«Ethische Fragen entscheiden sich am Menschenbild»

Auffallend oft besteht eine Diskrepanz zwischen der Katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation, wenn es um ethische Fragen geht. Hat dies Auswirkungen auf die ökumenischen Gespräche?

Kurt Kardinal Koch (Jg. 1950) ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. (Bild: zvg)

 

SKZ: «An Christus glauben heisst, die Einheit wollen; die Einheit wollen heisst, die Kirche wollen; die Kirche wollen heisst, die Gnadengemeinschaft wollen, die dem Plan des Vaters von Ewigkeit her entspricht» (Ut unum sint 9). Wie nah oder fern sind wir heute diesem Ziel?
Kurt Kardinal Koch: Am Beginn des dritten Kapitels der Enzyklika von Papst Johannes Paul II. stellt er die Frage: «Wie lang ist der Weg, der noch vor uns liegt?» Er erblickt das Ziel in der «Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit aller Getauften», die ihren Ausdruck darin finden wird, dass alle Getauften miteinander die Eucharistie des Herrn feiern können. Im Blick auf dieses Ziel sind die bisher erreichten Konsense in den Fragen der Glaubenslehre gewiss vielversprechende Wegstücke, aber noch nicht das Ziel. Dieses besteht vielmehr in der sichtbaren Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern. Da es aus katholischer Sicht keine Einheit an der Wahrheit des Glaubens vorbei geben kann, müssen die noch kontroversen Fragen in den theologischen Dialogen seriös aufgearbeitet werden.

Früher hiess es «Glaube trennt, Handeln eint». Heute scheint dieser Leitsatz nicht mehr zutreffend, da die christlichen Kirchen in Fragen der Ethik unterschiedliche Standpunkte vertreten. Ist dies nicht ein grosses Hindernis für die Ökumene?
In den bisherigen ökumenischen Dialogen ist es zu einem grossen Teil gelungen, alte konfessionelle Glaubensgegensätze zu überwinden oder Annäherungen entgegenzuführen. Dies gilt vor allem im Blick auf die Rechtfertigungslehre, die im 16. Jahrhundert zur Reformation und anschliessend zur Kirchenspaltung geführt hat. Demgegenüber sind in den vergangenen Jahrzehnten in der ökumenischen Landschaft gravierende Divergenzen im Bereich der Ethik aufgetreten. Diese Differenzen betreffen vor allem auf der einen Seite den ethischen Fragenkomplex von Ehe, Familie, Sexualität, besonders im Horizont des heutigen Gender-Mainstreams. Auf der anderen Seite haben sich in den Stellungnahmen der verschiedenen Kirchen immer deutlichere Unterschiede bei den bioethischen Herausforderungen abgezeichnet, und zwar sowohl am Beginn des menschlichen Lebens bei den Fragen der Präimplantationsdiagnostik und der Abtreibung als auch am Ende des menschlichen Lebens bei den Fragen des assistierten Suizids. Es versteht sich, dass in diesen Erscheinungen eine grosse Herausforderung an die christliche Ökumene heute besteht. Wenn nämlich die christlichen Kirchen und Gemeinschaften zu den grossen ethischen Fragen des menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mit einer Stimme sprechen können, wird die christliche Stimme in den säkularisierten Gesellschaften Europas immer schwächer und dies schadet der Glaubwürdigkeit des ökumenischen Anliegens in der heutigen gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Die Orthodoxen Kirchen stehen uns in Fragen der Moral näher als die Kirchen der Reformation. Ist das in ökumenischen Gesprächen spürbar?
Dass die Orthodoxen Kirchen bei ethischen Fragen der Katholischen Kirche nahestehen, dokumentiert beispielsweise das Handbuch «Theologische Anthropologie», das in römisch-katholischer und russisch-orthodoxer Zusammenarbeit veröffentlicht worden ist und weitgehende Konsense im Verständnis des Menschen und seines ethischen Handelns belegt. In diesem Sachverhalt ist auch begründet, dass in den ökumenischen Dialogen zwischen beiden Glaubensgemeinschaften kaum ethische Fragen, sondern vor allem Fragen des Verständnisses der Kirche und der Autorität in ihr besprochen werden. Eine eher sozialethische Frage, die im ökumenischen Gespräch bisher am wenigsten behandelt worden ist, jedoch einige Brisanz enthält, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Politik, Kirche und Staat. Denn die verschiedenen Glaubensgemeinschaften kennen sehr unterschiedliche Traditionen in der Ausgestaltung dieses Verhältnisses. Während in der byzantinischen Tradition im Anschluss an die alttestamentliche Gestalt Melchisedek, der zugleich König und Priester gewesen ist, politisches Reich und christliche Kirche weithin als Einheit gesehen werden, hat sich in der lateinischen Tradition immer mehr die Trennung von Politik und Religion, Staat und Kirche durchgesetzt. Da diese unterschiedlichen Traditionen im Hintergrund von nicht wenigen ekklesiologischen Debatten stehen und insofern Auswirkungen auf die ökumenischen Gespräche haben, ist es angezeigt, ihnen in Zukunft besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Müssen zuerst die Differenzen in ethischen Fragen geklärt werden oder jene betreffend der Glaubenslehre?
Dies hängt von der jeweiligen Ausrichtung der verschiedenen ökumenischen Dialoge ab. Generell kann man ethische Fragen und Fragen der Glaubenslehre nicht voneinander trennen; sie müssen deshalb miteinander besprochen werden. Zumal hinter den ethischen Problemen auch Fragestellungen stehen dürften, die das Menschenbild berühren. Denn ethische Handlungsanweisungen lassen sich nur verstehen, wenn nach dem menschlichen Subjekt gefragt wird, von dem ethisches Handeln ausgesagt wird. Ethische Fragen entscheiden sich deshalb letztlich am Menschenbild, von dem man sich leiten lässt. Ob man den Menschen wesensgemäss als «animal sociale» versteht oder ob man seine individuellen Interessen als vorrangig einstuft, wird sich zweifellos im ethischen Diskurs auswirken. Von daher dürfte eine der grossen Aufgaben, die auf die Ökumene zukommt, in der Erarbeitung einer ökumenisch gemeinsam verantworteten Anthropologie bestehen. Dabei darf dankbar festgestellt werden, dass diese Herausforderung immer deutlicher erkannt wird. Als Beispiel erwähne ich nur die Studie «Gott und die Würde des Menschen», die von der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands verantwortet ist und in der zu zeigen versucht wird, wie mit Divergenzen in der Ethik und Anthropologie in den ökumenischen Dialogen umgegangen werden kann. In dieser Richtung muss dringend weitergearbeitet werden.

Gibt es noch ungenutztes Potenzial auf dem Weg zur Einheit?
Weiter zu vertiefen ist vor allem jene Gestalt, die Papst Johannes Paul II. «Ökumene der Märtyrer» und Papst Franziskus «Ökumene des Blutes» nennen. Dahinter steht die Wahrnehmung, dass heute mehr Christenverfolgungen als in den ersten Jahrhunderten stattfinden und dass deshalb alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften ihre Märtyrer haben. Christinnen und Christen werden heute nicht verfolgt, weil sie orthodox oder protestantisch, katholisch oder anglikanisch sind, sondern weil sie Christen sind. Das Martyrium ist eine ökumenische Realität. Das Blut, das die Märtyrerinnen und Märtyrer heute für Christus vergiessen, trennt uns Christinnen und Christen nicht, sondern eint uns. Wie die frühe Kirche überzeugt gewesen ist, dass das Blut der Märtyrer Same von neuen Christen ist, so dürfen wir heute hoffen, dass sich das Blut von so vielen Märtyrerinnen und Märtyrern unserer Zeit einmal als Same der vollen ökumenischen Einheit des durch viele Kirchenspaltungen verwundeten Leibes Christi erweisen wird. Wir dürfen überzeugt sein, dass wir Christinnen und Christen im Blut der Märtyrerinnen und Märtyrer bereits eins geworden sind und dass ihr Leiden Einheit stiftet, die sich als stärker erweist als die Differenzen, die die christlichen Kirchen noch trennen. In der Ökumene der Märtyrer nehme ich deshalb das überzeugendste ökumenische Zeichen heute wahr und zugleich die Ermutigung, sich für jene Einheit einzusetzen, die die Märtyrerinnen und Märtyrer in der himmlischen Vollendung bereits leben.

Was ist der wichtigste nächste Schritt in der Ökumene?
Eine der grössten Herausforderungen in der ökumenischen Situation heute besteht darin, dass noch keine tragfähige Verständigung über das Ziel der Ökumene gefunden werden konnte. Man ist sich einig über das «Dass» der Einheit, jedoch weiterhin uneinig über ihr «Was». Der Grund für diese Schwierigkeit liegt darin, dass jede Kirche und Gemeinschaft ihr spezifisches Konzept von ihrem eigenen Kirche-Sein und ihrer Einheit hat und deshalb bestrebt ist, diese konfessionelle Konzeption auch auf die Ebene des ökumenischen Ziels zu übertragen. Im Grunde gibt es dann so viele ökumenische Zielvorstellungen, wie es konfessionelle Kirchenverständnisse gibt. Will man hier weiterkommen, muss eine ökumenische Klärung des Kirchen- und Einheitsverständnisses das zentrale Thema in den ökumenischen Dialogen sein, um von daher ein gemeinsames Ziel zu finden. Denn die nächsten Schritte können nur dann wirklich geplant und unternommen werden, wenn ein gemeinsames Ziel vor Augen steht.

Interview: Rosmarie Schärer