Familientheologie

Prof. Dr. Stephanie Klein hielt das hier abgedruckte Referat am Studientag der Schweizer Bischofskonferenz vom 31. August 2015 in Bern.

Die Diskussionen im Vorfeld der Familiensynode kommen sehr schnell auf Ehe und Sexualität zu sprechen und bleiben an Reizthemen wie wiederverheiratete Geschiedene und gleichgeschlechtliche Partnerschaften hängen. Das Thema Familie gerät dabei aus dem Blickfeld.

Papst Franziskus hat aber zur Diskussion über die Familie eingeladen, und es ist jetzt der Kairos, das theologische Verständnis der Familie zu vertiefen.

Mein Anliegen ist es, zu einem konstruktiven theologischen Verständnis von Familie beizutragen, das dem Dialog zwischen Lehramt und Familien neue Perspektiven eröffnet.

I. Zur Situation

1. Ein unterschiedliches Familienverständnis in der Kirche und in der Gesellschaft

In der Kirche und in der Gesellschaft wird Familie unterschiedlich verstanden. Dies führt zu einer systematischen Fehlkommunikation und zu einer Vertiefung der Distanz zwischen lehramtlicher Rede und Normierung und lebensweltlicher Erfahrung der Menschen.

2. Familie aus der Sicht des kirchlichen Lehramts

Das kirchliche Lehramt leitet die Familie theologisch aus dem Sakrament der Ehe ab.

Es begreift die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft als einen Ehezweck; darüber hinaus ist die Familie aber nicht näher bestimmt. Familie kommt damit als die Aufgabe der Erziehung leiblicher Kinder in den Blick und wird, wie der katholische Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann schreibt, zu einer «sich selbst auflösenden Gruppe»,1 da dieser Ehezweck mit dem Mündigwerden der Kinder und dem Nachlassen der Zeugungsfähigkeit der Eltern erlischt. Es ist allerdings nicht notwendig, aus dem Zweck der Ehe die Definition und das Verständnis von Familie überhaupt abzuleiten. Die Konsequenz einer solchen Ableitung zeigt sich in dem Apostolischen Schreiben «Familiaris consortio», das alle Familiensituationen, die nicht aus der sakramentalen Ehe zwischen zwei katholischen Partnern hervorgehen, als «schwierig» oder «irregulär» bewertet und zur Aufgabe einer besonderen Familienpastoral macht.2

Diese Ableitung führt zu vier Aporien:

– Die Familienverhältnisse der Mehrzahl der Gläubigen werden als defizitär beurteilt (gegen ihren eigenen «sensus fidei»).

– Die Kinder werden über die Eheform der Eltern definiert, was zu einer leidvollen Geschichte der Diskriminierung von Kindern aus nichtehelichen Abstammungsverhältnissen und von unverheirateten Müttern führte.

– Die Delegation an die Pastoral nimmt nicht die faktische pastorale Situation der Kirche vor Ort zur Kenntnis. Die hauptamtlichen Mitarbeitenden müssen andere Prioritäten setzen, und die Engagierten in den Pfarreien leben selbst oftmals in Familienverhältnissen, die als schwierig oder irregulär bezeichnet werden.

– Und schliesslich: Indem die Ableitung der Familie aus der Ehe auch normativ an die Gesellschaft herangetragen wird, wird die in der Gesellschaft vorherrschende Familienrealität der Vielfalt von Familienformen als Verfallserscheinung wahrgenommen.

Ehe und Familie können auch als zwei unterschiedliche Grössen oder Institutionen angesehen werden, ohne dass der innere Zusammenhang von sakramentaler Ehe und Nachkommenschaft in Frage gestellt wird.

3. Die Selbstwahrnehmung der Familien und die Sicht der Gesellschaft

Die Soziologie, die Gesellschaft und die Familien selbst begreifen Familie als ein intergenerationales Verwandtschafts- und Beziehungsnetz. Es beruht auf einem komplexen Beziehungsgefüge, das ständig von den Familienmitgliedern konstituiert und aufrechterhalten wird. Darin stellt die lebenslange Ehe eine wichtige Lebensform dar, die rechtlich abgesichert ist. Zugleich sind in den letzten Jahrzehnten vielfältige familiare Beziehungs- und Lebensformen (die es immer schon gab) sichtbar und gesellschaftlich anerkannt sowie rechtlich abgesichert worden.

4. Familie aus Sicht der Kinder

Im kirchlichen Verständnis von Ehe und Familie werden die Kinder über das Eheverhältnis der Eltern definiert. Dies führte zur Diskriminierung unehelicher und nicht leiblicher Kinder, die bis heute nachwirkt. Diese Kinder können die Familie, in der sie aufwachsen, nicht als normal begreifen, deren Status von kirchlicher Seite her als defizitär oder «irregulär» definiert wird. Erst die zivile Familienauffassung hat ihnen eine eigenständige Rechtsstellung geschaffen. Das Familienrecht geht heute vermehrt vom Kindeswohl aus und versucht, die komplexen Familienverhältnisse in Sinne der Kinder zu regeln.

Die Entwicklungspsychologie hat aufgezeigt, dass die Entwicklung der Kinder nicht von einer bestimmten Form der Elternschaft oder der Familie abhängt. Wichtig sind psychische, soziale und materielle Ressourcen wie die Zufriedenheit und Zunei- gung der Eltern, die Tragfähigkeit des Beziehungsnetzes und die materielle Versorgung.3

Für die Kinder sind die soziale Anerkennung der Familienform, in der sie leben, und ihre rechtliche Absicherung von hoher Relevanz. Dies gilt auch für die kirchliche Anerkennung ihrer Familie. Werden ihre Familienverhältnisse als defizitär angesehen, oder verhindert die kirchliche Norm, dass die Eltern sich trennen und neue Beziehungen aufbauen können, die eine gewisse psychische und materielle Stabilität gewährleisten, dann kann dies den Kindern schaden.

Fazit: In der Gesellschaft hat sich eine Familienauffassung durchgesetzt, die sich am Wohl der Kinder und Partner orientiert. Diese Familienauffassung wird auch von sehr vielen Gläubigen als befreiend und ihrem Glauben entsprechend erfahren.

II. Zur Weiterentwicklung des theologischen Verständnisses von Familie

5. Keine Familientheologie …

Die Geschichte der katholischen Kirche hat bis heute keine Familientheologie entwickelt.4 Es gibt eine Ehetheologie, die die Ehe als eines von sieben Sakramenten sehr hoch bewertet, aber keine Theologie, die die Verwandtschaftsverhältnisse über den Ehezweck hinaus definieren oder sakralisieren würde, wie dies aus vielen Kulturen bekannt ist.

Der Verzicht auf die Entwicklung einer Familientheologie ist aber nicht als ein Defizit, sondern als ein befreiender Zug des Evangeliums zu betrachten, das darauf verzichtet, gesellschaftliche und familiäre Verhältnisse zu regeln, und dazu aufruft, in den jeweiligen kulturellen und zeitgeschichtlichen Verhältnissen «zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit» (Mt 6,33) zu suchen.

Er ermöglicht es, die unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen in Bezug auf die Familie und das Leben der Menschen in verschiedenen Familienkonstellationen in der westlichen Moderne auch theologisch zu respektieren. Er eröffnet dem Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft neue Perspektiven.

6. … aber ein theologisches Verständnis der Familien: die Familie vom Sakrament der Taufe her verstehen

Ein weiterführender Weg kann es sein, das Sakrament der Taufe als das Grundsakrament der Nachfolge Christi in das Zentrum der theologischen Überlegungen zu stellen. Dieser Ansatz akzentuiert die göttliche Berufung und Sendung eines jeden Menschen, egal in welchen Lebens- und Familienverhältnissen er lebt. Von diesem Ansatz her kann jeder Mensch gestärkt werden, ohne dass er zuerst nach seinen Familienverhältnissen beurteilt wird. Die Familie ist dann nicht mehr als ein Problem der Pastoral zu begreifen, sondern als ein ekklesiologischer Ort, an dem die Gläubigen als Subjekte der Kirche ihr Christsein in den kirchlichen Grundvollzügen zur Entfaltung bringen.

Das Sakrament der Taufe macht die Selbstmitteilung und Gnade Gottes sichtbar, die dem Leben eines jeden Menschen immer schon zugrunde liegt und nicht erst durch die Taufe kommt, sondern durch sie aktualisiert und sichtbar wird. Sie macht die je einzigartige Berufung und Sendung eines jeden Menschen durch Gott sichtbar, nicht nur die des getauften.5

In vielen heutigen Familien leben Familienmitglieder unterschiedlicher Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Schon jedes Kind entwickelt in unserer Gesellschaft eine eigene Glaubensüberzeugung, die sich im Lauf des Lebens permanent ändert und reift. So ist die Familie oftmals Ort des respektvollen Dialogs und Zusammenlebens sehr unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen.

Für die getauften Familienmitglieder hat die Gemeinde vor Ort eine wichtige Funktion als eine Gemeinschaft der christlichen Selbstvergewisserung, des gemeinsamen Gebets, der Einführung in den Glauben und des diakonischen Engagements. Wichtig ist zugleich die Gastfreundschaft der Gemeinde für die anderen Familienmitglieder.

7. Die sakramentale Ehe und ihre Nachkommenschaft im Kontext der Familie

Die Anerkennung der verschiedenen Familienverhältnisse in der Gesellschaft schmälert keineswegs die Würde der sakramentalen Ehe und ihrer Nachkommen. Gerade in der Pluralität der Familienverhältnisse kann die sakramentale Ehe als ein besonderes Zeichen der unverbrüchlichen Liebe Gottes zu den Menschen, der Menschen untereinander und der Gnade Gottes in den menschlichen Beziehungen sein, ohne dass dies durch die Abgrenzung von anderen Lebensformen oder ihre Abwertung herausgestellt werden müsste.

8. Die Zeichen der Zeit in den Familien entdecken

Die Kirche hat ausdrücklich «allzeit die Pflicht», auch in den Familien nach den «Zeichen der Zeit» zu suchen und sie «im Licht des Evangeliums zu deuten» (GS 4). Mit Zeichen der Zeit meint das Konzil Heilszeichen, die auf das Heil Gottes in der Welt und in der Kirche hinweisen.6

Als Beispiele nennt Papst Johannes XXIII. Errungenschaften der modernen Gesellschaft wie die Grundrechte der Menschen, die friedliche Konfliktlösung, die Deklaration der Menschenrechte oder die Würde der Frau.7

Solche Errungenschaften, solche Zeichen der Zeit können auch in den modernen Familien entdeckt werden, und zwar unabhängig von der Frage nach den Eheverhältnissen:

– Die Familie mit ihrem unterstützenden Beziehungsnetz stellt heute nach wie vor einen sehr hohen Wert im Leben der Menschen und eine Sehnsucht auch der jungen Menschen dar.

– Die Beziehungen in der Familie sind von den hohen Werten der Reziprozität, der Parität, der gegenseitigen Anerkennung und Förderung, der Verlässlichkeit und der Gewaltfreiheit getragen. Es gibt heute eine hohe Sensibilität dafür, dass ein Verstoss gegen diese Werte die Menschenwürde verletzt.

– Die Kinder werden vermehrt als Subjekte ihrer Lebensgestaltung begriffen und umfassend in ihren Fähigkeiten gefördert. Der Schutz des Kindes hat in der heutigen Gesellschaft ideell und rechtlich einen hohen Wert.

– Die Väter werden heute immer stärker in die Sorge um die Kinder einbezogen und werden dadurch für die Kinder erfahrbarer.

– Der Kommunikationsstil in den Familien hat sich von Befehlen und Gehorchen hin zu Erklären und Verstehen verlagert. Dies setzt bei den Eltern eine hohe kommunikative Kompetenz voraus, die zugleich von den Kindern erlernt wird.

– Die Familien sorgen sich oftmals über Jahre hinweg um alte, kranke und pflegebedürftige Familienmitglieder, häufig unter der Preisgabe eigener Lebensziele und bis an die Grenzen der persönlichen Belastbarkeit.

– Die Familien organisieren sich als weit vernetztes Solidaritätssystem der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Insbesondere in Migranten- und Flüchtlingsfamilien ist diese Unterstützung über die nationalen Grenzen hinweg organisiert. Die Familien erweisen sich dabei als erstaunlich belastbar. 8 In einer sich vermehrt entsolidarisierenden Gesellschaft sind die Familien damit auch Zeichen und Lernorte der Solidarität.

Alle diese Zeichen der Zeit können im Lichte des Evangeliums gedeutet und als Vollzüge christlichen Lebens verstanden werden.

 

Weitere Ausführungen zu den hier vorgestellten Gedanken:

Stephanie Klein: Die Vielfalt der Familien und das Sakrament der Taufe. Ansätze zu einem neuen theologischen Verständnis der Familien, in: Christian Bauer / Michael Schüssler (Hrsg.): Pastorales Lehramt? Spielräume einer Theologie familiarer Lebensformen. Ostfildern 2015, 51–67.

Stephanie Klein: Ehe und Familie zwischen Idealisierung, Geringschätzung und Alltagswirklichkeit. Ansätze zu einem neuen theologischen Verständnis der Vielfalt der Lebensformen, in: INTAMS review 18 (2012), 134–146.

Stephanie Klein: Kirche und Familien auf Distanz: Wie kann die Kirche eine Kirche der Familien sein?, in: INTAMS review 16 (2010), 164–173.

 

 

1 Franz-Xaver Kaufmann: Die Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen. München 1995, 28, im Original hervorgehoben.

2 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben «Familiaris consortio»,22. November 1981, 77–84.

3 Vgl. Martina Zemp / Guy Bodenmann: Partnerschaftsqualität und kindliche Entwicklung. Ein Überblick für Therapeuten, Pädagogen und Pädiater. Berlin-Heidelberg 2015.

4 So stellt auch der Freiburger Dogmatiker Peter Walter fest: «‹Familie› ist (…) offensichtlich kein Thema der dogmatischen Theologie » (Peter Walter: Einige Annäherungen an das Thema «Familie» aus theologiegeschichtlicher Perspektive, in: Nils Goldschmid / Gerhard Beestermöller / Gerhard Steger [Hrsg.]: Die Zukunft der Familie und deren Gefährdungen. Norbert Glatzel zum 65. Geburtstag. Münster 2002, 47–55, hier 47). Ich gehe hier davon aus, dass Theologien Heilswege Gottes reflektieren. Während die Kirche Zeichen und Werkzeug des Heils ist, ist die Familie wie etwa der Staat, die Demokratie oder der Betrieb selbst kein Heilsweg, aber in ihr kann das Heil Gottes erfahrbar werden und zum Ausdruck gebracht werden; vgl. Abschn. 7.

5 Zu denken wäre z. B. an die ungetaufte Mutter, die durch die Taufe ihres Kindes die Gnade Gottes und ihre göttliche Berufung auch in ihrem Leben erfährt.

6 In den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils werden als solche Zeichen der Zeit der wachsende Sinn für die Solidarität der Völker (AA 14), die Verankerung der Religionsfreiheit in den Staatsverfassungen (DH 15), die ökumenische Einheit (UR 4), die wachsende Anerkennung der Zuständigkeiten der Laien in der Kirche und das gemeinsame Verstehen der Zeichen der Zeit von Priestern und Laien (PO 9) sowie die Erneuerung der Liturgie (SC 43) genannt.

7 Papst Johannes XXIII. bezeichnet die Zeichen der Zeit in seiner programmatischen Eröffnungsansprache des Konzils als «Anzeichen (…), die eine bessere Zukunft der Kirche und der menschlichen Gesellschaft erhoffen lassen» (Papst Johannes XXIII: Apostolische Konstitution «Humanae salutis », 25. Dezember 1961, 4).

8 Vgl. Kaufmann (wie Anm,. 1), 159.

Stephanie Klein

Stephanie Klein

Prof. Dr. habil. Stephanie Klein ist ordentliche Professorin für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.