«Es sind existenzielle Sorgen, die an uns herangetragen werden»

Seelsorgende sind im heutigen Umfeld grossen Belastungen unterworfen. Das kann zu Überlastungen und belastenden Teamsituationen führen. Das Bistum Basel bietet für Seelsorgende im kirchlichen Dienst seit 2005 die «Seelsorge für Seelsorgende» an – eine Dienststelle mit drei Fachpersonen, an die man sich wenden kann, wenn Sorgen zu belastend werden. Walter Bucher spricht über ihre Erfahrungen mit Andrea Gross (Spitalseelsorgerin), Werner Bachmann (Geistlicher Begleiter) und Bernhard Schibli (em. Pfarrer).

Welcher Art sind die Sorgen, die Seelsorgende an Sie herantragen?

Andrea Gross: Es sind Sorgen, die existenziell spürbar werden. Entweder durch Erkrankungen oder weil man eine Stelle wechseln muss oder verliert. Es sind keine Lappalien, sondern existenzielle Sorgen, die an uns herangetragen werden. Das eine grosse Thema ist die Einsamkeit im Beruf. Ich habe niemanden, mit dem ich meine Fragen besprechen kann, egal, ob ich allein lebender Priester bin oder Laie mit Familie, es betrifft die Leute quer durch die kirchlichen Berufe. Ein zweites grosses Thema ist das Burnout. Und in den letzten zwei, drei Jahren sind auch Seelsorgende zu uns gekommen mit somatischen Erkrankungen.

Welches sind die Ursachen dieser Probleme?

Andrea Gross: Die Ursachen sind individuell und auf den gesellschaftlichen Kontext bezogen. Zu den individuellen Ursachen gehört die Frage, wie ich selber in der Arbeit und im Leben stehe, welche Resilienzfaktoren ich selber habe, wie ich mit einem hohen Mass an Arbeit und Verantwortung umgehen kann (oder auch nicht). Gesellschaftliche Faktoren sind die hohen Ansprüche an Leistung in unserer Gesellschaft. In unserer Kirche haben wir immer weniger Seelsorger und Seelsorgerinnen für gleiche oder steigende Ansprüche. De facto lastet immer mehr Arbeit auf Einzelnen, als das vielleicht noch vor hundert Jahren war. Andere Ursachen wurzeln in der individuellen Situation, im Team vor Ort oder in der Stelle, in der ich gerade arbeite. Da gibt es mannigfache schwierige Situationen, die nicht gut bewältigt werden.

Wie resilient sind Kirchenleute?

Andrea Gross: Genauso resilient wie Menschen in anderen Berufen. Man weiss das heute gar nicht genau, wie es sich auf die Menschen verteilt. Es gibt Menschen, die kommen gut mit schwierigen Situationen zurecht, und es gibt welche, die kommen nicht gut mit schwierigen Situationen zurecht. Warum das so ist, ist auch wissenschaftlich noch nicht genau geklärt.

Haben sich die Probleme in den letzten Jahren verändert?

Bernhard Schibli: Der Pastorale Entwicklungsplan (PEP) und damit verbunden die Veränderung der Stellen hat viele Probleme gebracht. Es gibt durch Zusammenschlüsse weniger Stellen, dadurch verändert sich die Stellung der Seelsorgenden, die Belastung wird grösser. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die unter der Angst leiden, die Leitungsstelle zu verlieren. Es ist nicht gleichbedeutend, ob ich eine Gemeinde leite oder in einem grossen Verband eine Stelle habe und nicht mehr Chef oder Chefin bin.

Anderseits beschäftigt die Kirche immer mehr Mitarbeitende, es wird aber nichts unternommen, diese Mitarbeitenden so zu befähigen, dass sie Aufgaben übernehmen könnten, die in der kirchlichen Arbeit zentral sind. Zu Fragen des Zölibats, der Zulassungsbedingungen, bei Fragen zu Frauen als Priesterinnen passiert einfach nichts. Das führt bei vielen Leuten zu Resignation. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass sich viel weniger Frauen bei uns melden als früher. Vielleicht auch deshalb, weil sich viele sagen, es ändert sich sowieso nichts, wir steigen lieber aus und suchen einen andern Weg. Das sind unterschwellige Belastungen. Viele hofften lange, dass sich in der Kirche in diesen Fragen etwas ändert, Papst Franziskus weckt Hoffnungen, aber es passiert nichts.

Andrea Gross: Seelsorge an sich ist anspruchsvoller geworden. Wenn man vergleicht mit der Seelsorge der 50er-Jahre, ist Seelsorge heute ein Hochleistungsgeschäft. Seelsorgerliche Arbeit ist wie unsere Gesellschaft pluralistischer und individualistischer geworden. Gottesdienste und Sakramentenfeiern müssen auf Einzelne und Zielgruppen abgestimmt sein. Das erfordert viel Empathie und viele Vorbereitungsstunden.

Wie finden heute die Seelsorgenden die innere Balance, um diese Leistung bringen zu können?

Andrea Gross: Wir geben eine Empfehlung weiter: Seid nicht nur in eurem Job zu Hause, sondern seid besorgt um einen Freundeskreis, eine Familie (wenn es möglich ist), versucht euch ein gutes soziales Netz aufzubauen, haltet euch geistig und körperlich gesund. Das sind wichtige Voraussetzungen. Aber das gelingt nicht immer.

Bernhard Schibli: Vieles kenne ich aus meiner eigenen Berufserfahrung und weniger aus den Besprechungen. Ich sehe zwei Möglichkeiten, die Hochzeitsfeier als Beispiel. Entweder ich lasse mich auf die individuellen Wünsche der Hochzeitsleute ein und arbeite viel während der Vorbereitung, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, oder ich bestimme den Ablauf, der dann weniger individuell angepasst ist. Die Leute sind dann enttäuscht oder nicht enttäuscht, zufrieden oder nicht zufrieden. Es gibt beides. Aber hier eine Balance zu finden, ist schwierig. Wenn ich zum Arzt gehe, kann ich nicht bestimmen, wie er handeln muss. Diese Einstellung finde ich oft bei Theologen. Ich verstehe sie. Bei den individuellen Ansprüchen für Hochzeits- oder Trauerfeiern braucht es Fingerspitzengefühl und eine sehr grosse Bereitschaft zur Arbeit.

Wie können Sie helfen?

Werner Bachmann: Wenn sich bei uns jemand meldet – in der Regel zuerst telefonisch –, versuchen wir, die Kolleginnen/Kollegen zu treffen. Das geht nicht immer, weil die Distanzen oft zu gross sind. Wir versuchen, am Anfang eine Auslegeordnung zu machen. Welches sind die Teile des Problems? Was kann man tun, damit sich die Situation verbessert oder sich das Problem auflöst? Die Konsultationen erstrecken sich nicht über zehn Jahre, wir versuchen, schnell zu einer Lösung zu kommen, oder regen an, eine Therapie oder eine Supervision anzugehen, damit der Prozess weitergeht und nicht stehen bleibt. Unsere Maxime ist, die Menschen wieder zum Subjekt des eigenen Handelns zu machen. Das sind sie oft nicht mehr, wenn sie überschwemmt werden mit Sorgen und Problemen.

Einsamkeit: Hat sie zu tun mit Verlust an Macht und Anerkennung?

Bernhard Schibli: Das kann man nicht direkt miteinander verbinden. Früher hatte man mehr Gelegenheit, sich unter kirchlichen Fachleuten zu treffen. Ich erinnere mich an die Zeit als Seelsorger im Fricktal. Dort haben sich die Pfarrer aus den umliegenden Dörfern jeweils am Montag getroffen und haben zusammen gejasst. So etwas gibt es kaum mehr. Seelsorgende und Gläubige von heute sind Individualisten geworden. Das zeigt sich auch in den kirchlichen Handlungen: Jede Hochzeitsfeier, jede Trauerfeier hat ihren ganz individuellen Charakter. Der Individualismus verbindet sich oft mit dem Problem der Einsamkeit. Seelsorgende arbeiten oft alleine, und sind Einzelkämpfer. Es geht ihnen nicht anders als anderen Berufsleuten: Man definiert sich über die Arbeit, fällt diese weg, ist die Einsamkeit gross.

Andrea Gross: Die Einsamkeit hat oft auch zu tun mit dem Exotentum der Seelsorgenden. Man ist ein Exot, eine Exotin, wenn man ein Theologe oder eine Theologin ist. Viele wissen gar nicht, was Seelsorgende tun, man muss sich ständig erklären. Ich erinnere mich an einen Priester, der mir erzählt hat, er hätte noch vor wenigen Jahren in einem Pfarrhaus mit fünf Vikaren und einer Köchin zusammengewohnt, und sie hätten es gut gehabt. Jetzt sei er allein. War da mal eine gut funktionierende Wohngemeinschaft mit Köchin, gab es plötzlich nur noch die Haushälterin mit Pfarrer, irgendwann wurden auch die Haushälterinnen unmodern oder wurden weggespart. Wer dann als Seelsorger zu stark fixiert ist auf seine Arbeit, ist allein.

Ich denke, was institutionell vorgegeben ist, können Sie nicht verändern.

Andrea Gross: Das Einzige, was wir tun können, sind die regelmässigen Rückmeldungen ans Bistum. Natürlich immer unter Wahrung der Schweigepflicht und des Persönlichkeitsschutzes. Das gehört zu unserem Auftrag. Es ist ein kleiner Beitrag, mit dem sich Hoffnung auf Veränderungen verbindet. Aber es ist auch Lust und Frust der Stelle, dass wir nicht viel verändern können. Ich glaube aber, dass wir bei denen, die zu uns kamen, etwas bewirken konnten. Wir konnten helfen, dass sie am Ende besser in der Situation standen, und wir konnten in den Besprechungen Impulse geben zu einer besseren Entwicklung. Es ist wichtig, dass Seelsorgende ein Gegenüber haben, dem sie vertrauensvoll ihre Situation schildern können.

Wie sehen Ihre Angebote konkret aus?

Andrea Gross: Zu unserem Auftrag gehört neben der konkreten Beratungsarbeit auch die Prävention. Am Anfang haben wir uns eingelassen auf die Fragestellungen der Dekanate, die an uns herangetragen worden sind. Wir haben einen Flyer entwickelt, der aufzeigt, mit welchen Themen wir in Gruppen/Dekanaten etc. arbeiten können. Wir referieren auch an Konferenzen der Dekanate, das ist persönlicher und schafft Vertrauen. Treten einmal Probleme auf, erinnert man sich dann vielleicht an diese Referate oder an unsere Flyer. Zweimal im Jahr organisieren wir einen spirituellen Einkehrtag, der zugleich ein Netzwerktag ist. Weil der erste auf einer Insel stattfand, nennen wir sie «Inseltage». Es sind unkonventionelle Tage mit einem Thema. Sie beinhalten eine biblische und eine thematische Arbeit, meist aus dem therapeutischen Bereich. Die Inseltage beinhalten vor allem Begegnung, Essen und Gottesdienst. Wir finden, die Abläufe dieser Veranstaltungen sind ein Erfolgsrezept.

Interview: Walter Bucher

Gesprächsteilnehmer:

Andrea Gross Riepe ist Spitalseelsorgerin und systemische Beraterin M.A. Sie ist seit 1988 im Bistum Basel als katholische Theologin tätig. Seit 2007 arbeitet sie als Spitalseelsorgerin im St.-Clara-Spital in Basel. Sie ist ausgebildete Ehe-, Familien- und Lebensberaterin sowie systemische Therapeutin.

Werner Bachmann-Lütolf ist Diakon sowie ausgebildeter Exerzitienleiter und Geistlicher Begleiter. Er ist seit 1982 in der Pfarreiseelsorge des Bistums Basel tätig.

Bernhard Schibli ist Theologe und Priester. Erst als Vikar und Jugendseelsorger, dann als Pfarrer in Aesch BL sowie Mitarbeiter im Regionaldekanat Basellandschaft. Seit Herbst 2013 ist er mitarbeitender Priester in Liestal BL.

Walter Bucher

Walter Bucher ist teilzeitlich Redaktor bei der Schweizerischen Kirchenzeitung.