Vor 55 Jahren reiste der damalige Erzbischof von Wien, Kardinal Franz König, wie so oft nach Rom. Diesmal ging es nicht um kirchliche Angelegenheiten seines Bistums. König fuhr zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Weder er noch die anderen Bischöfe waren sich bewusst, dass sie für vier Jahre den Herbst nunmehr in Rom verbringen würden. Auch der damalige Bischof von Rom hatte keine präzise Vorstellung über die Dauer des Konzils: «Das Konzil hat begonnen, und wir wissen nicht, wann es zu Ende sein wird. Sollten wir bis Weihnachten nicht zum Ende kommen, weil es uns vielleicht nicht gelingt, bis zu diesem Tag alles zu sagen und die verschiedenen Themen zu behandeln, wird eine weitere Zusammenkunft nötig sein …»1 Johannes XXIII. war davon überzeugt, dass der Geist Gottes die Kirche mit dem Konzil in ein «neues Pfingsten» führen werde: «Dann (d. h.: als Frucht des Konzils) wird ohne Zweifel jenes heiss ersehnte ‹neue Pfingsten› aufleuchten, das die Kirche mit grösserer geistiger Kraft erfüllen … wird.»2 Seine eigene Aufgabe sah er darin, dies zu begünstigen.
Der Anfang vom Anfang
Vor allem in der römischen Kurie wollten viele das Konzil nach wenigen Wochen beendet sehen. Aber es kam anders: Schon in der ersten Vollversammlung am 13. Oktober 1962 probten vier Kardinäle3 mit Erfolg den Aufstand. Gegen eine übereilte Bestellung der Kommissionen – ein Verfahren, das die Bischöfe zum Durchwinken vorbereiteter Textentwürfe degradiert hätte. König habe ihn (Döpfner) am 12. Oktober auf die für 13. Oktober vorgesehene Wahl der Kommissionen aufmerksam gemacht. Döpfner vermerkt, «dass die diesbezügliche schriftliche Eingabe «von ihm (Frings), Card. König und mir unterzeichnet war.»4 «Man wollte uns die Kommissionen aus im Voraus angefertigten Listen, vorfabriziert, konstituieren lassen», formuliert Kardinal Léon-Joseph Suenens (Brüssel-Mechelen) im Rückblick.5 Dom Helder Camara (damals Weihbischof in Rio de Janeiro) analysiert die erste Arbeitssitzung treffend: Der Episkopat hat «einen ersten Beweis für seine Entscheidungsfähigkeit erbracht: Er weigerte sich, voreilig verbindlich vorgefertigte Listen zu akzeptieren bzw. darüber abzustimmen. Stattdessen wurde entschieden, dass die einzelnen Bischofskonferenzen Namen vorschlagen sollten, und dann würde gemeinsam abgestimmt. Das heisst, die Bischöfe selbst wählen ihre eigenen Repräsentanten.»6
Die Klarheit des Glaubens verteidigen?
Tatsächlich waren die Textentwürfe für das Konzil von bescheidener theologischer Attraktivität: «Ich bemerkte sofort die Absicht der römischen Schule der Theologie, die von der traditionellen Linie beherrscht war, jeglichen Schritt nach vorn zu verhindern», erinnert sich Franz König an seine Mitarbeit in der Vorbereitenden Zentralkommission (1960 bis 1962).7 Léon-Joseph Suenens, seit 1962 ebenfalls Mitglied dieser Kommission, weiss um einen von Kardinal Paul-Émile Léger (Montréal) im August 1962 redigierten Protest mehrerer Kardinäle wegen der theologischen Mängel der Textvorlagen. Beteiligt waren neben Léger und Suenens noch Bernard Jan Alfrink (Utrecht), Döpfner, Frings, König und Liénart; auch Giovanni Battista Montini (Mailand, später Paul VI.) wurde angefragt.8 Karl Rahner begutachtete schon im Sommer 1961 für König diese Entwürfe und deren Autoren: «Professoren, die sich weigern, die Glaubensnot der Menschen von heute zu teilen; (…) Menschen, die sich nicht beunruhigen lassen durch die Fragen der heutigen Bibeltheologie, der heutigen Philosophie (…), von einer Mentalität, die meint, Gott einen Dienst zu erweisen, wenn sie diese innere Unbedrohtheit und diesen Geist des Ghettos als die wahre Klarheit des katholischen Glaubens verteidigt.»9 Suenens erinnert sich an eine «gute Zahl von Schemata (Entwürfen), die nach dem Stil des Heiligen Offiziums und überdies von diesem inspiriert waren.»10
Von Anfang an also «kein Konzil der Kopfnicker»11, dafür eher so, wie es Johannes XXIII. wollte. Er bemerkte an jenem 13. Oktober 1962 gegenüber Liénart: «Sie haben gut daran getan, ganz laut zu sagen, was Sie denken, denn dazu habe ich die Bischöfe zum Konzil einberufen.»12 Die erste Vollversammlung wurde zur «Geburtsstunde der Selbstbestimmung des Konzils».13 All das war nur «der Anfang vom Anfang»14: Edward Schillebeeckx berichtet von einer «Begegnung mit deutschen, französischen und Schweizer Bischöfen (und ihren Theologen), um die Taktik bezüglich des Liturgie-Schemas zu diskutieren.»15
Unumkehrbare Dynamik
55 Jahre danach ist eine Besinnung darauf geboten, was dieses Konzil ermöglicht hat. Der Wille der Kirchenversammlung erschliesst sich in seiner Leitfigur Johannes XXIII., in dessen Offenheit, das Konzil als Initiative von Gottes Geist geschehen zu lassen. Seine Eröffnungsansprache weist den Weg.16 Prägend ist darin unter anderen Gesichtspunkten die ökumenische Ausrichtung, die Johannes XXIII. dem Konzil und darüber hinaus der Kirchenzukunft programmatisch mitgegeben hat: «Ja, wenn wir es recht bedenken, bricht sich das Licht der Einheit, um die Christus für seine Kirche gebetet hat, in drei Strahlen: die Einheit der Katholiken untereinander, die als Vorbild ungebrochen bewahrt werden muss, die Einheit mit den vom apostolischen Stuhl getrennten Christen, deren Gebet und leidenschaftliche Hoffnung darauf abzielt, dass wir wieder zusammengeführt werden, endlich die Einheit, die die noch nicht christlichen Religionen mit der katholischen Kirche in Wertschätzung und Respekt verbindet.»17
Der Rückblick zeigt die Entwicklung von einer kurial geprägten Vorbereitungszeit über die Emanzipation der Konzilsväter zu Beginn hin zu einer weltkirchlichen Gemeinschaft. In synodaler Weise wurde versucht, Minderheiten mit einzubeziehen. Die Kirche erfuhr Dynamik, und sie erlebte sich als eine weltweite Glaubensgemeinschaft im Gespräch mit der Welt. Dieser Prozess gehört wesentlich zur Interpretation dieser Kirchenversammlung. Auch heute gilt, was Bischof Franziskus kurz nach Beginn seiner Tätigkeit als Bischof von Rom festgestellt hat: «Die Dynamik der aktualisierten Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist, ist absolut unumkehrbar.»18
Herausforderung für die Kirchenzukunft
Die angesprochene Kirchenerfahrung bildet mit den Dokumenten des Konzils die Herausforderung für die Kirchenzukunft. Denn Aggiornamento meint in jeder neuen Zeit, das von gestern Übernommene ins Heute und Morgen hinein zu übersetzen.19 Wenige Wochen nach Beginn seines Leitungsdienstes in Rom hat Bischof Franziskus allerdings auf die noch offenen Pendenzen hingewiesen: «Haben wir da all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? In der Kontinuität und im Wachstum der Kirche, ist da das Konzil zu spüren gewesen? Nein, im Gegenteil: Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern, und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen. So bekommt man törichte und lahme Herzen.»20 Wer möchte in Frage stellen, dass dies auch heute, 55 Jahre nach Beginn dieses Konzils, noch so ist: Zeit also für einen Weckruf.