Die Krone der Schöpfung?

Ist der Homo sapiens die Krone der Schöpfung oder sind die Menschen irrlichternde Despoten? Eine kritische Anfrage an Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu seinem 250. Geburtstag.

Hegel mit Berliner Studenten. (Lithographie F. Kugler, 1828, Wikipedia)

 

«Jedoch die grösste Frechheit im Auftischen baren Unsinns, im Zusammenschmieren sinnleerer, rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur in Tollhäusern vernommen hatte, trat endlich in Hegel auf.»1

Ja, wenn es so einfach wäre, Hegel abzuqualifizieren, wie dies Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk mit lockerem Mundwerk tat! Ist es aber gerade nicht, wenn wir die Wirkungsgeschichte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)* bedenken. Bei kaum einem Grossen der Philosophiegeschichte ist die Diskrepanz zwischen dem detaillierten Erarbeiten eines Erkenntnisschemas und dem Weitergedacht-Werden so gross. Als typischer Denker der idealistischen Phase des frühen 19. Jahrhunderts (nebst Fichte und Schelling) ist Hegel nicht in Erinnerung geblieben, seine Sprache ist fremd und kurios. Aber sein Denkschema ist entscheidend: Es zieht sich eine markante Analogie von Beurteilungs- und Handlungskriterien durch die Weltgeschichte, die sich Hegel als Ursprung verdanken. Und dabei spielt es eigenartigerweise keine Rolle, ob die entsprechenden Epigonen – wobei man Karl Marx unrecht tun würde, ihn nur so zu bezeichnen – politisch links oder rechts standen und stehen. Die Analogie besteht darin, dass sich die Gattung Homo sapiens als selbstdefinierte Krone der Schöpfung betrachtet und darüber hinaus eine bestimmte Phase ihrer Entwicklung bzw. ein sich daraus entwickelndes gesellschaftliches System als Paradies auf Erden versteht, das keiner Fortführung des dialektischen Prozesses mehr bedarf.

Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es egal, ob wir den preussischen Staat nach der Niederschlagung der revolutionären Ideen des frühen 19. Jahrhunderts oder das SED-Regime der Herren Ulbricht und Honegger oder ein südamerikanisches Junta-Regime ins Auge nehmen. Hegel ist – so Karl R. Popper – in den Konsequenzen seines Denkens einer der Feinde der «offenen Gesellschaft»:

«Er verlangt mehr. Ebenso, wie er Freiheit und Gleichheit bekämpft, ebenso bekämpft er auch die Brüderlichkeit der Menschen, das humanitäre Gedankengut, oder, wie er sich ausdrückt, die ‹Philanthropie›. Das Gewissen ist durch blinden Gehorsam und durch eine romantische herakliteische Ethik des Ruhmes und Schicksals zu ersetzen, die Brüderlichkeit aller Menschen aber durch einen totalitären Nationalismus.»2

Wie konnte es dazu kommen, dass einer der führenden Denker des deutschen Idealismus in derart gefährliches Fahrwasser abglitt? Noch deutlicher gefragt: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Lehrer der Philosophie (der seinen Kant bereits kannte) so eklatant von den mit Kant eigentlich für immer gegebenen Einschränkungen menschlicher Wissens- und Urteilsmacht abwich und neue unbegründbare absolute Behauptungen aufstellte? Milde Kritiker unterscheiden zwischen dem Hegel der frühen Jahre (als Lehrer in Nürnberg und Heidelberg bis 1817) und dem späteren Professor und «preussischen Staatsphilosophen». Ich schliesse mich lieber dem harten Diktum Poppers an:

«Die Hegelsche Farce hat genug Unheil angerichtet. Wir müssen ihr Einhalt gebieten. Wir müssen sprechen – sogar auf die Gefahr hin, uns bei der Berührung mit diesem skandalösen Gebilde zu beschmutzen.»3

Es sei mir nun gestattet – ich verstehe mich im Gefolge meiner Luzerner Philosophie-Ausbildung als dezidierter Kantianer mit einem Blick vorwärts von Kant zu Wittgenstein –, die Ursache darzulegen, wie sich ein grosser Denker derart ideologisch verrennen und darum missbrauchen lassen konnte. Die folgenden Gedanken sind keinem Vorbild geschuldet und darum äusserst subjektiv:

1. Menschlicher Geist und Natur

Der Wurm steckt schon im Grundschema der ersten Arbeit, der «Phänomenologie des Geistes» von 1806, wo Hegel im ureigenen Sprachspiel seinen ersten Schritt erklärt: Er versteht das «Ansichsein» des menschlichen Geistes (er nennt ihn Weltgeist) in einem Gegensatz zum «Anderssein» der Natur, also Raum und Zeit als die den Menschen umgebende und umfassende Schöpfungswirklichkeit. So entlarvt sich gleich zu Beginn der (augustinische!) Ansatz: Mit den Worten des grossen Dominikaner-Theologen Matthew Fox4 sind wir im verhängnisvollen Sündenfall/Erlösungs-Denken gefangen; eine Schöpfungsspiritualität, die panentheistisch den Ewigen in Allem sieht, ist ausgeschlossen. Hegel nennt die Synthese – den endlich die Natur überwindenden Geist – schwulstig «An und für sich Sein». Die Hybris ist offensichtlich, gemeint ist die bewusste Überwindung der Natur, eine Art philosophischer Darwinismus, und dies führt in logischster Konsequenz zu ökologischer Zerstörung, Allmächtigkeitsgefühlen und zur selbst gewählten Apokalypse.

2. Das Wesen der Evolution

Dass ein grosser Denker zur irrigen Annahme gelangen kann, dass der dialektische Prozess, der als solcher wertneutral gesehen durchaus durch die Menschheitsgeschichte führt, an irgendeinem Punkt seiner Entwicklung nicht mehr fortgeführt zu werden braucht, ist unbegreiflich. Die Biografie Hegels gibt uns hier wichtige Hilfestellungen: Das Erleben des für ihn perfekt organisierten preussischen Beamtenstaates war wohl zu verlockend, und der schon früher erfolgte Eindruck des öffentlichen Auftretens von Napoleon Bonaparte im Jahr 18065 zu überwältigend.

Pierre Teilhard de Chardin SJ hat gegen eine solche Optik einen weit über Hegel hinausweisenden Beitrag geleistet. Er formulierte, dass die Evolution auch mit dem Auftreten des Homo sapiens weder zum Abschluss noch zur Vollendung gelangt ist, sondern weiterhin der Christogenese zustrebt.6 Und noch deutlicher in seinem knappen Band «Mein Universum», als er auf den von Hegel postulierten Gegensatz von Geist und Natur zu sprechen kommt:

«Es ist übrigens in dem System der Unio Creatrix nicht mehr möglich, weiterhin Geist und Materie brutal einander entgegenzustellen. Wer nämlich das Gesetz von der ‹Vergeistigung durch Vereinigung› begriffen hat, hört auf, hier zwei Abteile, das des Geistes und das des Leibes, im Universum zu sehen: es gibt nur mehr zwei Richtungen auf ein und derselben Strasse.»7

3. Die Möglichkeiten des Geistes

Wenn wir das Denken Hegels philosophiegeschichtlich zuzuordnen suchen, erkennen wir bei ihm eine Möglichkeit, die Frage, was wir überhaupt sicher erkennen, wissen und postulieren können, zu beantworten. Damit steht er in der Tradition so grosser Vorgänger wie dem heiligen Thomas und Immanuel Kant. So weit, so gut, doch – von Schopenhauer und Popper sauber erkannt – verlässt er, kaum gestartet und noch böser endend, deren logisch-sachliche Argumentation und wird zum bewusst Wertenden.

Hätte Hegel seine Vorgänger in sein Denken integriert, wäre ihm klar geworden, dass die Kriterien unseres (Be)Urteilens in ihrer Subjektivität immer wieder äusserst fragwürdig sind und der Selbstkorrektur bedürfen. Nach Kant etwa beziehen wir die Vorstellung eines Gegenstandes immer auf einen Massstab, der in uns selbst liegt. Solche Massstäbe sind höchst subjektiv, haben mit Gefühlen, mit Lust und Unlust zu tun. Und so verbleiben als wertvolle Kriterien zur Überprüfung unserer Vorstellungen die Ethik und die Ästhetik. Ist das, was wir für wahr und richtig halten, ethisches Prinzip für die ganze Menschheitsfamilie und Schöpfung? Führt es zur Mehrung des Schönen, eines Zustands, der nicht nur mir, sondern auch meinen Nächsten schmeckt?8 Diese Fragen stellen sich insbesondere für die Beurteilung bestimmter Phasen der Entwicklung der Menschheit, und sind ebenso gut geeignet, wichtige heutige gesellschaftlich-politische, ökonomische und ökologische Herausforderungen zu bewältigen. Genügen sie vor einem ethischen und einem ästhetischen Gewissen oder entpuppen sie sich als Anpassung und Unterwerfung?

Heinz Angehrn
(Meinem verstorbenen Lehrer Dominik Schmidig in Zuneigung gewidmet. Du hast gute Spuren hinterlassen!)

 

1 Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1891, 508.

2 Popper, Karl Raimund, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2. Bern 1958, 64.

3 Ebd. 101.

4 (S. 331): Vgl. Fox, Matthew, Vision vom Kosmischen Christus. Aufbruch ins dritte Jahrtausend, Stuttgart 1991; ders. Freundschaft mit dem Leben. Die vier Pfade der Schöpfungsspiritualität, Frankfurt 1998.

5 «Eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert […] über die Welt übergreift und sie beherrscht.» Brief vom 13. Oktober 1806 an Friedrich Immanuel Niethammer. Zitiert nach Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Leben – Werk – Wirken, Stuttgart 2003, 24.

6 Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre, Der Mensch im Kosmos, München 1959.

7 Teilhard de Chardin, Pierre, Mein Universum, Olten 1973, 28.

8 Vgl. Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft, Berlin 1790.

*Georg Wilhelm Friedrich Hegel (27. August 1770 bis 14. November 1831) wuchs in Stuttgart auf. Ab 1788 studiert er in Tübingen Philosophie und Theologie und schliesst dort Freundschaft mit Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Nach seinem Abschluss arbeitet er zunächst als Hauslehrer. Durch den Tod seines Vaters erlangt er ein kleines Vermögen und kann die akademische Laufbahn einschlagen und habilitiert in Jena. Ab 1816 ist er Philosophieprofessor in Heidelberg, ab 1818 in Berlin, wo ihm 1829 das Amt des Rektors übertragen wird. Er stirbt überraschend am 14. November 1831. Seine wichtigsten Werke sind Phänomenologie des Geistes (1806/7), Wissenschaft der Logik (1812–16), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) und Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821).


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.