Von Innovationsbedarf ist viel die Rede in den Grosskirchen des deutschen Sprachraums. Man erinnert sich, dass wir Christen Anhänger eines neuen Weges sind (Apg 9), die von einem neuen Himmel und einer neuen Erde zu künden haben (Offb 21). Dabei gilt es, nicht an das Vergangene zu denken, sondern auf das Neue zu schauen, das Gott uns schenkt und das zum Vorschein kommt, ohne dass wir es bemerken (Jes 43). Das Zweite Vatikanische Konzil gibt uns zu verstehen, dass Innovation kirchliches Standardprogramm und kein Ausnahmefall ist. Innovation ist Teil der christlichen DNA. Es ist «Aufgabe der Kirche, Gott den Vater und seinen menschgewordenen Sohn präsent und sozusagen sichtbar zu machen, indem sie sich selbst unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert (…)» (GS 21). «Gaudium et spes» als inoffizielle «zweite» Offenbarungskonstitution spricht ununterbrochen davon, dass der Glaube sich als «angepasste Verkündigung» auszusäen habe, das sei «Gesetz aller Evangelisation» (GS 44).
Mutige Kundschafter aussenden
Nach der Erfahrung der Verfasser des Gründerhandbuchs ist die pastorale Innovation, das Gründen neuer Formen von Kirche oder auch nur der Aufbruch von Gemeinden ein zutiefst geistliches Unterfangen. Doch der kirchliche Ruf nach Innovation bleibt sonderbar vage, wo er die Aufgabe zu stark spiritualisiert. Der Heilige Geist trägt uns nicht ins gelobte Land, wir müssen selber gehen, aber er begleitet uns auf dem Weg dorthin. Es genügt nicht, um Erneuerung und Aufbruch zu beten, ohne selbst loszuziehen.
Damit Gottes Volk aber – bildlich gesprochen – von Ägypten ins gelobte Land ziehen kann, muss entweder die Situation in Ägypten so unerträglich geworden sein, dass es von dort aufbricht, oder es braucht eine prophetische Idee von der Schönheit des gelobten Landes. Definitiv von Vorteil ist es, wenn das Volk weiss, wie zu wandern ist: in Etappen, die seine Kräfte nicht überfordern. Gut ist es, wenn in unübersichtlichen Lagen Kundschafter vorausgeschickt werden können, damit nicht gleich das ganze Volk ins falsche Tal abbiegt. Die Kundschafter dürfen dabei gerne etwas mutiger sein als der Rest des Volkes.
Das 2017 bereits nach vier Monaten in zweiter Auflage erschienene und mittlerweile über eintausend Mal verkaufte «Gründerhandbuch für pastorale Start-ups und Innovationsprojekte» setzt bei oben genannten Überlegungen an, adaptiert einerseits pastoral und theologisch ungewohntes Handwerkszeug aus wissenschaftlicher Ökonomik, Führungsforschung und Gründerszene für die Kirchenentwicklung und reflektiert sie theologisch; andererseits plädiert es aber konsequent dafür, – nun in einem moderneren Bild gesprochen – beim Kochen mit dem anzufangen, was gerade im eigenen Kühlschrank ist. Was ist darunter zu verstehen?
Mehr als nur originell
Anders als oft gedacht, ist spätestens seit Joseph Schumpeter (1883–1950) unter innovativ erheblich mehr zu verstehen als nur etwas Originelles. Zur Idee müssen zwei Dinge hinzukommen: Erstens die erfolgreiche Anwendung (Applikation) der Idee auf ein Nutzerbedürfnis, sprich: wenn das neue Produkt niemand brauchen kann, ist es keine Innovation. Und zweitens braucht es ein Konzept für die erfolgreiche Verbreitung des Neuen. Soziologisch spricht man von Innovationsdiffusion. Ob etwas wirklich innovativ ist, entscheiden nicht die Anbieter, sondern die Adressaten. Der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle (1929–1994) formulierte den Blickwechsel vom Anbieter zum Adressaten wie folgt: «Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.»1 Innovation wird im Traditionsverständnis Hemmerles zum kreativen Akt, für den die Empfänger konstitutiver sind als die Übermittler der Botschaft.
Vor dieser theologischen und ökonomischen Kulisse schlägt das Gründerhandbuch vor, die kreativ-unzufriedenen Frauen und Männer im Volke Gottes zu entdecken, die nicht darauf warten, dass der Hersteller das «Produkt» verbessert, sondern die in die eigene Werkstatt gehen und selber Hand anlegen. In der Innovationsforschung wird dieses Phänomen beispielsweise am Erfinder des Rollkoffers studiert, einem Piloten, der sich Rollen unter das Handgepäck schraubte, weil er das Schleppen satthatte.
Neues schaffen, Altes verabschieden
Gesucht sind also Menschen, die in der vielgestaltigen kirchlichen Krisenherausforderung nicht jammern, sondern die selber Verbesserungen der Sichtbarkeit Gottes vornehmen, indem sie der Kirche Updates verpassen und dabei auch Mut zur Deinstallation nicht mehr benötigter Funktionen haben. Erneuerung und Läuterung (vgl. GS 21) sind das Gebot der Stunde, oder in der Sprache des Gründerhandbuchs: Innovation und Exnovation sind gefragt. Um eine Hand frei zu haben für das Neue, muss zwangsläufig auch etwas Altes abgekündigt werden. Dies ist schwer in Kontexten, wo oft wenige und einflussreiche Mitglieder sterbender Gemeinden nachvollziehbarerweise zuerst an die eigenen Bedürfnisse denken. Die Autoren des Gründerhandbuches empfehlen im Geiste eines amerikanischen Kollegen: «Wenn man sich entschieden hat, seiner Kirche nicht elegant ins Grab zu helfen, dann investiere man in die beharrlichen Bewahrer maximal so viel Energie, dass sie einem nicht schaden können.» Das ist provokant, aber es deckt sich mit den Erfahrungen all derer, die den Spagat zwischen lebensverlängerndem Aufrechterhalten und Aufbruch zur Erneuerung derzeit versuchen und spürbar an ihre Grenzen kommen, weil die Kräfte nicht reichen.
Minimierung des Flop-Risikos
Bricht das Volk Gottes auf, stellen sich weitere Fragen: Wie geht Aufbrechen? Ist der Weg nicht zu weit, ist das Ziel nicht zu fern, und ist es überhaupt das richtige Ziel? Auch soziale, ökologische oder kulturelle Gründer kennen das Problem: Sie wissen noch gar nicht genau, wohin sie gehen müssen, aber aufbrechen müssen sie trotzdem. Ökonomisch spricht man von Ungewissheit. Sind weder Angebot noch Nachfrage bekannt, kann nicht gross geplant werden und deshalb ist in kleinen Schritten vorzugehen.
Das Gründerhandbuch führt ein in die sogenannte Effectuation-Methode**: Statt das perfekte Menü für Gäste zu kreieren, die man noch gar nicht kennt, lädt man diese selbst zum Mitkochen ein – mit ihren eigenen Rezeptideen und mit dem, was sie gerade im Kühlschrank haben und zu geben bereit sind. Es muss nicht gleich das grosse Dinner sein, man kann ganz klein anfangen. Und es versteht sich von selbst: Kochabende und Kirchenentwicklung werden vor allem da interessant, wo unterschiedliche Geschmäcker zusammenwirken, denn je unterschiedlicher die Kochkulturen, desto abwechslungsreicher auch die Kühlschrankinhalte. Klingt wie eine typisch moderne Kirchenmetapher, kommt aber aus der wirtschaftswissenschaftlichen Gründungsforschung; und auch theologisch wird es interessant, wenn nicht nur Theologen mitkochen, sondern auch «normale» Menschen.
Das Gründerhandbuch lehrt konsequent einen Ansatz der Kirchenentwicklung, bei dem zuerst mit einem Dummy (Attrappe) getestet wird, ob jemand mitmacht. Ein Dummy ist beispielsweise ein Plakat oder ein Faltblatt für eine Veranstaltung, die es noch gar nicht gibt. Statt lange zu planen, vorzubereiten und am Ende Reklame zu machen, beginne ich in maximalem Kontakt zu den Adressaten mit der Frage: «Würden Sie da hinkommen? Sieht das Angebot so aus, dass es auch Ihre Nachbarn begeistern könnte?»
Im Blick ist die Minimierung des Flop-Risikos. Bevor ich etwas «ganz gross» umsetze, frage ich nach der minimalen funktionierenden Version meines Vorhabens. Vielleicht kann ich ein Angebot für 120 junge Erwachsene vorher mit 10 Personen ganz klein testen. Mit diesem Stil pastoraler Prototypenentwicklung will das Gründerhandbuch auch ermutigen, endlich neue Fehler zu machen, statt immer die alten. Denn Fehlerfreundlichkeit und -freudigkeit stehen ganz im Zentrum von Innovationskultur.
Die Sprache der Gründer sprechen
Auf diese Weise entstehen neue Ideen davon, wie Kirche «gehen» könnte, und zwar nicht nur in der Nische des Originellen, sondern auch im grösseren Stil. Nicht alles trägt durch, viele Innovationsprojekte sind schlicht Prototypen des Kircheseins der Zukunft – sie müssen noch reifen und können in der Bewährungsprobe auch floppen. Entscheidend ist aber, dass immer mehr haupt- und ehrenamtlich Engagierte den Aufbruch wagen und mit gutem Handwerkszeug an der Zukunft der uns umgebenden Welt mitarbeiten und darin die Zukunft von Kirche entdecken. Der Anspruch des Gründerhandbuches ist daher letztlich ein simpler: Die Anwender sollen in für sie brauchbarer und motivierender Weise Konzepte und Modelle kirchlicher Innovation und Gründung an die Hand bekommen, mit denen sie in kleinen, leistbaren Schritten an der Zukunft arbeiten können. Und sie sollen dabei dieselbe Sprache und dieselben Logiken kennenlernen, die auch «da draussen» zum Einsatz kommen, wenn beispielsweise digitale, ökologische, soziale oder gewerbliche Gründer ans Werk gehen. Wenn wir sie verstehen und sie auch uns, dann werden ganz neue Kochgemeinschaften möglich.
Florian Sobetzko