Adventsgedanken 2014, 2015, auch 2016?

Unvergesslich das Erlebnis in einer Abschlussklasse der Oberstufe von Weesen in der Adventszeit 2014. Ich sagte der Schülerschaft: «Wunderbar, diese Vorweihnachtsstimmung. Dieser beglückenden Atmosphäre kann sich niemand entziehen.

Auch Atheisten und lediglich vor sich hinlebende, auf den eigenen Vorteil bedachte Individuen werden erfasst, müssen ihre allfällige Kritik an diesem Rummel, wie sie sagen, für sich behalten. Auch dort, wo es gilt, den Schein zu wahren, findet ein eigentlicher Wettlauf des Gutseins statt, und wenn das vor zwölf Monaten Erhaltene grösser ist als das, was man selber geschenkt hat, suchen viele den gerechten Ausgleich im nächsten Jahr.

Menschlich, allzu menschlich wird das, was man selber gibt, häufig höher eingeschätzt als das, was man selbst erhält. Der Stolz lauert immer hinter der Ecke des Gutseins, doch die allgemein beglückende Vorweihnachtsstimmung vermag der Stolz kaum zu übertrumpfen.

Doch wenn man denkt, das zur gleichen Zeit, da wir uns mit Geschenken überhäufen, Abertausende, zu Hause oder auf der Flucht, verhungern und verdursten, darunter nicht wenige Jugendliche wie Ihr, da müssten wir uns doch fragen: Stimmt da etwas nicht mit unserer ganzen Schenkerei?»

Die Reaktion der Schülerinnen und Schüler war überwältigend, unvergesslich, unerwartet: Nacheinander traten sie auf mich zu, schauten mir in die Augen und sagten allesamt die immer gleichen drei Wörter: «Ich danke Ihnen.»

Mehr konnten und wollten die vom Leben vielleicht bald hart angefassten jungen Menschen nicht sagen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so betroffen und berührt.

Warum haben so wenige immer mehr? …

Überwältigt vom Erlebten erzählte ich der Schulleitung, was im letzten Klassenzimmer vorgefallen war. «Das weiss ich schon», sagte die Schulleiterin, «die Lehrerinnen und Lehrer haben es mir mitgeteilt.»

Ein Jahr später, 2015, hätte ich dies vielleicht auch in einem Kreis der etablierten Erwachsenen eines Serviceclubs feststellen können, denn mittlerweile ist die Not der Dritten Welt mehr denn je zuvor gleichsam vor unsere Haustüre getreten und hat Hilfskräfte aus unserer Mitte mobilisiert, die wir vorher nicht für möglich gehalten haben, spontan und weit mehr wirksam, als es die Ergebnisse an den Urnen auch in anderen Ländern vermuten lassen.

Plötzlich haben sich Türen geöffnet, die bisher verschlossen schienen. Das Bewusstsein, dass alle Menschen im gleichen Boot sind und sich nicht länger einzelne Individuen und Staaten mit ihresgleichen zu retten vermögen, scheint sich mit all dem unmittelbar sichtbar gewordenen Elend vermehrt und verinnerlicht zu haben. Nicht mehr nur das Zuviel der Wenigen im eigenen Land scheint die Gemüter zu bewegen, sondern ein aufkommendes, sich hoffentlich bald durchsetzendes Weltgewissen mit der Frage: «Warum haben so viele so wenig?»

… zur Frage: Warum haben so viele Elende zu wenig?

Die von Hermando de Soto in der «Zeit» vom 19. November 2015 kolportierte Feststellung von Papst Franziskus – «Die Globalisierung stärkt weltweit den Wohlstand, aber sie führt auch zu einer wachsenden Ungleichheit und zu neuen Formen von Armut.» – «gehört zu den redlichen Debatten, wie sie der Papst einfordert», bemerkt der gegenüber Franziskus sonst kritische Sohn von eingewanderten Spaniern. Mir kommt vor: Das behutsame, aber durchaus zielbewusste Vorgehen von Papst Franziskus wirkt, aller Widerstände zum Trotz, in diese Richtung.

Der gläubige Mensch voller Zweifel, aber auch Zuversicht, wird sich der Möglichkeit dieser Vollendung des Menschseins zum Menschheit-Sein nicht verschliessen, vielmehr öffnen, und mit Gottvertrauen und Vertrauen in die Mitmenschen zu deren Verwirklichung beitragen.

Wundervoll ist die Welt wenigstens als Hoffnungsschimmer. Bar aller Hoffnung wäre sie hingegen, wenn sie sich nicht noch entwickeln könnte. Oder sind die meisten unter uns von den fixen Antworten statt offenen Fragen derart geblendet und allzu sicher in ihrem Nest der einseitigen Geborgenheit und allseitigen Unbescheidenheit, dass keine Rettung mehr möglich erscheint? Manches spricht dafür, noch mehr dagegen. Wir leben in einer Zeit der Wende und der uferlosen Globalisierung. Das Wort der Endzeit macht wieder einmal die Runde.

Ohne Hoffnung kein Leben!

Wohin der Weg führt, auf einsamen Pfaden, wo im Dickicht der Bäume nur wenige die andern auch nur sehen wollen? Das weiss heute niemand. Hoffnung besteht gleichwohl oder gerade deshalb, Sehnsucht nach der Allverbundenheit des Seins und Werdens – ein grosses Geschenk in einer Welt der gegensätzlichen Interessen und – darüber hinaus – der seit 1945 möglichen gegenseitigen Vernichtung.

Ohne Hoffnung keine Leben, schon gar nicht ein Überleben.

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen