Franziskus und das Misstrauen gegenüber der Befreiungstheologie

1. Ein bis heute andauerndes Missverständnis

Seit der Wahl Kardinal Bergoglios zum Papst, noch mehr seit seiner Exhortation «Evangelii Gaudium», häufen sich die Anfragen, ob dieser Papst doch dem Kreis der so genannten lateinamerikanische Befreiungstheologie (BTL) nahestehen könnte. Zeitungen und Internetartikel greifen erneut auf die sattsam bekannten Schlagworte über die sogenannt «marxistischen Methoden» jener Theologie zurück; oder sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und kreieren den in sich absurden Begriff einer «marxistischen Befreiungstheologie ». Und im Internet wurde von einem vielleicht sogar katholischen Schreiber die Aussage veröffentlicht: «Das Letzte, was man auf dem Papstthron brauchen kann, ist ein Befreiungstheologe.»1

Angesichts solcher und ähnlicher Meinungen erscheint es angebracht, wieder einmal aufzuzeigen, was es denn eigentlich mit jener Befreiungstheologie auf sich hat und inwieweit Papst Franziskus mit ihr in Verbindung gebracht werden kann. Es erstaunt nämlich immer wieder, wie wenig diese lateinamerikanische Theologie eigentlich im europäischen Kontext gekannt und verstanden wird. Ja, es macht in der Tat oft den Anschein, als sei sie bis heute in weiten Kreisen nur etwa bis in die frühen achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts rezipiert worden. Was in den folgenden drei Jahrzehnten geschah, scheint den meisten auch kirchlichen Kreisen in Europa kaum bekannt zu sein: Die Tatsache nämlich, dass die Befreiungstheologie in den Jahren nach der bekannten vatikanischen «Instruktion über einige Aspekte der Befreiungstheologie» von 1984 einen grundlegenden Methodenwandel und Perspektivenwechsel durchlief.

Stattdessen hört man bis heute jene längst überholten Vorwürfe, mit denen schon die lateinamerikanischen Militärdiktaturen die ihnen unbequeme Theologie zu delegitimieren versuchten: «Sie braucht marxistische Methoden.» Wenn daraufhin gefragt wird, worin denn diese Methoden bestünden, herrscht meist ein eher betretenes Schweigen. Angesichts dieser Tatsache und angesichts der neuen Konstellation, die sich durch einen lateinamerikanischen Papst auch in der Kirche ergibt, erscheint es sinnvoll, genau jene in Europa so wenig bekannte Entwicklung der Befreiungstheologie nach 1984 wenigstens in einigen Grundzügen wieder bewusst zu machen.

2. Die ursprüngliche Methode und ihre Veränderung nach 1984

Basierend auf dem in Nr. 236 der Enzyklika «Mater et Magistra» von Papst Johannes XXIII. vorgeschlagenen Dreischritts «Sehen – urteilen – handeln» hatte die erste Generation der Befreiungstheologen für das «Sehen» den Weg der damals in der Soziologie allgemein anerkannten und benutzten «Klassenspezifischen Gesellschaftsanalyse» beschritten. Sie stützten sich dabei auf damals hoch im Kurse stehende Vertreter der so genannten «Frankfurter Schule»; im weitern auch auf international anerkannte Grössen wie Ernst Bloch, Antonio Gramsci, Louis Althusser und Georg Lukács, kurz: auf Denker, die in jeder damaligen soziologischen Fakultät als Autoritäten galten.

Die Fragestellung des «Sehens» in der Befreiungstheologie drehte sich im Gefolge dieser Autoritäten dann um die Problematik:

- Gibt es in der Gesellschaft Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen?

- Nach welchen Prinzipien handelt die in der Gesellschaft massgebende Klasse?
- Was geschieht mit der oder den in der Gesellschaft nicht bestimmenden Klassen?

Auch bei dieser im Kontext der klassischen Theologie ungewohnten Art der Fragestellung aber blieb ständig die Tatsache bewusst, dass sie immer von einem theozentrischen Grundanliegen her erfolgte, nämlich der Frage, wie bestehende Unrechtsverhältnisse gegenüber Menschen gesehen und bewertet werden müssen angesichts eines Gottes, der sich seit seinen frühesten Manifestationen bis hin zu Jesus immer als ein Gott offenbarte, der Partei ergreift genau für jene, die zu den Unterdrückten und Ausgebeuteten der jeweiligen politisch-wirtschaftlichen Systeme gehörten. Ein Gott auch, der in Abschnitt E des Dokuments der päpstlichen Bibelkommisson «Die Interpretation der Bibel in der Kirche» spezifisch bezeichnet wird als «der Gott der Armen, der weder Unterdrückung noch Ungerechtigkeit duldet».

An die sich aus diesen Fragestellungen ergebenden Antworten werden dann im zweiten Schritt des «Urteilens» die Kriterien der biblischen Offenbarung angelegt. Und darauf folgt als dritter Schritt notwendig das Handeln. Falls es sich nämlich zeigt, dass bestimmte Situationen, Strukturen oder Mechanismen den Kriterien Gottes nicht entsprechen, so sagt die BTL, dann ist es Aufgabe der Christen und Christinnen und der ganzen Kirche, diese Situationen, Mechanismen oder Strukturen zu verändern, das heisst, im Namen Gottes verändernd zu handeln. Da jener Aufruf zum Handeln weiten Kreisen der damaligen Industrie und ebenso den herrschenden Militärdiktaturen äusserst unbequem war, begann von diesen Kreisen her alsbald die Gegenreaktion.

Dies ging so weit, dass in dem 1982 im Auftrag der Regierung Reagan verfassten «Dokument von Santa Fé» im dritten Vorschlag seines zweiten Teils die folgende Empfehlung zu lesen ist: «Die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten muss damit beginnen, die Theologie der Befreiung, so wie sie in Lateinamerika durch den Klerus praktiziert wird, zu bekämpfen.»2

Wo aber lässt sich eine Theologie angreifen, die derart spezifisch und direkt auf den Aussagen der Evangelien basiert? Man müsste die Evangelien selber angreifen und mit ihnen die Person Jesu Christi. Solche Taktik aber wäre in der westlichen Welt immer noch weitgehend von Misserfolg gekrönt. In dieser Situation nun erinnerte man sich der «marxistischen Methoden». Da die absolute Mehrzahl der Christen keine grosse Ahnung von Marxismus hatte, da sie zudem kaum um die wesentliche Unterscheidung zwischen Neomarxismus und orthodoxem Marxismus wusste, aber anderseits durch eine seit dem 19. Jahrhundert begonnene Propaganda gelernt hatte, Marxismus zum mindesten mit Teufel und Antichrist identisch zu setzen, griffen die Gegner der neuen und unbequemen Theologie auf diese Voraussetzungen zurück: «Jene Theologie benutzt marxistische Methoden! » – so schrien sie mit erhobenem Zeigefinger,3 und so schreien viele heute wieder von neuem.

3. Der Methodenwechsel nach 1984

Selbst viele unserer Brüder und Schwestern im Glauben lehnen heute noch die Befreiungstheologie ab, ohne sie wirklich zu kennen. Was sie vor allem nicht wissen, ist, dass sich seit den achtziger Jahren in dieser Theologie auch ein grundlegender Methodenwechsel vollzogen hat. Als nämlich im Jahre 1984 die bereits genannte vatikanische Instruktion erschien, welche in gewissen Aspekten die Methodenkritik der oben genannten Gegner ebenfalls aufnahm, wurde sie in Kreisen der Befreiungstheologie trotz aller Skepsis sehr ernst genommen. In den folgenden Jahren entwickelte sich in ihrem Gefolge eine tiefgreifende theologische Grundsatzdiskussion um die in der Instruktion genannten kritischen Aspekte. Das Ergebnis dieser Arbeit führte zu einer eigentlichen Neuorientierung und einem grundlegenden Perspektivenwechsel in der angewandten Methode der Gesellschaftsanalyse. Die neuen Kriterien, auf welche die Analyse der Gesellschaft ( das «Sehen») sich nun abstützt, werden jetzt ohne Mediation direkt in den biblischen Schriften und in den durch die kirchliche Soziallehre vorgegebenen Linien situiert. Sie orientieren sich im Weiteren wesentlich an den Werten der von Jesus getroffenen «Grundoptionen»4 und den Kriterien des von ihm verkündeten «Gottesreiches». In diesem Sinn wird von einer eigentlichen christologischen und Gottes-Reich-zentrierten Wende der Befreiungstheologie gesprochen.

Die entsprechenden Fragestellungen des «Sehens » heissen seither in Anlehnung an die von Jesus verkündeten Kriterien des Gottesreiches:

- Gibt es in der Gesellschaft Mechanismen oder Strukturen der Ungerechtigkeit?
- Gibt es Mechanismen oder Strukturen der Lüge und Manipulation?
- Gibt es Mechanismen oder Strukturen von Egoismus und Gier?
- Gibt es Mechanismen oder Strukturen von Hass, Aggression, Krieg?

Die Theologie der Befreiung basiert damit ihre Kriterien und Postulate ebenso wie ihre Methode seit dem Ende der achtziger Jahre völlig auf den Texten des Evangeliums und dem von Jesus verkündeten Gottesreich – und sie findet darin eine weit radikalere Bestätigung ihrer Forderungen, als es irgendein Marxismus je zu vermitteln vermöchte. Ungeachtet dieser Tatsache aber bemühen sich auch heute wieder die unterschiedlichsten Interessensgruppen darum, die Befreiungstheologie zu bekämpfen oder mindestens zu diffamieren. Umso wichtiger ist daher in diesem Zusammenhang die Antwort auf die Frage, wo und in welchen theologischen Kontext der aus Lateinamerika stammende Papst zu situieren sei. Dazu aber ist vorgängig auf die kirchliche Reaktion auf den Methodenwechsel nach 1984 einzugehen:

4. Die kirchliche Reaktion nach dem Methodenwechsel der BTL

Bereits im Jahre 1986 veröffentlichte die Kongregation für die Glaubenslehre eine zweite Instruktion zur BTL mit dem Titel «Über die christliche Freiheit und die Befreiung». Sie ist zu werten als Reaktion auf die Intervention lateinamerikanischer Bischöfe und den damals bereits angelaufenen Methodenwechsel der BTL selbst. Diese zweite kirchliche Stellungnahme wertet die Befreiungstheologie viel positiver, als es die Instruktion von 1984 getan hat; sie wurde aber vor allem in Europa weit weniger wahrgenommen. Im Weiteren ist hier kaum jemandem bekannt, dass Papst Johannes Paul II. am 9. April 1986 einen persönlichen Brief an die Brasilianische Bischofskonferenz schrieb, in dem es heisst: «Die Befreiungstheologie ist nicht nur angebracht, sondern nützlich und notwendig.»

Ebensowenig kennen die wenigsten der heutigen Kritiker aus dem kirchlichen Raum wohl die Aussage des jetzigen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der 2004 im Buch «An der Seite der Armen» zur BTL das Folgende schrieb: «Nach meinem Urteil zählt die kirchliche und theologische Bewegung, die nach dem II. Vatikanischen Konzil unter dem Namen ‹Befreiungstheologie› ein weltweites Echo gefunden hat, zu den bedeutendsten Strömungen der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert.»5

Nur vor diesem Hintergrund kann die Frage nach der Stellung von Papst Franziskus gegenüber der Befreiungstheologie richtig gesehen werden.

5. Franziskus und die Befreiungstheologie

Papst Franziskus kommt aus Lateinamerika, und es ist immer wieder daran zu erinnern, dass die Befreiungstheologie als Hintergrund-Theologie letztlich die ganze lateinamerikanische Kirche grundlegend geprägt hat. Diese Prägung konkretisiert sich in der durch diese Kirche konsequent verbreiteten und gelebten «Vorrangigen Option für die Armen», die als eine der wesentlichen Kern- und Angelpunkte der Befreiungstheologie gilt. Sie erscheint in ihrem Ansatz neben dem Konzil bereits im sogenannten «Katakombenpakt» der lateinamerikanischen Bischöfe vom 16. November 1965. Dieser Vertrag wurde in den kommenden Jahren von über 500 Bischöfen aus Lateinamerika und der Karibik unterschrieben. Eine Kopie des Paktes wurde im Rahmen der Kontakte zwischen dem jetzigen Papst und den lateinamerikanischen Theologen im Jahr 2013 auch an Papst Franziskus übergeben. Seine grundlegenden Elemente lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Verzicht auf alle Symbole und Manifestationen von Macht;
- Verlassen der bischöflichen Paläste;
- Einsatz für eine Kirche der Armen und mit den Armen;
- Einsatz für eine Kirche, die den Menschen dient.6

Die in diesem Pakt grundgelegte Option für eine arme und dienende Kirche wird in der Befreiungstheologie schliesslich als «Vorrangige Option für die Armen» zum Zentral- und Eckpunkt der ganzen Befreiungstheologie. Sie wird in den nachfolgenden Generalkonferenzen des Lateinamerikanischen Episkopats von Medellin (1968), Puebla (1979) und Aparecida (2007) jedesmal als Grundforderung und Aufgabe der Kirche bestätigt. Im Gefolge der weitgehend von befreiungstheologischen Konzeptionen geprägten Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen nach 1968 vollzog sich dann in den Kirchen der südamerikanischen sowie einiger asiatischer und m. E. auch afrikanischer Länder Schritt für Schritt jener durch diese Theologie geforderte Perspektivenwechsel:

1. Vom individuellen Seelen-Rettungs-Glauben zum verändernden, sozial engagierten Glauben, der die Welt im Sinne Gottes verändert.

2.Von passiv-karitativer Unterstützungs- Pastoral für die Armen hin zu aktiv verändernder Solidarität der Kirche als «Advokatin der Gerechtigkeit und Verteidigerin der Armen».8

3. Von einer Kirche, als triumphale Lehrmeisterin der Welt, zu einer missionarischen Kirche, die sich als Dienerin der Menschen versteht.

Genau diese Anliegen versucht Papst Franziskus nun in der Weltkirche anzustossen. Der vormalige Kardinal von São Paulo, Dom Claudio Hummes, hat dazu auf die Frage, inwieweit der Papst dabei von den Konzeptionen der Befreiungstheologie geprägt sei, in einem Interview der «Folha de São Paulo» vom 2. Juni 2013 Folgendes geantwortet: «Es genügt ein Blick auf die Art, wie er in Buenos Aires Erzbischof war und auf das Schlussdokument von Aparecida [Bergoglio war Präsident der Redaktionskommission]. Dies sagt alles: Er liegt sicherlich auf der Linie der Befreiungstheologie.» Diese summarische Aussage wird später weiter präzisiert durch den argentinischen Jesuiten Juan Carlos Scannone, vormaliger Direktor des Instituto de Pesquisa Filosófica der Philosophisch- Theologischen Fakultät von San Miguel. Scannone war Professor von Jorge Mario Bergoglio; später, in den Jahren 1980–1986 wirkte P. Bergoglio an der gleichen Fakultät als Rektor. P. Scannone gilt als die wichtigste theologische Referenz und als Inspirator der Pastoral Bergoglios, der 1992 zum Bischof geweiht, 1998 zum Erzbischof und schliesslich 2001 zum Kardinal von Buenos Aires ernannt wurde. In einem Interview mit der Zeitschrift «Il Regno» vom Mai 2013 gibt Scannone nicht nur einen umfassenden Überblick über die theologische Grundausrichtung von Papst Franziskus; er beleuchtet gleichzeitig auch das spezifische der als «Theologie des Volkes» bekannten argentinischen Form der Befreiungstheologie. Eine Form, die sich in Argentinien unter den speziellen Bedingungen der damaligen Militärdiktatur herausgebildet hat:9 Gemäss P. Scannone vertrat Kardinal Bergoglio «die argentinische Form der Befreiungstheologie, die von einigen ‹Theologie des Volkes› genannt wird». Auch die «Teologia del Pueblo» benutzt, wie die anderen Formen der Befreiungstheologie, die Methode «Sehen–Urteilen–Handeln». Sie analysiert wie die anderen befreiungstheologischen Richtungen die Gesellschaft im Licht des Glaubens und verbindet dabei geschichtliche Praxis und theologische Reflexion. Dabei greift auch sie auf Methoden der Sozialwissenschaft zurück und betont die «Option für die Armen». Im Gegensatz zu anderen Formen der BTL aber bevorzugt sie eine historisch-kulturelle und nicht eine sozio-strukturelle Gesellschaftsanalyse. Dies bedeutet, die sozialen Ungerechtigkeiten werden nicht nach dem Modell der Klassengegensätze analysiert, sondern auf der Basis des Gegensatzmodells «Was geschieht in der Gesellschaft zum Wohl des Volkes?» und «Was geschieht in der Gesellschaft gegen das Wohl des Volkes?»

6. Der Anstoss hin zu einer neuen Art des Kirche-Seins

Geprägt von dem oben skizzierten theologischen Hintergrund, versucht nun Papst Franziskus mit Nachdruck, jenen Aufbruch hinein in eine andere Art des Kirche-Seins anzustossen, der in der lateinamerikanischen Kirche durch die Befreiungstheologie begonnen wurde. Dieses Bemühen wird deutlich in der zeichenhaften Art seiner Amtsführung; in den vielen diesbezüglichen mündlichen Manifestationen und schliesslich neuerdings mit Nachdruck in seiner Exhortation «Evangelii Gaudium».

Dabei schimmern überall und auf die verschiedenste Weise immer wieder jene drei Ebenen eines fundamentalen Perspektivenwechsels durch, der oben als Konsequenz des Einflusses der Befreiungstheologie bereits genannt wurde:

 

a.) Vom individuellen Seelen-Rettungs-Glauben zum verändernden, sozial engagierten Glauben, der die Welt im Sinne Gottes verändert:

«In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freude geprägt ist, und um Wege für dem Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzeigen» (EG 1). «Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die neue Evangelisierung muss ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften einschliessen » (EG 120).

 

b.) Von passiv-karitativer Unterstützungs- Pastoral für die Armen zu aktiv verändernder Solidarität der Kirche als «Advokatin der Gerechtigkeit und Verteidigerin der Armen».

Die Kirche ist «Anwältin der Gerechtigkeit und Verteidigerin der Armen gegen untragbare soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, die zum Himmel schreien».10 «Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein (…). Als aber die Israeliten zum Herrn schrien, gab ihnen der Herr einen Retter (Ri 3,15). Diesem Schrei gegenüber taub zu bleiben, wenn wir doch die Werkzeuge Gottes sind, um den Armen zu hören, entfernt uns dem Willen des himmlischen Vaters und seinem Plan» (EG 187). «Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle ein kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen ‹seine erste Barmherzigkeit›. Diese göttliche Vorliebe hat Konsequenzen im Glaubensleben aller Christen, die ja dazu berufen sind, so gesinnt zu sein wie Jesus (vgl. Phil 2,5). Von ihr inspiriert, hat die Kirche eine Option für die Armen gefällt» (EG 198).

 

c.) Von einer Kirche als triumphale Lehrmeisterin der Welt zu einer missionarischen Kirche, die sich als Dienerin der Menschen versteht.

«Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger» (EG 102).

«Die Priester erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das mögliche Gute zu tun» (EG 44). «Eine Kirche ‹im Aufbruch› ist eine Kirche mit offenen Türen» (EG 46).

«Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zeichen dieser Öffnung ist es, überall Kirchen mit offenen Türen zu haben. So stösst einer, wenn er einer Eingebung des Geistes folgen will und näherkommt, weil er Gott sucht, nicht auf die Kälte einer verschlossenen Tür» (EG 47).

«Ich lade alle ein, wagemutig und kreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, die Strukturen, den Stil und die Evangelisierungs-Methoden der eigenen Gemeinden zu überdenken» (EG 33). «Mir ist eine Kirche lieber, die etwas falsch macht, weil sie überhaupt etwas tut, als eine Kirche, die krank wird, weil sie sich nur um sich selbst dreht.»11

Was in der Exhortation «Evangelii Gaudium» und in den vielen anderen Äusserungen von Papst Franziskus in den unterschiedlichsten Aspekten ausgedrückt wird, ist letzlich immer wieder jener prophetische Aufruf hin zu einem Aufbruch, den die V. Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Aparecida in ihrem Schlussdokument in den folgenden Worten zusammenfasst: «Wir können nicht ruhig und in passiver Erwartung in unseren Kirchen sitzen, sondern es ist dringend notwendig, in alle Himmelsrichtungen hinauszugehen und zu verkünden, dass das Schlechte und der Tod nicht das letzte Wort haben» (AP 548).

 

___________________________________________________

 

«Schafe oder Protagonisten der Laien?»

Renold Blank: Schafe oder Protagonisten? Kirche und neue Autonomie der «Laien» im 21. Jahrhundert. (Edition NZN bei TVZ/Theologischer Verlag) Zürich 2013, 205 S. Das Zweite Vatikanische Konzil verabschiedete sich von der «Klerikerkirche». Der Klerikalismus aber lebt weiter: bei gewissen Bischöfen und Priestern, auch bei gewissen nichtgeweihten kirchlichen Angestellten und «echten» Laien, besonders auch in jüngeren Generationen. Renold Blank hinterfragt im vorliegenden Buch – einer überarbeiteten Fassung einer portugiesischen Veröffentlichung – diesen eigentlich vorkonziliären Klerikalismus und spricht sich dafür aus, was die lateinamerikanischen Bischöfe in Santo Domingo 1992 festgelegt haben: «Alle Laien [das heisst die Frauen ebenso wie die Männer] sollen Protagonisten der neuen Evangelisation sein (…). Dazu ist die beständige Förderung der Laienschaft notwendig, und zwar frei von allem Klerikalismus und ohne Reduktion auf das Innerkirchliche.» Hier können und müssen uns Südamerika und Papst Franziskus ein Vorbild sein. Blanks Äusserungen sind theologisch und soziologisch höchst interessant; sie sind in den gegenwärtigen Schwierigkeiten, die auch auf Klerikalismus beruhen, eine grosse Hilfe. (ufw)

 

 

 

1 Kommentar zu: http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-03/papst-franziskus-befreiungstheologie (Zugriff 16. März 2013).

2 Übersetzt nach Text in: Revista de Cultura VOZE S (75), N° 10. Dezember 1981,755.

3 Renold Blank: Feuer, das unter der Erde brennt, in: Kurszeitung «theologiekurse.ch» No. 2 , Zürich, Dezember 2005, 2 f.

4 Vgl. Renold Blank: Gott und seine Schöpfung. Zürich, 2011, 183–211.

5 Gustavo Gutiérrez / Gerhard Ludwig Müller: An der Seite der Armen. Augsburg 2004, 29. 6 Der Text des Katakombenpaktes kann nachgelesen werden in: www.konzilsvaeter.de/referenzen/deutsch. Er erscheint auch auf Google unter dem Suchbegriff «Text des Katakombenpakts».

7 Man vergleiche dazu etwas das Schlussdokument der Dritten lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Puebla, in Nr. 1134 (vgl. auch Nr. 1135–1165) «Mit erneuerter Hoffnung auf die belebende Kraft des Geistes machen wir uns wieder die Auffassung der 2 . Vollversammlung zu eigen, die eine klare und prophetische, vorrangige und solidarische Option für die Armen zum Ausdruck brachte (…). Wir bestätigen die Notwendigkeit der Umkehr der gesamten Kirche im Sinne einer vorrangigen Option für die Armen mit Blickrichtung auf deren umfassende Befreiung.» Gleiches f indet sich im Schlussdokument von Aparecida, 2007, an den verschiedensten Stellen, vor allem Nr. 391–398: «Heute wollen wir die vorrangige Option für die Armen, die in den vorangehenden Konferenzen formuliert wurde, ratifizieren und potenzialisieren» (AP 396: Documento de Aparecida. Texto conclusivo da V. Conferência do Episcopado Latino-Americano e d o Caribe. Brasilia-São Paulo 2007, 179).

8 Benedikt X VI.: Eröffnungsrede der V. Konferenz des LA -Episkopats in Aparecida (vgl. AP Nr. 395).

9 Die folgende Wiedergabe des Interviews beschränkt sich auf die parafrasierende Zusammenfassung der Passagen zur Theologie von Papst Franziskus. Das ganze Interview ist abrufbar in den «Notícias do Instituto Humanitas Unisinos» vom 27. Mai 2013: www.ihu.unisinos.br/noticias/520470-a-teologia-de-francisco-entrevistacom-juan-carlos-scannone.

10 Papst Franziskus, Programmatische Aussage beim Besuch der Favela Varginha, Rio, 25. Juli 2013 (vgl. auch AP 395).

11 Papst Franziskus Anfang 2013 im Gespräch mit Ordensvertretern Südamerikas (zitiert nach; Kipa-Woche Nr. 25, 18. Juni 2013, in: SKZ 181 [2013], Nr. 25, 403).

Renold Blank

Renold Blank

Der Schweizer Renold J. Blank war bis zu seiner Emeritierung 28 Jahre lang Professor an der Päpstlichen Theologischen Fakultät von São Paulo. Daneben lehrte er als Gastprofessor an mehreren anderen Universitäten und theologischen Hochschulen. Er ist Autor von mehr als 20 Büchern und wirkt auch na ch seiner Emeritierung weiterhin in Lehre und Forschung.