Einblicke in Evangelii Gaudium

James Hanvey liest 2013 Evangelii Gaudium (EG), das inhaltsreiche und ausserordentliche Schreiben von Papst Franziskus.1 Es ist voller Energie und Leidenschaft, getragen von den Absichten und Themen des Papstes, und spricht in fast prophetischer Dringlichkeit. Es lohnt sich, drei Jahre nach Erscheinen des Schreibens sich darin nochmals zu vertiefen.

Der Papst zeigt sich in EG als guter Homiletiker und Exerzitienmeister. Er scheut sich nicht, eine Art öffentliche, kirchliche Gewissenserforschung zu machen, in der er gesprächig und humorvoll ist und ohnehin schon bekanntes Versagen in der Kirche anerkennt. Das tut er in einer Art Unterscheidung des kirchlichen Geistes und in einer Weltverhaftetheit, mit denen er die Umwelt der gegenwärtigen Kirche mit dem Evangelium konfrontiert. Das ist sehr attraktiv und geistlich gesund für die Kirche und ihre Führung, der der Papst einige Veränderung zutraut. Wenn sie diese wagen, bringt ihnen das eine demütige, aber auch dynamische Freiheit und Integrität für das Gespräch mit der gegenwärtigen Welt, die voll des Guten ist, aber ebenso unter der Last ihres Versagens leidet.

Natürlich gibt es innerhalb und ausserhalb der Kirche nicht wenige Stimmen, die eine Diagnose ihrer Fehlerhaftigkeiten entwickelt haben und Besserungsvorschläge vorbringen. Mancher Analyse geht es aber mehr um Macht und Kontrolle als um wirkliche Hilfe. Evangelii Gaudium jedoch zeigt uns, dass ernsthafte Einsicht, die Schwachheiten und Angst nicht manipuliert, zu einem Verständnis verhilft, durch das man freier wird, zu Christus ein freudigeres Ja zu sagen, wo und wie immer man ihn trifft. Hier scheint im Papst die ignatianische Tradition der geistlichen Übungen am Werk zu sein.

Komplexe Herausforderungen

Der Papst beschreibt die Beziehung der Kirche zur modernen Welt in ihrer ganzen Komplexität. Er begegnet den Herausforderungen der Säkularisation, indem er den Rückzug ins Ghetto ablehnt und die Bedingungen der säkularen Moderne akzeptiert, ohne Kompromisse mit der Sendung der Kirche und ihrer Freiheit einzugehen. Das tut er aus einer tiefen theologischen Perspektive: Er ruft uns auf, Gesandte und Diener eines Gottes zu sein, dessen liebevolle Barmherzigkeit keine Grenzen kennt. Eines Gottes, der die ganze Schöpfung liebt und von uns, die wir nach seinem Bild geschaffen sind, wünscht, diesem seinem Bild nachzuleben.

Der Gott, von dem Evangelii Gaudium spricht, kann kein Gefangener irgendeiner politischen oder sozialen Theorie sein. Wir werden dazu aufgerufen, unsere Erfahrung eines Gottes zu erneuern, die sich weigert, jene aufzugeben, die vom Bankett des Lebens ausgeschlossen sind. Unter diesem Gesichtspunkt sagt Franziskus einige wichtige Dinge: Er stellt eine kirchliche Kultur wieder her, die das Zweite Vatikanum skizziert hatte und die unterzugehen drohte. Er entzündet unser Vertrauen in das Evangelium und die Kirche neu, das durch die Wirrnisse der Säkularisation in Gefahr war verloren zu gehen. Er erneuert und beschreibt die der Kirche eigene Kultur, sodass diese im religiösen, sakramentalen und institutionellen Leben ihr kreatives und dynamisches Mysterium entfalten kann: der Herr, der ihr Zweck, ihr Leben und Ziel ist. Franziskus streift eine Reihe wichtiger Themen, die weiterer Reflexionen über längere Zeit bedürfen. Als eine Art Präludium präsentieren sich drei zentrale Themen:

Was für eine Art Kirche?

Bereits bis zu diesem Abschnitt hat der Papst einige markante Bilder für die Kirche, ihr Zeugnis für Christus und ihren Dienst an der Welt gebraucht. In EG legt er eine Vision einer dynamischen Kirche vor, die auf dem Konzil, den Verlautbarungen seiner Vorgänger Johannes XXIII. bis Benedikt gründet und bezeichnenderweise einer Reihe Bischofskonferenzen rund um die Welt. Er beschreibt eine Vision einer Kirche, die aus der Kraft des Hl. Geistes lebt, in der jedes Mitglied mit dem andern verbunden ist und gesandt, kraft der Taufe, Zeugnis zu geben vom gekreuzigten und auferstandenen Christus. Die ganze Kirche besitzt eine Einheit der Sendung, auch wenn es in den Funktionen Unterschiede gibt. Vor allem stehe es der Kirche nicht an, selbstbezogen zu sein; sie ist immer dynamisch und greift über sich selbst hinaus, um die Menschheit zu treffen. Darin ist die Kirche aus ihrem fundamentalen Geheimnis lebendig: aus der ausströmenden, selbsthingebenden, heilenden Liebe des Dreieinen Gottes. Es ist die Dynamik der bezwingenden Liebe Gottes, an der wir unsere kirchliche Gesundheit messen können.

Als Antwort auf diese Sendung sind zwei Dinge offensichtlich. Zuerst muss die Kirche vor der Inkulturation keine Angst haben. Im Gegenteil, sie hat die Symbole, den Rahmen, die Bedeutung und die Praxis der Kulturen aufzunehmen, wo das Evangelium gesät wurde, wenn sie einen Sauerteig der Veränderung durch den Glauben bilden will. Das ruft nach Zeit, kreativen Experimenten und einem tiefen Glauben an das Evangelium. Die Kirche hat sich vor solcher Pluralität keineswegs zu fürchten. Sie ist geistgewirkt, keine Bedrohung der Einheit, sondern ein Zeugnis einzigartiger Einheit. Nämlich der communio, die nur der Geist hervorbringen kann.

Wenn sich diese Realität verwirklichen soll, dann geschieht es aus der Freiheit, neue Formen und Ausdrücke im Respekt vor der kulturellen Diversität und dem Dienst am Evangelium zu entwickeln und zu erforschen. All das muss notwendigerweise von theologischer Reflexion und Debatte begleitet sein, die die eigene kirchliche Berufung versteht. Der Vollzug dieser Anliegen wird ausserdem Dezentralisierung und eine andere Bedeutung der Rolle der römischen Kongregationen einschliessen. Solche Entwicklungen müssen die römischen Organe erleichtern. Sie dürfen sie nicht behindern oder den Ortskirchen eigene Präferenzen aufzwingen. Solche kreative Subsidiarität im Dienst an der Förderung der communio in der Kirche leisten ihr einen unschätzbaren Dienst, wenn sie in den theologischen und ekklesiologischen Quellen gründen und an die nationalen Bischofskonferenzen in der Absicht weitergegeben werden, ihnen behilflich zu sein und voneinander zu lernen. Um den Weg zur rechten Balance zwischen Einheit und Pluralität zu finden, auch zwischen lokaler und zentraler, braucht es die Entwicklung neuer Zuständigkeitskompetenzen, Geduld, gegenseitiges Vertrauen, unterscheidende Führung und eine grosse Menschenliebe.

Was für eine Art des Lebens für die Armen?

Im Herzen von Evangelii Gaudium steht eine tiefe, berührende und prophetische Platzierung der Kirche an der Seite der Armen. Das kann nach dem Papst eigentlich nicht anders sein, denn Gott selbst platziert sich so. Armut tritt in verschiedenen Formen auf und hat manche Dimensionen und Gesichter. Immer aber vermindert sie die Würde der Armen und verunstaltet sie das Antlitz Christi in jeder Person.

Das Evangelium richtet sein Licht nicht nur auf einzelne Arme. Es verweist auch auf die strukturelle Natur von Ungerechtigkeit und ökonomischer Ausbeutung, die die Armut materiell, sozial und spirituell verhärten. Solche Strukturen betreffen das ganze menschliche Leben und die menschlichen Beziehungen, wie z. B. die Ausbeutung von Frauen und Kindern, die Zwänge, auszuwandern und Asyl zu suchen, und die Missachtung menschlichen Lebens. Hier stossen wir immer wieder auf das chronische Versagen der Politik, die, statt das Gemeinwohl zu fördern, auf kurzfristige, eigene Interessen ausgerichtet ist. Um in das neue Leben des Evangeliums einzutreten, ist es nötig, jene Solidarität zu suchen, die bereit ist, das dauerhaft Gute der andern zu wollen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Reihe bereichernder gegenseitiger Verbundenheiten, sondern um eine gegenseitige Verpflichtung, die über das Eigeninteresse hinausgeht. Solidarität weitet sich aus zu einer globalen Verpflichtung zwischen den Nationen für das Wohl der ganzen Schöpfung. Das Evangelium lässt uns erahnen, was soziale und humane Verbindlichkeit meint. Es geht um die Struktur unserer Existenz und den Kern der Erlösung. Solidarität prägt die Realität dessen, was wir an Christus und für Christus haben, und erreicht ihre Vollendung dort, wo es für sie keine Grenzen mehr gibt.

Was für ein System als Grundlage für genuine Solidarität?

Einer der stärksten Teile seines Rundschreibens ist das vierfache Nein des Papstes zu einer Weltwirtschaft, die ausschliesst; zur Vergötterung des Geldes; zu einem Finanzsystem, das beherrscht statt zu dienen; zu einer Ungleichheit, in der die Gewalt brütet. Das ist eine kräftige und pointierte Kritik der Wirtschaftsysteme, die in der ganzen Welt so massiv versagt haben, sowie der Politik und der Werte, die solches Tun gestützt haben.

Niemand, der das Lehrschreiben auch nur oberflächlich liest, kann bezweifeln, dass der Papst keine marxistische Wirtschaftsordnung lehrt. Er will vielmehr, wie der Heilige, dessen Namen er gewählt hat, das Evangelium herausfordern, die dunklen Realitäten unserer Gesellschaften auszuleuchten, wie auch jener, die durch sie ausgenützt und ausgebeutet werden. Zwangsläufig werden auch unsere eigenen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Verpflichtungen offengelegt. Aber die Lehre des Papstes ist aus einem Guss und steht in der grossen Tradition der katholischen Soziallehre.

Menschlichkeit entdecken

Papst Franziskus lädt uns ein, mit den Augen des Evangeliums einen neuen Weg des Verständnisses der Verknüpfung unseres Lebens mit unserem Planeten zu suchen. Wenn wir das zu tun vermögen, werden wir nicht nur unsere Welt und unsere Gesellschaft neu sehen lernen: mit ihren Leiden und ihren Chancen. Wir werden sie dann mit Liebe kennen lernen. Mit einer Liebe, die uns ermöglicht, die Systeme, die uns fortwährend versklaven, zu verändern. Wir sehen die Gesellschaft, in der wir leben und wie sie wirklich ist, wenn wir sie mit den Augen der Armen, Schwachen und Verletzbaren zu sehen versuchen. Sie haben die Kraft, uns zu befreien. Ob wir an Christus glauben oder nicht, ob wir ihn erkennen oder nicht, wenn wir mit den Armen beginnen, werden wir ihn finden (Mt 25, 31–46). Evangelii Gaudium spricht zu uns allen. Niemand, der die Kirche liebt oder sich um ihre Sendung kümmert, kann dieses Schreiben ignorieren oder zurückweisen. Es ist eine leidenschaftliche und manchmal herzliche Einladung, unsere Menschlichkeit zu entdecken, die Freude, Christus zu dienen und allen, die er liebt.

Übersetzung von Josef Kaiser, SMB

Josef Kaiser SMB war Missionar in Zimbabwe und unter anderem mehrere Jahre Generalvikar der Missionsgesellschaft Bethlehem in Immensee (SZ) und Leiter der Fidei-Donum-Stelle.

1 James Hanvey in: Tablet 14. Dezember 2013. Hier in der von Josef Kaiser SMB erstellten freien Übersetzung, in: Officiosa 1/2014, Missionsgesellschaft Bethlehem SMB, 185–187. Die Zwischentitel setzte die Redaktion. Vgl. auch https://www.kath.ch/newsd/papst-kritik-am-kapitalismus-ist-keine-linke-ideologie/

James Hanvey

Dr. James Hanvey SJ ist Master of Campion Hall in Oxford (GB).