Ethik+: Den Horizont erweitern

Seit über 80 Jahren wird am ersten Adventssonntag die Kollekte für den Hochschulsonntag aufgenommen. Heute werden damit vor allem Programme der Ethik und Umweltgeisteswissenschaften unterstützt.

Nehmen Sie sich zwischen den vielen Zoom- Meetings und E-Mails fünf Minuten Zeit und stellen Sie sich folgende Fragen: Rechtfertigen die geretteten Leben den wirtschaftlichen Schaden durch Covid-19? Welches sind die ethischen Kriterien, die der Entscheidung, eine Bevölkerung einzusperren, zugrunde liegen? Was sind die ethischen Grenzen der Sicherheit? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Selbstbestimmung des Einzelnen und dem Schutz der Schwächsten? Welches sind die ethischen Fragen angesichts der Herausforderungen der integralen Ökologie, aber auch die der Robotisierung oder des Transhumanismus mit dem Ziel, eine Menschheit zu schaffen, die von ihrer Verletzlichkeit befreit ist?

Diese Fragen mögen Ihnen lächerlich erscheinen. Sie erweisen sich jedoch in einer zunehmend komplexen, ja sogar turbulenten Welt als zentral, weshalb eine Sinnsuche dringend erforderlich ist. Diese Sinnsuche hat im Laufe des Jahres 2020 aufgrund der existenziellen Erfahrung der Verletzlichkeit des Menschen, der sich seiner Sterblichkeit wieder bewusst geworden ist, an Aktualität und Dringlichkeit zugenommen. Ein kleiner Virus hat nicht nur die verwundbaren und in prekären Verhältnissen lebenden Menschen in die Knie gezwungen, sondern auch den gesamten Planeten, und die Welt der Wirtschaft, Technologie und Bildung mitgerissen. Indem sie die Ungewissheit des menschlichen Lebens offenbart, lädt uns diese Krise ein, anzuerkennen, dass wir unser Leben nicht unter Kontrolle haben und uns daher auch für eine neue Dimension der Existenz öffnen müssen. Tatsächlich impliziert eine Krise – wenn wir uns auf ihre Etymologie beziehen – Unterscheidungsvermögen und Entscheidung; und dazu sind ethische Kriterien von Bedeutung.

Interdisziplinarität als Bereicherung

Die Krise ist daher eine Chance für eine Erneuerung unserer Fragestellungen, auch und vor allem in Bezug auf die individuelle und gesellschaftliche Ethik. Diese Zeit der Krise erlaubt uns, uns von alltäglichen Praktiken zu distanzieren, aber auch innezuhalten und über komplexe menschliche Fragen nachzudenken. Diese Zeit der Rückschau kennzeichnet auch die Zeit des Studiums, die es uns erlaubt, Tiefe und Distanz zu nehmen im Kontext einer Kultur der Effizienz und Leistung um jeden Preis, aber auch der Unterhaltung und der Moden.

In diesem Kontext der sozialen, wirtschaftlichen und existenziellen Krise haben die Studierenden der ersten Durchführung des zweisprachigen Programms Ethik+ der Universität Freiburg seit Herbst 2019 bereits einen Teil ihrer Ausbildung in Ethik absolviert. Dieses Programm, das durch die Unterstützung der Schweizer Katholikinnen und Katholiken am Hochschulsonntag ermöglicht wird, ist für die Studierenden eine Gelegenheit, Fragen zu vertiefen, eine Gelegenheit, die sie normalerweise während ihres Studiums nicht haben. Die Interdisziplinarität sowie die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis werden sehr geschätzt, denn dies erlaubt es, eine neue Perspektive einnehmen zu können. Nach Meinung dieser Studierenden ist es «eine aufre- gende und sehr nützliche Erfahrung für die zukünftige Karriere». Sie betonen, wie wichtig es sei, «Studierende aus anderen Fakultäten zu treffen, die ein gemeinsames Interesse an Ethik haben» und «neues Wissen ausserhalb des Studienfachs zu erwerben». Die Kurse «erweitern meinen Horizont, indem sie ethische Fragen in die Probleme integrieren, mit denen ich in meinem Studium oder Berufsleben konfrontiert bin».

So ist die Zeit der Krise eine Gelegenheit, sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche ethische Reflexion zu öffnen und zu vertiefen. Dies ermöglicht die Stärkung einer humanistischen und lebendigen Demokratie, in der sich die Menschen nicht damit zufriedengeben, Regeln auf Einzelfälle anzuwenden, ohne über die Grundlage ihres Handelns selbst nachzudenken. Die Krise befähigt die Menschen auch, sich in verantwortungsvoller und reflektierender Weise für das Gemeinwohl einzusetzen.

Bernard Schumacher

 

Weitere Informationen zum Programm Ethik+ unter www3.unifr.ch/ethique/de/schwerpunkt-ethik/ethik-plus/

Informationen zum Hochschulsonntag unter www.unifr.ch/hsr/de/hochschulsonntag

Bernard Schumacher

Bernard Schumacher

PD Dr. Bernard Schumacher ist Lehr- und Forschungsrat am Departement für Glaubens- und Religionswissenschaft sowie Philosophie der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.