Der Thesenanschlag 1517 - Historie oder Legende?

Wer auch nur geringe Erinnerungen an die Reformationsgeschichte hat, wird davon gehört haben, dass Luther am Vorabend von Allerheiligen 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Schlosstüre von Wittenberg genagelt haben soll. Jahrhunderte lang prägte diese Geschichte – auch oft dramatisch als Bild dargestellt – die Vorstellung von der schliesslich zur Kirchentrennung führenden Reform. 1961 jedoch ertönte ein Paukenschlag, vollführt von einem katholischen Kirchenhistoriker, zuerst in einer bescheidenen Rezension, dann in gesonderten Aufsätzen und Vorträgen, die alles in Frage stellten. Worum handelt es sich? Da die These gegen die Thesen mehrfach angegriffen und in Frage gestellt wurde, drängte sich eine zusammenfassende Darstellung auf.

Ein Mann und ein Werk

Es wurde gesagt, das bedeutendste Werk eines Menschen sei sein Leben, nicht seine allenfalls sonst noch geschaffenen «Werke». Darum lohnt es sich, das Leben des Mannes, der eine uralte These ins Wanken brachte, zu beleuchten. Es handelt sich um Erwin Iserloh (1915–1996), geboren in Duisburg-Beeck (Nordrhein-Westfalen). Das Theologie- und Geschichtsstudium in Münster und Rom wurde unterbrochen durch den Krieg. Von 1940 an hatte er verschiedene Seelsorgeposten, später folgten Promotion und Habilitation, er wurde hochgeschätzter Professor für Kirchengeschichte in Trier (1954–1964) und in Münster (1964–1983), Domkapitular 1990. Nach langer Krankheit ist er 1996 in Münster verstorben. Er stammte aus einer grundkatholischen und antinazistischen Lehrerfamilie. Seine zwei Brüder, verheiratet mit Kindern, starben im Krieg, der eine wenige Wochen, nachdem er dem zufällig getroffenen Bruder Erwin aus schwerer Verwundung rettend beigestanden war. Zeitlebens war Iserloh geprägt von der katholischen Jugendbewegung, deren Grundimpulse er in anderer Form in seiner Seelsorge weiter trug. Dem Drang zum Kirchengeschichtsstudium konnte er unter Kardinal von Galen nicht sofort nachgeben, schliesslich aber verbrachte er einige fruchtbare Jahre im Schatten des Petersdoms, wo er den berühmten Hubert Jedin kennen lernte, bei dem er sich dann in Bonn habilitierte. Vorher war er Schüler von Joseph Lortz gewesen, der eine Zeitlang auch in Münster doziert hatte. Vor dem Antritt der Stelle in Trier wurde ihm vom Bischof bedeutet (auf einen Wink vom Vatikan), er solle sich künftig «einer weniger kritischen Art befleissigen».

Das tat er aber nicht; schon als Student hatte er gegenüber dem berühmten Philosophie- Professor Peter Wust eine persönliche Meinung geäussert, die dieser gar nicht schätzte; Wust forderte zwar in seiner Philosophie den Dialog, war aber selber dazu nicht fähig. Als Professor in Trier untersuchte Iserloh den «Heiligen Rock», der bis heute Pilgermassen anzieht. In einer ausgewogenen Studie stellte er fest, dass der Rock historisch gesehen nicht das Gewand Christi gewesen sein könne, aber einen immensen symbolischen Wert habe. In die letzten Jahre seiner Trierer Zeit fällt der Paukenschlag mit den Wittenberger Thesen.

Der Ablasshandel und seine Folgen

Leben und Werk Iserlohs wie die spezielle Thematik um die Ablassthesen werden in einem fesselnden Werk ausgebreitet, das weit über das historisch begrenzte Thema hinausführt. Denn eine so geschichtsmächtige Szene und ihre Überlieferung berührt die innersten Sensibilitäten, und es braucht sorgfältige Kenntnisse und eine didaktische Begabung, um eine historische Neubewertung in die Wege zu leiten. Dies kann anhand eines neuen Buches leicht nachvollzogen werden.1 Der Ablass ist heute weder theologisch noch pastoral vermittelbar. Er bedeutete einen Nachlass nicht etwa der Sündenschuld – das geschah durch die Lossprechung in der Beichte – sondern der fortbestehenden «Folgen der Sünde», die durch die so genannten «zeitlichen Sündenstrafen» vermindert bzw. getilgt werden konnten. Ihr Beginn ist in die Kreuzzugszeit zu legen. Die Päpste haben dann Ablassbriefe erlassen, die man kaufen konnte (zur Erlangung eines geistlichen Vorteils musste man eine materielle Gegengabe leisten), und so schrieb Leo X. zur Finanzierung des Petersdomes 1507 einen vollkommenen Ablass aus.

Die christlichen Fürsten erlaubten das Predigen des Ablasses meist nur, wenn sie Anteil am Erträgnis bekamen. In der Heimat des gelehrten Augustinermönchs und Theologieprofessors Martin Luther stand die Sache so: «Albrecht von Brandenburg war 1513 als 23-jähriger Jüngling Erzbischof von Magdeburg und Administrator von Halberstadt geworden. Schon im nächsten Jahr postulierte das Mainzer Domkapitel den leichtsinnigen Hohenzollernsprössling auch noch zum Erzbischof und Kurfürsten von Mainz» (S. 170). Das alles hätte ihn 24 000 Golddukaten Abgaben an den heiligen Stuhl gekostet. Um sie bezahlen zu können, hatte er die Summe im Bankhaus der Fugger geliehen. Und der Papst erlaubte ihm grosszügig, die Hälfte der Ablasspredigt-Einnahmen zur Abzahlung der Schuld zu behalten.

Das war der Tropfen, der bei Luther das Fass zum Überlaufen brachte. Er hatte existenziell und theologisch schon lange mit Fragen der Kirchenreform gerungen, aber was hier geschah, war unerträglich. Er formulierte 95 Thesen, um seine Einwände zu begründen, und schickte sie einigen Kirchenfürsten zu. Er hätte damals noch grundsätzlich die Ablasslehre beibehalten, es ging ihm um die grässlichen Missbräuche (z. B. dass Prediger ihre Dirnen mit Ablasszetteln «bezahlten»). Er hätte die Autorität des Papstes noch anerkannt, aber die Übertreibungen des Ablasspredigers Tetzel mussten abgestellt werden. Aber die Bischöfe reagierten nicht – und die Reformation nahm ihren Lauf, der schliesslich zu einer Trennung Luthers von der Papstkirche führte, mit allen Folgen durch die Jahrhunderte hindurch, die wir kennen. E rst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders dank der Forschungen von Lortz, Jedin und Iserloh (um im deutschen Sprachbereich zu verbleiben), näherte man sich wieder gegenseitig an, und seither kann man ohne konfessionelle Belastungen Geschichtsforschung betreiben. Denn niemand hat Luther gesehen, als er die Thesen anschlug; jene, die davon sprachen, waren damals nicht in Wittenberg, und Luther selber hat es auch nie behauptet.

Gelehrtengeplänkel

1961 aber, als die These von Iserloh wie eine Fackel lichterloh aufleuchtete, war man noch nicht so weit. Einige protestantische Forscher widersprachen, nicht gerade mit sehr überzeugenden Argumenten, und einige scheuten auch nicht vor Verunglimpfungen zurück; Iserloh antwortete jeweils mit spitzer Feder. Heute ist das Resultat fast einhellig anerkannt, wie das Vorwort des evangelischen Landesbischofs Friedrich Weber und der Forschungsbericht von Volker Leppin zeigen. Eine vollständige Bibliografie und zusätzliche biografische Angaben von Barbara Hallensleben und Erwin Iserloh selber runden die fesselnd geschriebene Biografie ab. Der Anlass – die inkriminierten Texte von Iserloh – sind mit abgedruckt. Beiläufig kann man auch die Ballette mitansehen, die an Theologischen Fakultäten um die Besetzung von Lehrstühlen getanzt werden; den Eingeweihten werden sie bekannt vorkommen. Fazit: Nicht Luther hat die Papstkirche verlassen, eher muss man folgern, die nachlässigen Bischöfe und Päpste hätten ihn hinausgetrieben. Und sollte er dann «eine Kirche nicht im eigentlichen Sinn» begründet haben, wie ein Präfekt der Glaubenskongregation sie einmal definierte? Da gäbe es wohl noch einiges zu revidieren.

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Standardwerk zur Reformation

Das spannende Buch über Erwin Iserloh lädt dazu ein, sich mit der in letzter Zeit leider etwas vernachlässigten Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts intensiver zu befassen. Hier lohnt sich der Hinweis auf das Standardwerk des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann, der die Reformation in einen grösseren Kontext stellt, nicht einfach auf die Reformatoren bezogen: Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. (Verlag der Weltreligionen) Frankfurt a. M . 2009, 954 S. (vgl. dazu E.-M. Faber in: SKZ 38 / 2012, S. 605–607).

1 Uwe Wolff: Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt. Herausgegeben von Barbara Hallensleben. Mit einem Geleitwort von Landesbischof Friedrich Weber und einem Forschungsbeitrag von Volker Leppin [= Studia Oecumenica Friburgensia 61]. (Institut für Ökumenische Studien der Universität Freiburg Schweiz / Friedrich Reinhardt Verlag) Basel 2013, 272 S .

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).