Die Chance ihrer Kernkompetenzen

Noch ist es nicht zu spät! Ihrem Bedeutungs- und Selbstverständlichkeitsverlust in der Zivilgesellschaft können Kirchen mit ihren profilbildenden Kernkompetenzen entgegenwirken.

Auch wenn sich für die katholische Kirche ihre zahlenmässige Präsenz (vor allem dank katholischer Migranten) und ihre ökonomische Grosswetterlage noch als recht stabil erweisen, wird keiner ihren Bedeutungs- und Selbstverständlichkeitsverlust in der schweizerischen Zivilgesellschaft schönreden können. Mit den anderen etablierten Kirchen muss sie realisieren, dass die Zeiten vorbei sind, in denen sie von sich glauben konnte, von einer breiten Öffentlichkeit selbstverständlich als relevante Diskurspartnerin gehört und relativ widerspruchslos ernst genommen zu werden.

Gerade diese Entwicklung darf nicht vergessen machen, dass das Christentum (wie auch das Judentum und der Islam) eine nach aussen gerichtete Religion ist und bleibt. Trotz Erosion und Gegenwind sollte die Kirche niemals einer Selbstzweckmentalität verfallen, die, von Verlustängsten getrieben, sich krampfhaft gegen jedwede Veränderungen wehrt und stellt. Was diesbezüglich Johann Baptist Metz anmahnt, bleibt nicht nur bedenkenswert, sondern verschärft sich unter den Vorzeichen der fortgeschrittenen Moderne: Für eine nach aussen gerichtete Kirche sollten sich Spiritualität und Praxis immer so durchdringen, dass sich die Kirche niemals auf der Seite derer findet, die solche Realitäten, Strukturen und Prozesse (mit)verantworten bzw. (mit)bedingen, in denen Menschen ideologisch geblendet, verblendet und verzweckt werden. Diese Sensibilität nimmt die Kirche immer wieder in die Pflicht, nicht nur macht- und herrschafts- ideologische Einbahnstrassen und positivistische Realitätsverweigerungen in der Zivilgesellschaft zu demaskieren, sondern sie mit gegenläufigen Realitäten, Optionen und Strategien in ihren eigenen Strukturen zu durchkreuzen.

In diesem Sinn muss die Kirche in der Tat die Profilfrage an sich heranlassen – und zwar als kritische Anfrage an das, was sie als ihre Kernkompetenzen bezeichnen würde. Hierfür gibt es natürlich eine Vielzahl von Möglichkeiten. In der Kürze dieses Beitrags können nur wenige paraphrasiert werden. Ich beschränke mich auf die Kernkompetenzen Partizipation, Synodalität, Transparenz und Pluralität sowie Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen.

Aktive Teilnahme und Teilhabe

Partizipation kennt verschiedene Möglichkeiten und Grade. Es steht ausser Zweifel, dass vom höchsten Grad von Partizipation erwartet wird, dass er nicht nur aktive Teilnahme, sondern zugleich aktive Teilhabe ermöglicht und Menschen befähigt, selbstbestimmt und verantwortlich zu denken und zu handeln. Kirchlich verantwortete Partizipation zielt in diesem Sinn auf eine Subjektwerdung des Menschen, die nicht nur seine spirituelle und religiöse Entwicklung tangiert, sondern auch sein Partizipationsverständnis und -verhalten in sozialen Kontexten (Engagement). Kirchlich verantwortete Partizipation sagt damit wesentlich auch etwas über den pluralitätssensiblen Charakter von Kirche als Institution selbst aus. Dies setzt selbstredend voraus, dass die Kirche in ihren eigenen Strukturen und Prozessen Partizipation als selbstwirksames Teilnahme- und Teilhabegeschehen ermöglicht, welches sich frei von subversiven und offenen Machtideologien, Gutsherrenmentalitäten und gegenseitigen Ausgrenzungstaktiken erweist, weil es möglichst alle in die Partizipationsprozesse einbeziehen will.

Es versteht sich damit von selbst, dass geschichtlich gewachsene Formen und Konstellationen von Partizipation in der katholischen Kirche kritisch überprüft und in entsprechende neue Formen überführt werden müssen, die den veränderten Rollenverständnissen kirchlicher Handlungs- und Entscheidungsträger gerecht werden müssen. Hierfür erweisen sich Synodalität und Transparenz der Diskurs- und Entscheidungsprozesse als entscheidende Qualitätsmerkmale. Das duale System in der Schweiz bietet einen durchaus produktiven Interpretations- und Erprobungsrahmen für die Weiterentwicklung von Partizipation als Kernkompetenz von Kirche, zumal die Art und Weise, wie Partizipation hier realisiert wird, wesentlich über die Art und Weise des Partizipationsverhaltens der Katholiken auch in den zivilgesellschaftlichen Kontexten mitentscheidet (insbesondere in Bezug auf Jugendliche und junge Erwachsene). Partizipation in diesem Sinn als profilbildende Kernkompetenz von Kirche selbstkritisch zu vertiefen, erweist sich auch deswegen von hoher Bedeutung, da sie wesentlich über die Innen- und Aussenwahrnehmung von Kirche als sozialisierende oder entsozialisierende Grösse und Kraft in der Schweiz entscheidet.

Pfarrlich und überpfarrlich erfährt sich die Kirche daher herausgefordert, in erster Linie charismen- orientiert und nicht ämterorientiert Partizipation zu ermöglichen. Folglich können neue Formen haupt- und ehrenamtlicher Berufsprofile nicht einfach von oben herab diskutiert werden, sondern müssen quasi von unten her entdeckt, reflektiert und professionalisiert werden. Solche Erkundungen können in Zukunft nicht ohne den gleichzeitigen Einbezug derjenigen geschehen, die das Gesicht der katholischen Kirche in der Schweiz wesentlich mitprägen: die anderssprachigen Pfarreien bzw. Sprachenmissionen. Mit einem derart breit aufzustellenden Partizipationsverständnis kann Kirche folglich auch ihr kritisches Potenzial für entsprechende Schieflagen nicht nur in innerkirchlichen, sondern vor allem auch in ausserkirchlichen Partizipationskontexten schärfen und als ihre Kernkompetenz einbringen.

Befreiende Erfahrungen ermöglichen

Damit sind weitere Kriterien benennbar, die die pfarrlichen und überpfarrlichen Kernkompetenzen von Kirche tangieren, nämlich Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Die gegenwärtige Steigerung und Fluidität von Individualisierungs-, Pluralitäts-, Interkulturalitäts- und Mobilitätserfahrungen menschlicher Lebenskontexte führt einerseits zu neuen Erfahrungs- und Denkmodellen der Menschen, anderseits zu radikalen Unsicherheits- und Angsterfahrungen. Diese Herausforderungen verpflichten die Kirche geradewegs zu einer hohen Sensibilität, den subjektbezogenen und situationsoffenen Charakter des christlichen Evangeliums vom «Deus Humanissimus» (Edward Schillebeeckx) als verlässlich und glaubwürdig in adäquaten Denk- und Handlungsmodellen sprachfähig zu machen bzw. sprachfähig zu halten.

Ob und wie die Kirche diese Herausforderungen angehen kann, hängt wesentlich davon ab, ob und wie sie jeglichen unglaubwürdigen Dimen- sionen und Formen des Evangeliums vom «Deus Humanissimus» entgegenwirken kann. Hierfür sind keine Lösungsansätze dienlich, die mit einem kulturpessimistischen Blick, mit permanenter Moralisierungsrhetorik und der Sakralisierung von Personen, Ämtern und Strukturen auf straffe Aktions- und Reaktionsmuster Gleichgesinnter zielen und eine derart starke Identifizierung mit einem System zum Ziel haben, dass um dessen Ehrenrettung willen rechtsfreie Räume radikaler Unmenschlichkeit in Kauf genommen werden. Auch helfen solche Lösungsansätze nicht weiter, die auf Basis eines möglichst kritikfreien Positivismus mutmasslich innovative Formen und Orte von neuem Kirchesein suchen und kreieren und dabei in Kauf nehmen, dass sich die Kirche in erlebnisorientierte Selbstreferenzialitäten und Belanglosigkeiten «hineinspiritualisiert».

Beide Stossrichtungen sind ideologiebeladen und sie flüchten sich in die Geborgenheiten eines «heiligen Rests». Demgegenüber Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen als Kernkompetenzen zu realisieren, bedeutet vielmehr, gefährlich zu sein für alle beruhigenden Strukturen und Prozesse einer verbürgerlichten Kirche und Gesellschaft. Konkret bedeutet dies, dass Kirche sich niemals einer Wenn-dann-Haltung unterwerfen darf, die die befreiende Erfahrungswirklichkeit Gottes nur für einige wenige offenhält. Vielmehr sollte sie ein hohes Mass an herrschaftsfreier Streitkultur zulassen, die Menschen weder den Gott Jesu noch die Kirche als blosses disziplinierendes Über-Ich erfahren lässt, sondern als selbstwirksame Bezugspunkte und Quellen subjektbezogener und situationsoffener Zeitgenossenschaft für alle.

Es ist noch nicht zu spät

«Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben» – selbst wenn Michail Sergejewitsch Gorbat- schow dieses geflügelte Wort so nie gesagt hat, umschreibt es auch die Schicksalshaftigkeit der katholischen Kirche in der Schweiz. Allen Unkenrufen zum Trotz ist es für sie noch nicht zu spät. Sie sollte jedoch jetzt die Chancen einer selbstkritischen Reflexion ihrer Kernkompetenzen ergreifen, um dem Risiko ihres Bedeutungs- und Selbstverständlichkeitsverlustes aktiv entgegenzuwirken.

Salvatore Loiero


Salvatore Loiero

Prof. Dr. Salvatore Loiero (Jg. 1973) ist Priester des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg. Er studierte Theologie, Philosophie und Psychologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und habilitierte in Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist seit 2013 Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ü.