Fremd und hilflos

Immer mehr unbegleitete minderjährige Asylsuchende kommen in die Schweiz. Sie brauchen besonderen Schutz.

795 Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) waren 2014 in der Schweiz registriert, 2015 bereits 2736. Laut Unicef kamen 2016 UMA 25 800 nach Italien. Michael Flückiger, Leiter Abteilung Kommunikation der Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, erzählt von Niloofar*, 14 Jahre alt, aus Afghanistan. Ihr Vater wurde von den Taliban bedroht. So flüchtete die Familie über den Iran in die Türkei. Bei einer Überfahrt nach Griechenland wurde das Mädchen von der Familie getrennt. Eine andere Familie nahm es mit in die Schweiz. Dawit* floh aus Eritrea mit 17 Jahren vor der Einberufung ins Militär. Er hätte dort auf unbestimmte Zeit Frondienst leisten müssen. Nach der Flucht via Sudan, Libyen und Italien stellte er hier ein Asylgesuch.

Für Vertreter involvierter Organisationen ist klar: Kinder auf der Flucht sollen gleich behandelt werden wie Schweizer Kinder. Das bedeutet: altersgerechte Unterbringung ausserhalb der Asylunterkünfte, medizinische Abklärungen und Behandlung, einen raschen Zugang zu Schule und Lehrstellen, eine Vertretung gemäss Zivilrecht sowie eine kindgerechte Anhörung.

Ein guter Ort?

UMA leben in Asylzentren, speziellen Zentren oder Gastfamilien. Ein längerer Aufenthalt in Asylzentren ist keine gute Lösung. Der UN-Kinderrechtsausschuss appellierte 2016 deshalb an die Schweiz, das Recht des Kindes auf altersgerechte Betreuung zu respektieren. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) orientiert sich zwar an dieser Forderung, doch sind deren Empfehlungen für die Kantone nicht verbindlich.

Jenny Bolliger vom Internationalen Sozialdienst der Schweiz SSI betont, die Betreuung variiere von Kanton zu Kanton. Manche Fachpersonen sprechen heute gar von einer «strukturellen Kindswohlgefährdung». So verbrachte Dawit* einige Wochen in einem Empfangs- und Verfahrenszentrum des Bundes; dann lebte er im UMA-Zentrum Lilienberg (ZH) und besuchte die Schule. Nach seinem 17. Geburtstag wurde er einer kleinen Gemeinde zugewiesen. Dort aber durfte er, da sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war, bloss an drei Nachmittagen in der Woche einen Deutschkurs besuchen!

In wenigen Kantonen sind UMA ihrem Alter entsprechend untergebracht. Gastfamilien sind für viele UMA ein guter Ort. Doch leben relativ wenige dort: Meist geben die Kantone nur UMA mit grossen Belastungen in Familien und solche bis 14 Jahre. Fehlt aber wie oft die kompetente Begleitung, sind diese Familien überfordert. Die Fachunterstützung, wie sie etwa die Caritas anbietet (inklusive Notfalltelefon), ist notwendig! Es gibt zwar Geld für die Familien (mehr, weniger oder sehr wenig), alle anderen Unterbringungsmöglichkeiten sind aber langfristig teurer. Die Familien helfen dem Staat, Geld zu sparen. Und Kinder und Jugendliche können in Familien individueller gefördert werden, erhalten Geborgenheit und Hilfe für ihr ganzes Leben.

Zentren wie der Lilienberg bieten eine ganzjährige Unterbringung und Begleitung von UMA an. Je nach Alter und Situation können sie untergebracht und betreut werden. Dazu kommen Tagesstrukturen, die Schulung in internen Aufnahmeklassen, Beschäftigung, Freizeitangebote, psychologische Hilfe. Die UMA erhalten feste Bezugspersonen. Den Mitarbeitenden ist es wichtig, sie dabei zu unterstützen, selbstständig zu werden und eine solide Zukunftsperspektive zu entwickeln. Für manche UMA ebenfalls eine gute Lösung.

Letztes Jahr landeten laut Terre des hommes aber auch 142 Minderjährige in der Schweiz in Administrativhaft – wegen eines fehlenden Aufenthaltsrechts. Laut SSI registriert das Staatssekretariat für Migration viele UMA als volljährig, auch gegen die Einschätzungen der Bezugspersonen. Und damit landet manch einer als Erwachsener im Gefängnis.

Hilfe finden

Mädchen, junge Frauen und junge Männer waren auf der Flucht oft billige Arbeitskräfte, wurden im Drogenhandel und/oder sexuell ausgebeutet. Flückiger berichtet, «dass es immer wieder Jugendliche gibt, die nicht nur von der Situation in ihrem Heimatland traumatisiert sind, sondern auch von den Erfahrungen auf der Flucht oder gar erst im Zielland». Asylsuchende sind in der Schweiz durch die Krankenkasse grundversichert. Eine Therapie gibt es aber nur in schwerwiegenden Fällen. Eine Traumatherapie macht zudem erst Sinn, wenn jemand sich in Sicherheit fühlt und sein Aufenthaltsstatus gesichert ist.

Für die beiden von der Flüchtlingshilfe vorgestellten UMA gab es Lösungen: Niloofar* wurde zuerst in eine Aufnahmeklasse und später in die Normalschule eingeschult. Es gelang, ihre Familie in Griechenland zu finden und in der Schweiz zu vereinen. Dawit* legte in Begleitung seiner Beiständin an einer Anhörung des Staatssekretariats seine Fluchtgründe dar. Er erhielt kurz vor seinem 18. Geburtstag ein Bleiberecht in der Schweiz.

 

Mentor/in werden

Der Internationale Sozialdienst hat das Programm «+ 1 am Tisch» entwickelt. Mentoren helfen Jugendlichen, am Leben in der Schweiz teilzunehmen.

www.solidarity-young-migrants.ch/de/mentor-werden

Jenny Bolliger

Familienplatzierung Caritas Schweiz

Unterstützung und Begleitung für Gasteltern für UMA

www.caritas.ch/de/aktiv-werden/pflegefamilie-werden/pflegefamilie-fuer-ein-fluechtlingskind-werden/ Tel: +41 41 419 22 77,

Christiane Faschon

Christiane Faschon

Christiane Faschon ist dipl. Religionspädagogin, Fachjournalistin (BR) und Dozentin.