Frage richtig gestellt?

Frank Jehle stellte Ernst Tremps Studie zu den Konzilsbildern der Decke der Stiftsbibliothek in St. Gallen unter dem Aspekt der katholischen Aufklärung vor.1 Hans Haselbach weist nun auf das vollständige Bildprogramm.

Frank Jehle findet es bemerkenswert, dass nicht das Tridentinum, sondern die Konzilien von Nicäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalcedon abgebildet sind, und erinnert an die Bemühungen eines Georg Calixt bzw. Johann Salomo Semler, sich im Dialog zwischen den Konfessionen auf den gemeinsamen Nenner der ersten Jahrhunderte des Christentums zu besinnen.

Die vier Bilder sind gerahmt von einem grösseren Ecclesia-Bild im Norden und einem schmaleren im Süden mit 6 Mönchen beim Studium der Heiligen Sprachen und der Bibel und mit Joh 5,39 SCRUTAMINI SCRIPTURAS explizit zur Schriftlektüre auffordert. Da die Bibliothek – wie auch das Alphabet der Bücherschränke und die Abfolge der Konzilien beweisen – eindeutig von Norden nach Süden konzipiert ist, bildet das Ecclesia-Bild gleichsam die Überschrift zum ganzen Programm.

Wannenmacher stellt als Sinnbild der Kirche eine junge Frau vor, welche in weiss-goldenes Gewand gekleidet ist und die Insignien des Oberhirten, die Tiara, das dreifache Papstkreuz, den goldenen und eisernen Schlüssel für die Lösegewalt im Himmel und auf Erden führt. Als Zeichen des Priesteramtes hält sie den Kelch mit der Hostie. Das Kreuz hinter dem Arm mit den Schlüsseln dürfte die Quelle des Gnadenschatzes versinnbildlichen, den sie verwaltet. Das Lehramt wird durch den Putto mit der Bibel angedeutet. Die Kuppelkirche im Hintergrund erinnert an St. Peter in Rom.2 Über der Ecclesia schwebt die Taube des Hl. Geistes, und von ihr führt eine feurige Zunge zum Haupt der Kirche: Mutter Kirche vermittelt, erleuchtet vom Hl. Geist, die wahre Glaubenslehre, deren Fundament in den Konzilien gelegt wurde und auf der Bilderdecke folgt. Diesen Auftakt sollte man deutend nicht ausser Acht lassen.

Deutung in den Kartuschen

Das Gleiche gilt für die vier Bibelzitate in den Kartuschen zwischen den fünf Hauptbildern. Sie liefern den Schlüssel zur Deutung und die Perspektive, in der die Bilder zu lesen sind. Das erste Zitat, zwischen dem Ecclesia-Bild und jenem vom Nicaenum, entstammt dem Wort, mit dem Jesus Petrus zum Felsen beruft, auf den er seine Kirche bauen will, und ihm die Schlüsselgewalt übergibt: «NON PRAEVALEBUNT.»3 Damit wird der Anspruch des Ecclesia- Bildes unterstrichen und den Rechtgläubigen sowie deren Vertretern Mut für den Fall von Anfeindungen gemacht.

Das zweite Zitat ist das einzige, das nicht im Futur steht. Es stellt die vier abgebildeten Konzilien in eine Tradition, die mit dem Apostelkonzil in Jerusalem beginnt. Dort ging es um die Frage, ob sich Heiden beschneiden lassen müssen, um Christen werden zu können. «VISUM EST SPIRITUI SANCTO ET NOBIS» (Apg 15,28) heisst es im Schreiben, mit dem sich die Apostel nach der Versammlung in alle Welt aufmachten: «Es hat dem Heiligen Geist und uns gefallen, euch weiter keine Last aufzuerlegen.» Die christliche Heilsbotschaft gilt also der ganzen Welt. Die Kirche ist im ursprünglichen Sinne «katholisch», d. h. universal.

Die beiden andern Zitate sind wieder Verheissungen. «DOCEBIT VOS OMNEM VERITATEM.» (Joh 16,13) stammt aus der grossen Abschiedsrede beim Abendmahl, wo Jesus von seinem bevorstehenden Weggang spricht, die Jünger aber tröstet mit der Zusage, dass er ihnen den Heiligen Geist senden werde: «Er wird euch zur vollen Wahrheit führen.» Die letzte Inschrift an der Decke «ECCE EGO VOBISCUM.» stammt vom Schluss des Matthäusevangeliums (28,20), wo Jesus, dem «alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden», die Jünger ausschickt, alle Völker das zu lehren, was er ihnen aufgetragen hat, und ihnen verspricht: «Seht, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.»

Die Gesamtheit der vier Zitate, welche übrigens an die Inschriften im Petersdom erinnern, gibt eine recht klare Lese- und Interpretationshilfe: Die Kirche ist berufen, die Lehre Jesu zu verkünden und sein Erbe zu verwalten; dabei wird sie vom Heiligen Geist geleitet, weshalb sie alle Stürme überstehen und nie untergehen wird.

Frage richtig gestellt?

Weitere Beobachtungen (Kasten) zeigen die These einer ökumenischen Geste als eher unwahrscheinlich. Muss man nicht die Fragestellung an sich hinterfragen?

1. An wen war die Botschaft der Bilderdecke gerichtet? Wie viele reformierte Städter bekamen die Malereien überhaupt zu Gesicht? Die Bibliothek diente ja einzig den Mönchen und lag innerhalb der Klausur. Falls das Bildprogramm eine «politische» Dimension aufweist, wäre diese wohl eher im innerkirchlichen Bereich zu suchen. Damals immer wieder heftig diskutiert wurde das Verhältnis zwischen Papst und Konzil. Wer will, kann diesbezüglich in den fünf Bildern eine vorsichtig neutrale Positionierung sehen. An der romtreuen und in Sachen Papsttum eindeutigen Haltung des Abtes ist aber auch bei genauerem Einblick in seine Zeit nicht zu zweifeln.

2. Jehles Titelfrage «Orthodoxie oder Aufklärung?» suggeriert eine Alternative, die so scharf nicht sein muss. Es steht fest, dass Cölestin Gugger sich in seiner ganzen Amtsführung als geschickter Diplomat erwies. Die grösste Katastrophe in der Klostergeschichte, die Besetzung St. Gallens durch Zürcher und Berner in der Folge des Toggenburger Krieges, lag erst wenige Dezennien zurück; ihre Nachwehen überschatteten die Amtszeit Guggers bis weit in die Fünfzigerjahre. Wie es ihm gelang, jene Auseinandersetzungen schliesslich ganz beizulegen, könnte man auch in der konfessionellen Frage das Bildprogramm als geschickt und Polarisierungen vermeidend werten. Mit den grossen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts und den Kirchenvätern – nicht nur den vier bekannten des Westens, sondern auch jenen des Ostens – besinnt man sich auf das unverrückbare Fundament, auf dem man selber steht und als dessen Hüter man sich versteht, ein Fundament aber, das gleichzeitig andere Christen nicht ausschliesst.

 

Georg Calixt

Die Kantonsbibliothek besitzt fünf Werke von Georg Calixt. In der Stiftsbibliothek ist er mit der kleinen «Acatholica epistola» (6. Mai 1650, Helmstedt) vertreten, an seinen Freund Ranzovius: Er sei besorgt, dass dieser sich in Rom aufhalte und unter Einfluss von Jesuiten beginne, die päpstliche der reformierten Religion vorzuziehen. Wer sich der päpstlichen Religion anschliesse, trenne sich wegen des Unfehlbarkeitsanspruchs des Papstes von allen anderen Christen. Der Brief diente Ranzovius als Anlass für eine Antwort in Form einer «Catholica epistola» (Rom, 30. Sept. 1650).

1 Vgl. Frank Jehle: Orthodoxie oder Aufklärung? in: SKZ 185 (2017) 26–27.

2 M. Reistle: Joseph Wannenmacher, 1990, 318.

3 Mt 16,18: «Sie, die Pforten der Hölle, werden nicht stärker sein, werden die Kirche nicht überwältigen.»

Hans Haselbach

Dr. Hans Haselbach war Gymnasiallehrer für Latein. Seit seiner Pensionierung vor 5 Jahren betätigt er sich als Führer im Stiftsbezirk St. Gallen und forscht über die Bilderwelt der St. Galler Stiftsbibliothek und anderer barocker Klosterbibliotheken.