Entfremdung von der Kirche als Chance

Immer mehr Menschen leben in Distanz zur Kirche, entsprechend fehlt bei Kindern und jungen Menschen oft die kirchliche Sozialisierung. Dies ist nicht nur negativ zu sehen.

Warum sind in den letzten zehn Jahren so viele kirchliche Missbrauchsfälle in die Öffentlichkeit gelangt? Zum einen hat sicher das proaktive Vorgehen seitens der Jesuiten und einzelner anderer Exponenten dazu beigetragen. Zum anderen ist zu bedenken, ob nicht die in den vergangenen Jahrzehnten wahrnehmbare Entfremdung von der Kirche ebenfalls eine wesentliche Voraussetzung war. Denn diese Distanz erst lässt über die negativen Erfahrungen und die darin liegenden Verletzungen sprechen. Diese Hypothese wird gestützt durch ein bekanntes Phänomen: Wir wissen, dass die meisten Missbrauchsfälle in den Familien geschehen und dort aus Scham und aus einem falschen Loyalitätsverständnis ungenannt bleiben.

Die Entfremdung von der Kirche hat dazu geführt, dass wir viel offener über unsere Erfahrungen in ihr sprechen und gleichzeitig über unsere eigenen, vielleicht unbefriedigten Bedürfnisse und Erwartungen an die Institution. So sind wir sogar bereit, anzuklagen, wo Kirche schuldig wird.

Kirche als Hörerin

Diese Entwicklung hat aus meiner Erfahrung eine Implikation für die Berufungspastoral. Auch die Menschen, die sich für einen kirchlichen Beruf interessieren, leben vielfach in einer grösseren Distanz zum kirchlichen Binnenraum, als dies früher erkennbar war. So sind sie weniger geprägt von traditionellen Kirchenbildern und einem traditionellen kirchlichen Amtsverständnis. Sie sind aber interessiert an einer Ausgestaltung ihrer Berufung und können diese oft erstaunlich konkret beschreiben. So wollen sie ihre eigenen Charismen und Gedanken einbringen, ohne diese bereits vorab an den scheinbar unverrückbar vorgegebenen kirchlichen Strukturen auszurichten oder in diese einzupassen.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend geraten, Berufungspastoral noch mehr als ein Geschehen göttlichen Rufens und gemeinsamen Hörens zu verstehen. Es wäre eine zutiefst unbiblische Vermessenheit, so zu tun, als würde die Kirche berufen – auch sie ist in erster Linie Hörerin. Noch bedenklicher wäre es, wenn die Kirche sich im irrigen Selbstverständnis verliert, sie könne die Antwort auf den Ruf in spezifischen Berufsbildern vorgeben. Die Antwort auf den Ruf Gottes bleibt immer ein persönliches Geschehen.

Für eine vielfältigere Kirche

Eine hörende Berufungspastoral kann also nicht die Aufgabe haben, zu überlegen, wo sich eine Person in die vorhandene Struktur eingliedern lässt. Vielmehr muss es darum gehen, gemeinsam danach zu suchen, wie diese Person ihre je eigenen wertvollen Charismen einsetzen kann, um dem spezifischen Anruf Gottes an sie zu folgen.

Die Aufgabe kirchlicher Personalarbeit wäre es, zu bedenken, inwieweit solche Charismen auch für die Weitergabe des Glaubens in der Gesellschaft dienlich wären. Wo beispielsweise bräuchten wir einen berufenen Grafiker, eine aktive Journalistin, einen Juristen, eine Bankerin, – oder gar einen Fischer?

Die Weitergabe des Glaubens braucht heute mehr denn je nicht nur Theologinnen und Theologen. Und selbst in den vielfältigen Formen beruflicher Seelsorge könnten andere Ausbildungen eine segensreiche Ergänzung kirchlichen Wirkens sein.

Diese Erkenntnis hat zur Folge, dass Anstellungsanforderungen grundsätzlich neu bedacht werden müssten. Dies wiederum hätte den Effekt, dass Menschen sich in ihrem eigenen Berufungserleben ernst genommen fühlten und kirchliches Leben vielfältiger gelebt würde.

Thomas Leist


Thomas Leist

Thomas Leist (Jg. 1967) ist Leiter der Fachstelle Information Kirchliche Berufe IKB und Projektleiter von «Chance Kirchenberufe». Mit seiner Frau ist er in solidum seit 24 Jahren pfarreibeauftragt, aktuell in Herrliberg ZH.