Ein Leben für die Arbeiterschaft

Bei seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress am 24. September 2015 erwähnte Papst Franziskus Dorothy Day (1897–1980) als eine Persönlichkeit, die mit ihrer Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit Amerika geprägt habe.

Dorothy Day. (Bild: Americaine Magazine)

 

Die bei uns wenig bekannte Sozialaktivistin und Journalistin Dorothy Day wird als zentrale Figur für den Umbruch der katholischen Kirche Amerikas in der Mitte des 20. Jahrhunderts gesehen. Sie gründete in New York die katholische Arbeiterbewegung (Catholic Worker), nahm sich der Bedürftigen an, profilierte sich als Friedensaktivistin und wird nach ihrem Tod als Kandidatin zur Heiligsprechung vorgeschlagen. Wer war diese Frau?

Armut am eigenen Leib erfahren

Dorothy Day wächst in einem areligiösen Elternhaus auf und wird 1906 durch die Arbeitslosigkeit des Vaters erstmals mit Armut konfrontiert. In einem Arbeiterquartier Chicagos lernt sie den Katholizismus kennen, der den ausgebeuteten Immigranten Trost spendet, eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft jedoch verbietet. Der amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair (1878–1968), der in den USA den aufdeckenden Journalismus einführt, öffnet ihr mit seinem Buch The Jungle1 die Augen für die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. 1914 kommt Day an der Universität in Urbana in Berührung mit kommunistischem Gedankengut. Nach dem Abbruch ihres Studiums arbeitet sie ab 1916 bei der sozialistischen Tageszeitung The Call in New York. Diskussionen mit dem Redaktionsteam schärfen ihr politisches Bewusstsein. Sie erfährt, wie staatliche Repression und ein bewusst geschürter Fremdenhass die Arbeiterbewegung Amerikas von Beginn an geschwächt haben. Weil die 1905 in Chicago gegründeten Industrial Workers of the World sich trotzdem für die Arbeiterschaft einsetzt, wird Day ihr Mitglied. Schon mit 19 Jahren Expertin im aufdeckenden Journalismus, findet Day Arbeit beim renommierten linken Magazin The Masses. Bei Hausdurchsuchungen und Gefängnisaufenthalten erfährt sie das brutale Vorgehen der Polizei gegenüber Anarchisten und Radikalen am eigenen Leib.

Gewerkschaft und Gotteskindschaft

Als der Börsencrash 1929 Amerika in eine riesige Depression stürzt, haben Gewerkschaften Zulauf und Papst Pius XI. muss eingestehen, dass die Kirche die Arbeiterschaft der Welt verloren hat. Day, die auf der Suche nach Gott und einer spirituellen Kommunität 1927 der katholischen Kirche beitritt, kann nicht verstehen, weshalb die Kirche den Arbeiterkampf nicht unterstützt. Ende November 1932 begleitet sie als Journalistin den kommunistisch organisierten Hungermarsch von 20'000 Arbeitslosen, die in Washington staatliche Arbeitslosengelder, Witwen- und Waisenrenten und eine Altersvorsorge einfordern. Bei ihrer Rückkehr nach New York schenkt die Begegnung mit Peter Maurin (1877–1949) Days Leben eine neue Richtung. Der gebürtige Franzose lebt wie ein Franziskus der Moderne. Vertraut mit der frühchristlichen Tradition und mit Aufbruchbewegungen in der katholischen Kirche Europas, verkündet er die dynamische Botschaft des Evangeliums radikal. Mit Hilfe der Journalistin Day möchte er die katholische Soziallehre in den USA bekannt machen.

Die 1933 gemeinsam gegründete Zeitung The Catholic Worker verleiht dem linken Flügel der katholischen Kirche Amerikas eine Stimme und wird zum Grundstein der Catholic Worker-Bewegung, die Häuser für Obdachlose eröffnet und Gäste wie Christus empfängt. In der ersten Ausgabe von Catholic Worker wird Jesus als Arbeiter dargestellt, der seine Compagnons und Compañeras einlädt, sich von Gott berühren und begleiten zu lassen. Die Editorin Day berichtet aber auch über Streiks, die Ausbeutung der Schwarzen und über die Liturgiereform der katholischen Kirche. Sie sehnt sich nach einer Synthese kommunistischer und christlicher Gedanken und kritisiert als Befreiungstheologin avant la lettre die Sünden einer Kirche, die sich mit den Mächtigen verbündet. Aus ihrer Sicht sollten kirchliche Praxis und Verkündigung geprägt sein vom jesuanischen Lebenskonzept der Solidarität, des Machtverzichtes und der Geschwisterlichkeit. Für Day bedrohen nicht Kommunisten die Kirche, sondern Gläubige, die sich nicht für ihre unterprivilegierten Glaubensgeschwister einsetzen, Arbeitsbedingungen, die Spiritualität verunmöglichen und Kleriker, die Gewerkschaften verteufeln.

Dorothy Days Glaube flüchtet nicht in Himmelsseligkeit, sondern drängt zum innerweltlichen Einsatz. Nach ihrer Konversion ergänzt sie die politischen Vorstellungen eines solidarischen Zusammenlebens mit religiösen Bildern der Gotteskindschaft und der Verbundenheit im mystischen Leib Christi. Dabei wird sie unterstützt von Dom Virgil Michel OSB (1890–1938), der als überzeugter Verfechter des Laienapostolates betont, dass die in der Eucharistie erfahrene egalitäre Gemeinschaft (Communion) im Alltag der Gemeinschaft (Communio) weiterlebt. Durch die Synthese von Liturgie und Diakonie entstehen im Umfeld des Catholic Workers soziale Aktionen, bei denen eine orthodoxe Theologie mit politischer Fortschrittlichkeit verschmilzt.

Linksrutsch in der katholischen Kirche

Die Catholic-Worker-Bewegung, die mit einem kontrakulturellen Leben den «american way of life» in Frage stellt, legt den Grundstein für einen Linksrutsch in der katholischen Kirche Amerikas und ist für die Gründung katholischer Gewerkschaften von entscheidender Bedeutung. Day versteht nicht, weshalb die Kirche die Begegnung mit Kommunisten als Gefahr beschreibt und plädiert für ein Zusammenstehen aller im Einsatz für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. In Ermangelung eines sozialen Reformprogrammes der Kirche schliessen sich viele Arbeiter radikalen Gruppierungen an. Im Chicago der 30er-Jahre sind Catholic Worker aktiv im Gewerkschaftssektor tätig und der bekannte Gewerkschaftsführer Walter Reuther (1907–1970) verkehrt in ihrem Hospiz. Dorothys Reportage über das Massaker an streikenden Stahlarbeitern am Memorial Day 1937 führt das Wort catholic in die Geschichte der Arbeiterbewegung Chicagos ein. Der Bericht erweckt das Interesse des christlich-sozialen John Cort (1913–2006), der 1937 am Küchentisch eines Catholic-Worker-Obdachlosenheims die Association of Catholic Trade Unionists gründet. ACTU unterstützt die von radikalen Gewerkschaften organisierten Streiks und versucht aufzuzeigen, dass katholische Lehre und sozialistisches Kämpfen nicht unvereinbar sind. Schon bei der Unterstützung der streikenden Seeleute 1936 in New York machen Catholic Worker klar, dass Katholizität sich auch im sozialen und politischen Bereich ausdrückt. Täglich ernähren sie bis zu 1000 Streikende und geben ihnen durch die Solidarität Würde und Gewicht.

Engagement für eine sinnstiftende Arbeit

Für Dorothy Day ist Lohn- und Carearbeit ein Mitwirken am göttlichen Schöpfungswerk und sie erklärt, wenn Arbeit Berufung und nicht Strafe sein soll, muss eine Tätigkeit so beschaffen sein, dass sie Gott ehren und Menschen beglücken kann. Sie bekämpft die Auswüchse der industriellen Revolution, wehrt sich gegen höllische Arbeitsbedingungen und monotone Fliessbandarbeit und ermuntert die Arbeiterschaft, den Besitz der Produktionsmittel anzustreben. Nicht der Wohlfahrtsstaat ist ihr Ideal, sondern sinnstiftende Arbeit und Landreformen. Im Catholic Worker berichtet sie vom Elend der Landvertriebenen und streikenden Salatpflücker. Sie unterstützt die Gewerkschaft der mexikanischen Landarbeiter und ruft dazu auf, keine unfair produzierten Konsumgüter zu kaufen. Als sie sich als Greisin 1973 der verbotenen Streikpostenkette von Arbeitsmigranten anschliesst, schreibt sie aus dem Gefängnis den kalifornischen Bischöfen in einem geharnischten Brief, der amerikanische Lebensstil habe die Kirche korrupt gemacht; man könne nicht Gott und dem Mammon gleichzeitig dienen.

Indem Day wagt, das Evangelium beim Wort zu nehmen, wird sie für viele Menschen eine Leitfigur. Sie entfacht die Glut des Pfingstfeuers erneut und schafft damit der Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung in Amerika eine Wiege. Im Kampf für soziale Gerechtigkeit fordert sie die Laien auf, nicht auf bischöflichen Erlass oder priesterlichen Auftrag zu warten, sondern ihr Gewissen zu prüfen, ihre Freiheit zu nutzen und ihre Stimme zu erheben. Am Ende ihres Lebens wird sie als Kirchenreformerin geehrt, beklagt jedoch weiterhin die Kluft zwischen Reichen und Armen und die Unfähigkeit der Kirchenhierarchie, Laien in die Verbesserung von Kirche und Gesellschaft einzubeziehen. Dorothy Day stirbt 1980 in einem Heim für obdachlose Frauen.

Monika Bauer

 

1 The Jungle ist in deutscher Übersetzung erstmals 1906 unter dem Titel «Der Sumpf» erschienen, weitere Übersetzungen folgten, auch unter dem Titel «Der Dschungel».

Buchempfehlung
Schumacher-Bauer, Monika, Genossin in Christus «Your fellow worker in Christ, D. D.». Eine ekklesiologische Studie zu Leben und Werk der amerikanischen Journalistin und Sozialaktivistin Dorothy Day (1897–1980), Wien/Zürich 2016.

 


Monika Bauer

Dr. theol. Monika Bauer (Jg. 1953) studierte nach ihrer langjährigen Tätigkeit als Primarlehrerin Theologie in Luzern. Von 2004 bis 2018 lehrte sie als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich eingehend mit Leben und Werk von Dorothy Day.

 

BONUS

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