 eingeführte Mischehenregelung, eine Chance für das ökumenische Miteinander. 1976 suspendiert Paul VI. Marcel Lefebvre. Wie kein Papst nach ihm führte er eine Kurienreform durch (Ernesti: «tatkräftig, zielstrebig, sicher und kundig»; S. 155) – die auch heute wohl grösste und undankbarste Aufgabe für einen Papst. Er legte 1966 erstmals ein Pensionsalter für Bischöfe fest – das heute sinnvollerweise von 75 auf 70 Jahre gesenkt werden müsste. Prophetisch schliesslich eine Äusserung aus dem Jahre 1967, die auch für heute gilt: «Die Welt verändert sich schnell, die Kirche auch. Sie darf dieses Mal nicht wieder verspätet sein» (S. 174 f.). Jörg Ernesti spricht mit solchen Zitaten Pauls VI. in die Gegenwart hinein.

 

Urban Fink-Wagner

Urban Fink-Wagner

Der Historiker und promovierte Theologe Urban Fink-Wagner, 2004 bis 2016 Redaktionsleiter der SKZ, ist Geschäftsführer der Inländischen Mission.