Der Wirklichkeit ins Gesicht sehen - Sicht des Psychotherapeuten

Wunibald Müller schaut als Theologe und Psychotherapeut auf 25 Jahre Tätigkeit im Recollectiohaus Münsterschwarzach zurück und plädiert dafür, mit Blick auf die Seelsorge für Seelsorgende der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.

Ich bin bei meiner Tätigkeit im Recollectiohaus vielen wunderbaren Männern und Frauen begegnet, die versuchen, Gottes Hände in unserer Welt zu sein, seiner Menschenfreundlichkeit ein Gesicht zu geben. Das gehört zu den besonders schönen Erfahrungen. Ich bin aber in dieser Zeit auch einer kranken Kirche begegnet, die morsch, hinfällig, einsturzgefährdet ist, einem kranken System, das dabei ist, einzustürzen trotz der vielfältigen Versuche, es mit immer neuen Stützvorrichtungen davor zu bewahren. Manche von denen, die in besonderer Weise in der Kirche Verantwortung haben, wissen das längst, sprechen auch offen darüber. Andere wieder wollen es nicht wahrhaben, verdrängen es, machen einfach so weiter.

Was Thomas Frings, der sich vorerst von seiner Diözese verabschiedet und in ein Kloster zurückgezogen hat, in seinem Aufruf «Kurskorrektur» schreibt, bringt vieles auf den Punkt, was in der Kirche und in der Seelsorge im Argen liegt und sich mit meinen Erfahrungen deckt. Mit dem, was er sagt, spricht er vielen Seelsorgenden aus dem Herzen. Sie haben wie er längst die Hoffnung aufgegeben, dass die Saat, die sie gesät haben, einmal aufgeht. Sie haben den Glauben verloren, dass der Weg, den sie als Gemeindeseelsorger einst mit Freude und Engagement gegangen sind, in die Zukunft weist. Sie stehen im Unterschied zu Pfarrer Frings – noch! – als «Verfügungsmasse» einer Kirche zur Verfügung, «die auf allen Ebenen mehr an ihrer Vergangenheit arbeitet als an ihrer Zukunft». Sie tun ihren Dienst, aber bei vielen von ihnen ist ihr Herz dabei längst nicht mehr so beteiligt, wie das einmal der Fall war. Sie bedienen äusserlich die Erwartungen derer, die sich der Tradition verpflichtet fühlen, innerlich ziehen sie sich aber immer mehr zurück. Ihre Zahl nimmt zu, da kann auch die Seelsorgestudie nicht darüber hinwegtäuschen, die den Eindruck erweckt, als sei es mit der Grundstimmung und Grundzufriedenheit unter den Seelsorgenden insgesamt doch ganz gut bestellt.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Verantwortlichen in der Kirche, aber auch die Seelsorgenden sich dem ganzen Ausmass der Krise stellen oder es doch vorziehen, lieber darüber hinwegzuschauen. Wagen wir dennoch den Blick auf unsere kirchliche Wirklichkeit, dann dürfen wir uns nichts vormachen und müssen dazu stehen, dass wir uns in einer kritischen Situation, gar in einer Zerreissprobe, befinden, für die typisch ist, dass wir verunsichert sind.

Das trifft vor allem auf kirchliche Mitarbeiter zu, die als Seelsorgende oder Religionslehrer tätig sind, schliesst aber auch Männer und Frauen ein, die Leitungsfunktionen in der Kirche wahrnehmen, unter ihnen Verantwortliche in kirchlichen Behörden oder auch Bischöfe. Ich bin jedenfalls in den letzten Jahren vielen irritierten und verunsicherten Priestern, Religionslehrern, Gemeindereferentinnen, Pastoralreferenten, aber auch Verantwortlichen in der Kirche begegnet. Im Folgenden will ich mich auf ein Spannungsfeld, das ich sehe, in den Mittelpunkt stellen: Da die persönliche Lebensform – dort die Erwartungen des kirchlichen Arbeitgebers.

Eigene Lebensform – Erwartungen kirchlicher Arbeitgeber

Ein grosses Spannungsfeld sehe ich in der Kluft zwischen dem gewählten Lebensstil, der gewählten persönlichen Lebensform kirchlicher Mitarbeiter und den Erwartungen des Arbeitsgebers. Gerade in diesem Bereich befinden sich viele kirchlich Mitarbeitende in einer Situation, die sie in eine grosse Zerreissprobe bringt, weil sie zum einen nicht die sein können, die sie sind, zum anderen nach aussen etwas vorgeben, was sie in Wirklichkeit nicht sind und nicht leben. Die Situation in diesem Bereich ist für kirchliche Mitarbeiter bedrängender als für die anderen Gläubigen, da ein Abweichen von den Erwartungen des Arbeitgebers mit Sanktionen, bis hin zum Verlust ihrer Arbeit, verbunden sein kann. Aber auch viele Verantwortliche in der Kirche sind verunsichert, wie sie sich im Zusammenhang mit «Lebensformen, die dem Kirchenrecht nicht (?) entsprechen», verhalten sollen. Das betrifft unter anderem auch den Regens in einem Priesterseminar, es betrifft die Verantwortlichen für die Ausbildung des Seelsorgepersonals ebenso wie Personalreferenten und Bischöfe.

Eine grosse Spannung

Gerade im Bereich der Liebe, der Intimität, der Zärtlichkeit und Sexualität sind viele kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einer Situation, die sie spaltet, die sie in eine grosse Spannung bringt. Da gibt es die Mitarbeitenden, die in offenen Beziehungen («wilden Ehen») leben. Es gibt Mitarbeitende, die homosexuell sind und zum Teil in homosexuellen Beziehungen leben. Viele unter ihnen leben mit dem Schmerz, dass ihre sexuelle Orientierung von ihrer Kirche als «objektiv ungeordnet» bezeichnet wird, ganz zu schweigen davon, dass ihre Liebe von ihrer Kirche nicht akzeptiert wird und sie mit dem Verlust ihrer Arbeit rechnen müssen, wenn sie sich öffentlich zu einer Beziehung bekennen. Oder man denke an die Priester, die angetreten sind mit der Absicht, zölibatär zu leben, sich dazu aber nicht in der Lage sehen und jetzt vor der Alternative stehen, entweder ihr Priesteramt zu verlassen oder im Amt zu bleiben und im Geheimen in sexuellen Beziehungen zu leben. Hier wird dann ein entscheidender Lebensbereich in einem Dunkelraum gelebt, die dort praktizierte Sexualität und Intimität kann sich in der Regel nicht wirklich entfalten und ist deswegen in besonderer Weise anfällig für psychisch und spirituell ungesunde Verhaltensweisen, die das zölibatäre Leben eher verdunkeln und in Misskredit bringen.

Anhaltende Zerreissproben

Hier entstehen oft innere Spannungen und Verletzungen, die sich zerstörerisch auf die Arbeit und das private Leben auswirken können und die kirchlich Mitarbeitenden in eine Zerreissprobe bringen. Manchen gelingt es leichter, mit solchen schwierigen Situationen zu leben. Andere wieder leiden darunter, fühlen sich schuldig. Wenn die Kirche dem ehrlichen Blick in ihre eigenen Reihen nicht ausweicht, begegnet ihr dort oft eine Praxis von Sexualität, die vorwiegend im Verborgenen gelebt wird. Nun ist idealerweise der Ort der Sexualität der geschützte Ort der Intimität. Doch das ist etwas anderes als eine Sexualität, die im Verborgenen gelebt werden muss, weil «es» eigentlich nicht gestattet ist, sie so zu leben, wie sie dann doch gelebt wird. Dabei handelt es sich zuweilen um eine Sexualität, die wie in eine Dunkelkammer eingesperrt, nicht wirklich gelebt werden kann und – wen wundert das? – entsprechend gelebt wird: versteckt, unangeschaut, von Angst und Schuld umfangen, oft auch unverantwortlich, lieblos, ausbeuterisch. Ich weiss, dass das nicht die ganze Wahrheit ist und es viele andere positive Beispiele anzuführen gäbe, aber es ist auch eine Wirklichkeit, die man nicht beschönigen darf.

Spiritualität und Sexualität

Ich erinnere mich an einen Artikel des Theologen und Psychiaters Manfred Lütz in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». Darin hiess es, bei einer internationalen Konferenz im Vatikan habe ein Buddhist als namhafter Experte in Sachen Missbrauch gemeint, man müsse als Prävention von sexuellem Missbrauch bei angehenden Priestern noch mehr, als das bisher geschehen sei, Wert auf die spirituelle Ausbildung legen. Dem konnte ich zunächst grundsätzlich zustimmen, als ich als Teilnehmer der besagten Konferenz im Vatikan diesen Vorschlag des buddhistischen Professors hörte. Was mich irritierte war, dass Manfred Lütz im weiteren Verlauf seines Beitrages in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» darauf hinwies, ein katholischer Pastoralpsychologe habe sich bei dieser Konferenz dafür ausgesprochen, dass sich die Priesteramtskandidaten noch mehr mit ihrer Sexualität auseinandersetzen müssten, und dabei den Eindruck erweckte, als bedürfe der katholische Pastoralpsychologe des Nachhilfeunterrichtes ausgerechnet durch einen Buddhisten. Warum erwähne ich das?

Dass jemand, der Priester werden will, sich intensiv mit seiner Spiritualität auseinandersetzen und sensibel sein muss für den inneren Anruf, diesen Beruf anzustreben; dass er eine gelebte, lebendige Spiritualität pflegen muss, um für einen solchen Beruf fähig zu sein, auch um Phasen der Krise und Verunsicherungen in seiner Berufung bestehen zu können, ist für mich unbestritten. Das aber muss einhergehen mit gründlicher Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität. Ich kann das eine nicht gegen das andere ausspielen, ist es doch genau das, was immer wieder auch angehende Priester tun, mit dem Ergebnis, dass die so notwendige Auseinandersetzung mit der eignen Sexualität nicht stattfindet oder wegspiritualisiert wird. Spiritualität und Sexualität sind für jeden Menschen, zumindest für jeden Christen, in besonderer Weise auch für Priester zentrale Themen. Sie sind Lebensthemen, die fundamental mit ihrem Leben und ihrem Beruf zu tun haben. Für viele Priester sind es jene Bereiche, über die zu reden und sich zu eröffnen ihnen oft schwerfällt. Manchen fällt sogar das Reden über die eigene Spiritualität schwerer als das Sprechen über die Sexualität.

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten

Warum ist das so? Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Gerade Einrichtungen wie die Kirchen, die grossen Wert auf Ideale legen, die sich mit viel Licht umgeben, um gut herauszukommen, dürfen das nicht vergessen. Je grösser das Licht, desto grösser der Schatten. Das kann gar nicht anders sein: Wollen sie im Licht erscheinen und glänzen, dürfen andere nur ihre Sonnenseite, die man mit Begriffen wie Uneigennützigkeit, Hingabe, Demut, Liebe umschreiben könnte, sehen. Ihre weniger schöne Seite, die es natürlich auch gibt und für die Begriffe wie Geltungsdrang, Verschwendung, Machtgier stehen, wird in den Schatten abgestellt. Was ich über Institutionen und ihren Schatten sage, die anscheinend sehr ideal ausgerichtet sind, gilt auch für jeden Einzelnen von uns, in besonderer Weise aber auch für Personen wie kirchlich Mitarbeitende, die als besonders ideal eingestellt, gut, gar heiligmässig gesehen werden, sich vielleicht selbst so sehen oder von denen man erwartet, dass sie so sind.

 

Wunibald Müller

Dr. Wunibald Müller war als Theologe und Psychotherapeut 25 Jahre Leiter des Recollectiohauses Münsterschwarzach (D).