Franziskanische Brüderlichkeit

Einfluss von Spiritualität auf Rechtsentwicklung

Franziskus von Assisi hat mit seiner Spiritualität der Brüderlichkeit (die immer Schwesterlichkeit impliziert) auf existentielle Weise neue Dynamik in die Kirche gebracht. Dass Jahrhunderte später in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 exakt dieser Begriff der Brüderlichkeit für die ganze Menschheit in den Menschenrechten aufgenommen wird, hat er wohl nicht zu träumen gewagt.

Ebenfalls erst im 20. Jahrhundert findet die Spiritualität der franziskanischen Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit in kirchenamtlichen Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils Eingang. Seit diesem Konzil sind wieder 50 Jahre vergangen. Grund genug, um nachzudenken, welche Bedeutung dieser Aspekt franziskanischer Spiritualität für eine weitere theologische Entwicklung hinsichtlich der gleichen Würde aller "Christgläubigen" (GS 31)1 hat, die bei Franziskus unter dem Begriff der Brüderlichkeit beschrieben wird.

Da das Zweite Vatikanische Konzil Gedanken der Menschenrechte (die selber ebenfalls "Brüderlichkeit " und inkludiert "Schwesterlichkeit" beinhalten) aufnahm, können wir sozusagen mit franziskanischer Brille betrachten, inwieweit auf dieser Basis sich die Spiritualität der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit im Kirchenrecht, im "Codex Iuris Canonici" der lateinischen Kirche von 1983 niedergeschlagen hat.

1. Zeitgeschichtliche Hintergründe

Franziskus von Assisi lebt von 1182 bis 1226, also in der Zeit des ausgehenden Hochmittelalters. Er ist von seinem geschichtlichen Kontext geprägt. In einem intensiven inneren Ringen, in einem langsamen Wandlungsprozess, befreit er sich davon und schreibt selber Kirchengeschichte.

Drei Stände sind tragendes Gerüst der statisch aufgebauten mittelalterlichen Gesellschaft: Kleriker – Adel – Volk (Bauern, Arbeiter, Kaufleute). Die Kleriker haben offiziell, sowohl kirchenrechtlich als auch von der gängigen kirchlichen Praxis her, eine klar privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Franziskus verzichtet bewusst auf diese soziale Absicherung und den damit verbundenen gesicherten Lebensstandard. Er will auf der Seite der Armen stehen. Das ausschweifende Leben der Kleriker sowie ihre moralische Laxheit sind bezeichnend. Nicht das geistlich-spirituelle Moment ist ihr Lebensmittelpunkt, sondern die Aufrechterhaltung ihres Reichtums und Ansehens. Die Gläubigen wenden sich mehr und mehr von ihnen ab. Sie beginnen, ihr Glaubensleben mit grosser Intensität und Lebendigkeit unabhängig vom Klerus selber zu gestalten. Dazu organisieren sie sich Ende des 12. Jahrhunderts in zahlreichen Bewegungen. Katharer, Waldenser, Humiliaten, Beginen und Begarden sind die bedeutendsten unter ihnen. Am dritten Laterankonzil 1179 werden sie als häretisch verurteilt und später durch die Inquisition verfolgt. Die Humiliaten und die Franziskaner schaffen es, als Orden anerkannt zu werden und somit überleben zu können.

2. Revolutionär neue Ordnung im Orden von Franziskus

Franziskus durchbricht mit seinem Leben die Ständeordnung seiner Zeit. Er zieht als junger Mann und Sohn eines reichen Kaufmanns als Ritter in den Krieg. Dann folgt er seiner inneren Stimme mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, führt ein Leben in Gebet und Busse – all das ohne kirchenrechtliche oder pastoraltheologische Absicherung. Sein Handlungsgrund ist das Hören auf das Wort Gottes. Dieses Hören ist für ihn neben der Eucharistie die wichtigste Quelle für seine Beziehung zu Jesus Christus.

Bald schliessen sich Gefährten an. Bereits der zweite von ihnen, Petrus Catanii, ist Priester. Ein Priester, dem obersten Gesellschaftsstand zugehörig, unterstellt sich einer Gemeinschaft, die ihre Regel von einem Laien aus dem untersten Gesellschaftsstand erhalten hat. Franziskus nennt die Gemeinschaft, die er gegründet hat, auch bewusst und betont "Brüderschaft" (BrOrd 2).2 Franziskus stellt die in den Klöstern als auch die in der Kirche im Allgemeinen vorhandene Hierarchie auf den Kopf. Die Oberen in seinem Orden werden "Minister", also Diener genannt. Die zentrale Idee der Brüderlichkeit bringt alle Unterschiede unter den Menschen zu einem Ende und führt zur Auflösung aller Klassen und Gesellschaftsstände. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass Franziskus aus der Schicht der reichen Bürgerlichkeit, und damit aus dem untersten Stand kommt, der im Kampf gegen den Adel steht. Bezeichnenderweise stammt Klara von Assisi, die erste Frau, die von der Idee des Franziskus begeistert selber ein klösterliches Leben beginnt, aus dem Adel.

Im Gegensatz zu vielen Gläubigen achtet Franziskus den Klerikerstand. Seine Achtung den geweihten Priestern gegenüber und gleichzeitig das als "Laie" von ihnen Gehorsam und Armut verlangende Prinzip in seinem entstehenden Orden ist bezeichnend.

Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil wird diese gleiche Wertschätzung von beidem, sowohl dem geweihten als auch dem allgemeinen Priestertum gegenüber, wieder aufgegriffen.

3. Brüderlichkeit bei Franziskus

In der Sprache, die Franz von Assisi verwendet, ist das Wort "Bruder/Schwester" eines der wichtigsten. Franziskus bringt damit die gemeinsame Würde aller Menschen zum Ausdruck: Egal ob sie jung oder alt, arm oder reich sind, ob es Männer oder Frauen sind, Mitglieder seiner Gemeinschaft oder Aussenstehende, alle sind Geschwister, und im Sonnengesang bezieht er sogar die Schöpfung darin ein: Jedem und jeder will Franziskus Bruder sein.

Der franziskanische Begriff der Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit meint konkret: Verbindlichkeit in menschlichen Beziehungen und ein Miteinander, das das Wohl des anderen im Auge hat. Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit beinhaltet Konfliktfähigkeit, Versöhnungsbereitschaft und vertraut darauf, dass Gott in seinem Geist ein gelingendes Miteinander schenkt.

Wenn Franziskus in einer Phase seiner Brüdergemeinschaft, als sie sich in ersten Formen franziskanischer Gemeinschaften niederlassen, die Amtsträger als "Mütter" (RegEins 1)3 bezeichnet, ist das für seine Zeit ein totales Novum: Kleriker im Franziskusorden sind nicht mehr Herren über die anderen, sondern sollen allen Brüdern, auch den Nicht-Klerikern, liebevolle Zuwendung entgegenbringen.

"Wenn einer in Not ist, soll er erleben, dass der Bruder wie eine zuhörende und bergende Mutter ist. Wenn einer schuldig geworden ist, soll er wissen, dass ein Bruder verständnisvoll sein Ohr leiht und die Vergebung Gottes vermittelt. Wenn einer krank ist, soll er um das bitten, was er braucht, und soll nicht auf taube Ohren stossen. Wenn einer in die Krise der franziskanischen Berufung gerät, dann soll er keine Angst haben müssen, zu einem anderen zu gehen. Jeder Bruder muss sich als Zuhörer verstehen, der ohne Vorurteil und mit viel Einfühlung hört und dann das Notwendige tut, um die Not zu wenden. Darum ist hören immer mit ‹dienen› verbunden. Der Bruder ist als Hörer zugleich der Diener des anderen. Und der andere ist in seiner Not zugleich der Herr, dem man dienen muss."4 Hier drehen sich Haltungen radikal um.

Universale Bruderschaft im Sonnengesang

Franziskus versteht in seinem Innern Jesus als seinen Bruder. Von dieser Beziehung ausgehend umfasst er die ganze Schöpfung in dieser Geschwisterlichkeit.

"Der Sonnengesang ist das Lied kosmischer Bruderschaft, Bruder und Schwester sind urchristliche und im erweiterten Sinn urfranziskanische Worte, denn erst Franziskus hat sie konsequent auf die ganze Schöpfung übertragen. (…) Die Sonne ist höchste und erste Kreatur, die den Brudernamen [und in der deutschen Sprache den Schwesternnamen, Anmerkung der Verfasserin] empfängt, ebenso die Erde, als Letztes der Tod. Damit sind die äussersten Grenzen kosmischen und existentiellen Seins Erfahrung genannt. Trotz des Ausgriffs in die Weite des Universums lässt der Sonnengesang doch alles als nah erleben. Franziskus kommt sich nicht verloren vor im All, vielmehr ist ihm durch die Anrede ‹Bruder› und ‹Schwester› alles innig verbunden und vertraut. Jede Kreatur empfängt ein brüderliches oder schwesterliches Antlitz."5

4. Brüderlichkeit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO 1948

Im Aufgreifen der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit in der Französischen Revolution wird eine Überwindung der Ständeordnung des Ancien Régime eingeleitet. Der Gebrauch des Begriffs "Bruder/Schwester" in der weiteren Geschichte bis zu seinem Auftauchen im ersten Artikel der UNO-Menschenrechtsdeklaration kann bis zu seinen biblischen Wurzeln zurückverfolgt werden.

Dennoch wurde Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen in Paris verabschiedet wurden, bewusst abstrakt formuliert: "Alle Menschen sind frei geboren und gleich an Würde und Rechten. Alle haben Vernunft und Gewissen und sollten untereinander im Sinne der Brüderlichkeit handeln."6

Natürlich liegt es für uns Christen nahe, hierbei die biblische Tradition und darüber hinaus dessen radikale Aktualisierung in der Spiritualität des Franziskus mitzudenken. Ein christlich-biblischer Verweis auf die Gottebenbildlichkeit hätte jedoch Menschen aus den biblischen Traditionen Vorteile gebracht und den anderen Menschen den vollen Zugang zur Menschenwürde abgesprochen. Der Universalismus sollte nicht in Frage gestellt werden.

"Die Menschenrechte sind universal, unteilbar, unveräusserlich und egalitär."7 Menschenrechte antworten auf öffentlich artikulierte Unrechtserfahrungen. So bilden sie eine historisch unabgeschlossene Lerngeschichte, nicht nur für das gesellschaftliche Leben, sondern auch für die verschiedenen Religionsgemeinschaften. Das Christentum ist davon ebenso betroffen. Werden Menschenrechtsstandards nicht nur von der Vergangenheit her verstanden, sondern von ihren normativen Ansprüchen her, dann muss man realisieren, dass sie weit in die Zukunft hinein verweisen. Denken wir nur an den global sich vollziehenden Umbruch im Geschlechterverhältnis von Mann und Frau, der von Soziologen für die wichtigste kulturelle Revolution des neuen Jahrtausends gehalten wird. Die Franziskanerin Margareta Gruber wirbt in einer vielbeachteten Rede vor der Deutschen Bischofskonferenz im Februar 2013 um ein gutes Miteinander von Männern und Frauen in der Kirche als einem vom Evangelium geprägten Le bensraum. "Es geht (…) darum, im Leben, in der Glaubenserfahrung, im Kirche-Sein von Frauen einen Selbstvollzug der Kirche anzuerkennen. Dies wird nur in einem langen, vom Konzil angestossenen "kollektiven Konversionsprozess" geschehen können, bei dem die Frauen aktiv beteiligt sind und selber zu Wort kommen, auch auf theologischer Ebene."8

Die Spiritualität der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit des Franziskus kann dabei wesentliche mentale Stütze und Ansporn sein.

5. Brüderlichkeit in Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils

Das Zweite Vatikanische Konzil folgt in einigen Texten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Konzilserklärung zur Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" bekennt sich zur Würde des Menschen als Grundlage des Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft und stellt fest: "Das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet" (DH 2).

Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" begründet diesen Gedanken bibeltheologisch mit der Ebenbildlichkeit Gottes und betont, dass "die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden" muss (GS 29).

Gemeinsame Würde aller Getauften

Die Dogmatische Konstitution über die Kirche "Lumen Gentium" wendet diesen Gedanken der Gleichheit aller Menschen auf die Christen und Christinnen an und begründet diese mit der Taufe: "Eines ist also das auserwählte Volk Gottes: ‹Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe› (Eph 4,5); gemeinsam die Würde der Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der Kindschaft, gemeinsam die Berufung zur Vollkommenheit, eines ist das Heil, eine die Hoffnung und ungeteilt die Liebe. Es ist also in Christus und in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht; denn ‹es gilt nicht mehr Jude und Grieche, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr einer in Christus Jesus› (Gal 3,28 griech.; vgl. Kol 3,11)" (LG 32).

"Lumen Gentium" nennt die Laien "die Christgläubigen, die durch die Taufe Christus einverleibt, zum Volk Gottes gemacht und des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig" sind und die "zu ihrem Teil die Sendung des ganzen christlichen Volkes in der Kirche und in der Welt ausüben" (LG 31). An diesem dreifachen Amt hat jede getaufte Person Anteil. Das ist die gemeinsame Basis für Laien, Angehörige des geweihten Lebens und Kleriker. Alle haben Anteil an der Sendung des gesamten Gottesvolkes in Kirche und Welt.

Das Zweite Vatikanische Konzil greift sogar das franziskanische Wort "Brüderlicheit" expressis verbis auf, wenn es das Amt eines Bischofs beschreibt. "Wie die Laien aus Gottes Herablassung Christus zum Bruder haben, der obwohl aller Herr, doch gekommen ist, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (vgl. Mt 20,28), so haben sie auch die geweihten Amtsträger zu Brüdern" (LG 32). Christus ist unser Bruder, also ist sein Amtsvertreter ebenfalls Bruder.

Diese Brüderlichkeit wird mit einem Zitat des heiligen Augustinus untermauert: "Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, da tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes bezeichnet das Amt, dieses die Gnade, jenes die Gefahr, dieses das Heil" (LG 32). Franziskus hat diese geschwisterliche Gleichheit, die das Zweite Vatikanische Konzil hier fordert, in seiner Brüdergemeinschaft und darüber hinaus mit allen Menschen, denen die Brüder begegneten, gelebt. Er hat somit wieder entdeckt und gleichzeitig lebenspraktisch umgesetzt, was Augustinus bereits im 4./5. Jahrhundert nach Christus formuliert hat.

Was im Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr auftaucht, ist der franziskanische Gedanke der umfassenden kosmologischen Bruderschaft/Schwesternschaft.

6. Die Gleichheit aller Gläubigen im Kirchenrecht von 1983

Die Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils hat wie auf vielen anderen Gebieten auch bezüglich des auf Brüderlichkeit oder Gleichheit basierenden gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen Einfluss auf das Kirchenrecht genommen. Bedauerlicherweise wird im Kirchenrecht von 1983 jedoch ein Laienbegriff verwendet, der durch eine Negativ- Bestimmung gekennzeichnet ist. So wird der Laie als eine Person beschrieben, die das Sakrament der Weihe nicht empfangen hat und auch keiner Ordensgemeinschaft angehört (vgl. can. 207 § 1 und § 2/CIC 1983). Dennoch wird im Kirchenrecht an der Gleichheit aller Gläubigen und am gemeinsamen Priestertum festgehalten.

Noch im kirchlichen Gesetzbuch von 1917 (CIC 1917) wird eine deutliche Trennungslinie zwischen Laien und Klerikern gezogen. Der "Codex Iuris Canonici" von 1983 ändert unter dem Einfluss der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils diese einseitige Sicht ab. Dies geschieht zunächst durch die Einführung des Begriffes der "Christifideles, Gläubige" (can. 204 § 1/CIC 1983), die die Begriffe des Klerikers und des Laien überschreitet. "Gläubige, Christifideles" sind jene, die durch die Taufe Christus eingegliedert, zum Volke Gottes gemacht und dadurch auf ihre Weise des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaft geworden sind; sie sind gemäss ihrer je eigenen Stellung zu der Sendung berufen, die Gott der Kirche zur Erfüllung in der Welt anvertraut hat" (can. 204 § 1/CIC 1983).

Nicht mehr das Trennende, sondern das Verbindende wird gesucht: "Unter allen Gläubigen besteht (…) eine wahre Gleichheit in der Würde und Tätigkeit, in der alle gemäss der eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken " (can. 208/CIC 1983).

Der Grund der wahren Gleichheit liegt in der "Wiedergeburt in Christus" (can. 208/CIC 1983), also in der Taufe. Der Kirchenrechtler Urs Brosi bringt diese Gleichheit als Beispiel für ein Offenbarungsrecht ("ius divinum positivum"):9 "Die Gleichheit unter allen Gläubigen in Bezug auf Würde und Tätigkeit (can. 208) wird abgeleitet von Gal 3,28 und damit christologisch mit der Taufe begründet."10 In einer Fussnote fügt der Autor hinzu: "Die Gleichheit unter den Gläubigen könnte auch naturrechtlich begründet werden."11

Rainer Bucher, Professor für Pastoraltheologie in Graz, schreibt über das pilgernde Volk Gottes, wie die Kirche vom Zweiten Vatikanischen Konzil genannt wird: "Die volle priesterliche Wirklichkeit des Gottesvolkes ist erst mit dem Zusammenwirken von besonderem und gemeinsamen Priestertum erreicht (…). Die katholische Kirche definiert ihre Pastoral nicht mehr im Horizont ihrer kirchlichen Institutionalität, sondern ihre Institutionalität im Horizont ihres pastoralen Grundauftrages. Daher sind auch nicht Über- und Unterordnungsverhältnisse in ihr das primäre Zuordnungsprinzip der Mitglieder der Kirche, sondern der jeweilige spezifische Beitrag zum gemeinsamen pastoralen Heilsauftrag."12 Mit diesen Aussagen beschreibt der Autor eine Zielformulierung, für deren Umsetzung die Spiritualität der franziskanische Geschwisterlichkeit hilfreich sein kann.

Ein weiterer Fakt ist, dass die in can. 208/CIC 1983 angesprochene "wahre Gleichheit", die "vera aequalitas", in anderen "canones", die das Ämter-, Weihe- und Kleriker-Recht zum Ausdruck bringen, eine Ungleichheit als Ausgangspunkt oder Folge aufzeigen, was die Stellung von Mann und Frau in der Kirche betrifft. Die Vision von der Geschwisterlichkeit des Franziskus findet hier keinen Niederschlag. Die franziskanische Spiritualität der Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit im Sinne einer gleichen Würde aller Getauften könnte hier für eine Rechtentwicklung ein Korrektiv sein, was die materiale Richtigkeit so mancher diesbezüglichen "canones" betrifft.

7. Zusammenfassende Schlussbemerkung

Die franziskanische Spiritualität der Brüderlichkeit/ Schwesterlichkeit, die eine umfassende theologische Begründung für die Gleichheit des Menschen zum Ausdruck bringt, kann in Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils von seinem Ansatz her wieder gefunden werden. Das II. Vaticanum wie auch das Kirchenrecht von 1983 beziehen sich dabei auf die Taufe als Begründung für diese Gleichheit. Franziskus war einen Schritt weiter gegangen: In seiner kosmischen Dimension der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit stehen nicht nur die Getauften, sondern alle Menschen, ja sogar die ganze Schöpfung in brüderlicher-schwesterlicher Beziehung zueinander.

Die Spiritualität des Franziskus von Assisi ist zukunftsweisend. Sie kann Hilfe sein, den Rechtssatz der Allgemeinen Menschenrechte "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren" besser zu verstehen und damit Provokation im Sinne einer Herausforderung gegenüber allen religiösen Traditionen zu bleiben. Daneben kann die franziskanische Spiritualität der Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit in ihrer kosmologischen Dimension auch theologische Quelle für eine Weiterentwicklung der Gleichheit und Würde des Menschen, von Mann und Frau, auch im Sinne des allgemeinen Priestertums sein. 

1 Auf "Gaudium et Spes", die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, die am 7. Dezember 1965 verabschiedet wurde, wird die SKZ später vertieft eingehen.

2 "BrOrd 2" bezeichnet die Abkürzung für "Brief an den gesamten Orden", 2. Satz, in: Lothar Hardick / Engelbert Grau (Hrsg.): Die Schriften des Heiligen Franziskus von Assisi. Werl/ Westfalen 81984, 89.

3 "RegEins 1" bedeutet: Regel für Einsiedeleien, Satz 1, in: Hardick u. a., Schriften (wie Anm. 2), 206.

4 Anton Rotzetter / Willibrord-Christian van Dijk / Thadée Matura (Hrsg.): Franz von Assisi. Ein Anfang und was davon bleibt. Zürich 1988, 75.

5 Wilhelm Egger / Leonhard Lehmann / Anton Rotzetter (Hrsg.): Fernkurs franziskanische Spiritualität. Waldbreitbach 1983–1984, Lehrbrief 17, 12.

6 Otto Böhm / Doris Katheder: Grundkurs Menschenrechte. Die 30 Artikel. Kommentare und Anregungen für die politische Bildung, Band 1. Würzburg 2012, 72 f.

7 Heiner Bielefeldt: Universalität und Gleichheit, in: Arnd Pollmann / Georg Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2012, 35.

8 Margareta Gruber OSF: Vortrag zum Studientag "Das Zusammenwirken von Frauen und Männern im Dienst und Leben der Kirche" in der Frühjahrs- Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 20. Februar 2013 in Trier, in: Pressemitteilung der DBK. Bonn 2013, 9.

9 Offenbarungsrecht meint zwingend unveräusserlich, gottgegeben, von der Bibel abgeleitet.

10 Urs Brosi: Recht, Strukturen, Freiräume. Kirchenrecht. Zürich 2013, 24.

11 Ebd

12 Rainer Bucher: Offenkundig gefährdet. Zur Lage des Weihepriestertums im priesterlichen Gottesvolk, in: Herder Korrespondenz 68 (2014), Heft 11, 572–576, hier 575.

Sr. Franziska Mitterer

Franziska Mitterer

Sr. Franziska Mitterer ist zurzeit Mitglied der Generalleitung der internationalen Ordensgemeinschaft der Schwestern vom Heiligen Kreuz, Menzingen