Fresken des Waltensburger Meisters neu datiert und interpretiert

Weitherum sind die Fresken vom sogenannten Waltensburger Meister im Kanton Graubünden aus dem 14. Jahrhundert bekannt. Nicht nur in Waltensburg/Vuorz, wo ein berühmter Passionszyklus und der hl. Sebastian und der hl. Christopherus überlebensgross zu sehen sind, sondern auch Fresken in Rhäzüns (Kirche Sogn Gieri), in Dusch (Kapelle St. Maria Magdalena) sowie an 14 weiteren Orten.

Bis heute ist es nicht gelungen, aufgrund der eindrücklichen Wandmalereien den sogenannten Waltensburger Meister zu identifizieren, doch gewinnt die mit ihm verbundene «Werkstatt» immer präzisere Konturen, insbesondere seit dem letztjährigen Symposion (3. bis 5. Oktober 2014) in Waltensburg. Der Würzburger Professor für Evangelische Religionspädagogik, Horst F. Rupp, veranstaltete in Koopera-tion mit dem Institut für Kulturforschung Graubünden ein gut besuchtes dreitägiges wissenschaftliches Symposion mit Exkursion. Nun ist diese Tagung in einem prächtigen Band* mit ihren überraschenden Ergebnissen im Kunstverlag Josef Fink einem breiteren Interessentenkreis zugänglich gemacht worden und verdient eine Würdigung.

Die Dokumentation des Symposions

In der Einleitung referiert Horst F. Rupp zur Forschungsgeschichte über den Waltensburger Meister. Bis jetzt haben sich viele Kunsthistoriker der Thematik angenommen, so Helga Reichel (1954/1959), Annegret Diethelm (1979) und Alfons Raimann (1983), der die Waltensburger Wandmalereien «um 1330/1340» datiert, ohne aber stichhaltige Anhaltspunkte dafür zu liefern. Das im Zeichen interdisziplinärer Forschung durchgeführte Symposion gab weiteren Wissenschaften und Sichtweisen das Wort: der Regionalgeschichte, der Frömmigkeits-und Bildungsgeschichte, der Judaistik, der Theologie- und der Profangeschichte, wodurch ein nicht unbedeutender Erkenntniszuwachs möglich wurde.

Der bekannte Kulturtheoretiker rätoromanischer Zunge Iso Camartin eröffnete die Tagung mit einer Einführung in die Geistesgeschichte «Mirabilia im Alpenraum des 14. Jahrhunderts». Er charakterisierte die Malkunst Giottos, die Poesie und Musik Macuts und die Wahrnehmung des Humanisten Francesco Petrarca. Staunen, subjektives Erkennen, die Entdeckung des Ich, gesteigerte Mystik und Weltwahrnehmung sind Kennzeichen des spätmittelalterlichen Aufbruchs in die Neuzeit. Der Kunsthistoriker Florian Hitz korrigierte seine vorgetragenen Thesen zu der Datierung einzelner Werke. Insgesamt kam er von der Früh- datierung des Waltensburger Zyklus ab und stellte die Behauptung in Frage, der Churer Maler Bechtold sei der Waltensburger Meister. Frau Professorin Simona Boscani Leoni situierte den Waltensburger Zyklus in der damaligen Frömmigkeitsgeschichte. Sie analysierte Struktur und Ikonographie der Fresken.

Die Theologin und Kunsthistorikerin Susanne Hirsch deutete die Quadermalereien, das fortlaufende Erzählen der Bilder und die illusionistische Architekturmalerei. Studiendirektor Gehrhard Simon erläuterte die auf der Exkursion gesehenen Werke: die Kapelle St. Maria Magdalena in Dusch und die Kirche Sogn Gieri in Rhäzüns mit den entsprechenden Bildprogrammen der Heiligendarstellungen. Die Kunsthistorikerin Annegret Diethelm interpretierte die Bild- und Körpersprache des Waltensburger Meisters (z. B. Form der Augenbrauen, Mund, Gebärden), was an die Körpersprache der Figuren der Königsfelder Glasmalereien erinnert.

Der Inhaber des Zürcher Lehrstuhls für Kunstgeschichte David Ganz sprach unter dem Titel «Erzählen mit losem Ende» über die Bilderräume des Waltensburger Meisters, wobei das Malen und die Grenzen der Flächen die grosse Ordnung christlicher Heilsgeschichte transparent machte. Schliesslich referierte der Restaurator Oskar Emmenegger über Probleme der Restaurierung innerhalb der reformierten Pfarrkirche Waltensburg und an weiteren Standorten des Meisters. Erstaunlich sind bis heute die gut erhaltenen Originale der Spätgotik.

Die Neuinterpretation der abgebildeten Juden auf dem Hintergrund der Pestepidemie von 1347/48

Der Initiator des Symposiums, Horst F. Rupp, selbst wohnhaft in Waltensburg (und Würzburg) ging von Beobachtungen der Fresken im Waltensburger Zyklus aus und sah natürlich als Hauptaussage die Passion Jesu Christi im Zentrum. Zu Recht aber entdeckte er die auffällige Stellung einer Vielzahl mit Hut gekennzeichneten Juden anlässlich der Dornenkrönung, der Geisselung, des Kreuztragens und der Kreuzigung.

Diese auffällige Stellung der Juden, ergänzt durch die zentrale Stellung des Judas in der Abendmahlsdarstellung, entspricht nicht der biblischen Darstellung der Juden in der Passion, wiewohl es mehrere antijudaistische Stellen im Neuen Testament gibt. Rupp glaubt, im betont negativ gezeichneten Profil der Juden deren Mitwirken am Tod Jesu, ja deren Qualifizierung als Christusmörder (bzw. Gottesmörder) wahrnehmen zu können. Er unterlegt seine These mit der rechts von der Geisselung Jesu platzierten Tötung des heiligen

Sebastian. Seine typologische Interpretation besagt: Jesus wurde ähnlich ermordet, wie Sebastian durch Pfeile getötet wurde. Nun ist Sebastian der Heilige und Fürsprecher all jener, die von der Pest und anderen Seuchen heimgesucht werden. Deshalb erlöst er sie von ihren Plagen wie Jesus die Sünder erlöst. Sebastian gilt als neuer Befreier des Menschen. Weil die Pestepidemie in den Jahren 1347/48 Europa heimsuchte, verarbeitete der Waltensburger Meister auch dieses Motiv in seinem Zyklus.

Und in der Geschichte wurden wiederum die Juden für allerlei Übel und auch für die Übertragung der Pest verantwortlich gemacht. Weiter zieht Rupp Maria als Gegenbild zu den Juden heran.

Doch scheint mir ihre Stellung unter dem Kreuz mit Johannes sowohl biblisch fundiert wie ikonographisch breit belegt und keine weitere Judenfeindschaft nahzulegen. Aber die dominierende Stellung jüdisch gebrandmarkter Personen in der Nähe der Kreuzigung und die typologische Deutung Sebastians auf dem Hintergrund der real vorgefallenen Pestepidemie scheinen mir aussagekräftige evidente Hypothesen des Waltensburger Zyklus zu sein. Da hat der Waltensburger Meister zu Unrecht grosse Vorbehalte, ja Feindschaft, gegenüber den Juden zur Darstellung gebracht!

Das Waltensburger Symposium bildet zweifellos einen Meilenstein in der Rezeption und Interpretation der Werke des Meisters, die auch Widerspruch provozierten. Die sowohl sachlich als auch emotional geführte Diskussion zeigte die Aktualität der Probleme und gibt den Weg frei für weitere Forschungen.

Der sorgfältig elaborierte Kunstband bezeugt die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung und die Schönheit spätmittelalterlicher Fresken bis heute. 

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* Horst F. Rupp (Hrsg.): Der Waltensburger Meister in seiner Zeit. (Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg und Verlag Bündner Monatsblatt) Chur 2015, 192 Seiten, illustriert.

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.