Die letzten Jahre und Jahrzehnte haben mit neuer Deutlichkeit vor Augen geführt, was es bedeutet, in einer globalisierten und vernetzten Welt zu leben. Dabei ist immer mehr auch das Bewusstsein gewachsen, dass alle Glieder der Menschheitsfamilie aufeinander bezogen und angewiesen sind, wie Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika «Fratelli tutti» (2020) deutlich herausgestellt hat: Er weist darauf hin, dass Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie unter den Menschen die Einsicht bestärkt haben, «eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht» (Fratelli tutti, 32). Damit ist in aller Deutlichkeit das geschwisterliche Aufeinander-bezogen-Sein aller Menschen formuliert, womit ganz konkret auch Fragen wie die nach dem sinnvollen und nachhaltigen Einsatz finanzieller Ressourcen verbunden sind.
Dies ist gewiss eine Perspektive, die den Blick weit über den binnenkirchlichen Radius hinaus weitet. Aber es ist doch auch eine Perspektive, die als genuin christlich charakterisiert werden kann: Dem Christentum scheint ganz grundlegend eine sozial-karitative Dimension innezuwohnen, die sich in einem Engagement zugunsten Hilfsbedürftiger äussert und in dem Anliegen, eigenen Besitz für andere fruchtbar werden zu lassen – und zwar über die Grenzen des eigenen unmittelbaren sozialen Umfeldes hinaus. Dass diese Grundhaltung dem Christentum bereits von seinen Wurzeln her innewohnt, vermag ein Blick ins Neue Testament zu verdeutlichen.
Orientierung an Gottes Handeln
Dort lässt sich klar erkennen, dass die Gottesbeziehung und die zwischenmenschlichen Relationen in einer dichten Weise aufeinander bezogen sind. Den Ausgangsimpuls bilden dabei die Verkündigung und das Leben Jesu, die um die Botschaft von Gottes- und Nächstenliebe kreisen. In seiner konkreten Zuwendung zu Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, drückt sich letztlich die Zuwendung und Liebe Gottes zu allen Menschen aus. Eine Trennung zwischen einer religiös-theoretischen Ebene und einer Handlungsebene ist bei Jesus also schlechterdings nicht erkennbar, und diese Verbindung von Glaube und Handeln prägt auch das gesamte frühe Christentum. Dies spiegelt sich deutlich auch im paulinischen Schrifttum wider. Für Paulus wird die Zuwendung Gottes zum Menschen zum Modell, an dem sich Menschen in ihrem sozialen Miteinander orientieren sollen. Es geht darum, sich dem Nächsten in der Weise zuzuwenden, wie sich Gott in Christus den Menschen zugewandt hat. Dieses Ineinander von religiöser Überzeugung und Handlungsorientierung prägt besonders deutlich jene Ausführungen, in denen Paulus im Ersten Korintherbrief auf ein Fehlverhalten seiner Adressatengemeinde reagiert (1 Kor 11,17–34). Denn indem diese beim Herrenmahl die Hingabe Jesu feiert, auf der zwischenmenschlichen Ebene aber diametral vom Vorbild Jesu abweicht, verdunkelt sie den Zusammenhang, der zwischen der in Christus erwiesenen Liebe Gottes und dem christlichen Sozialverhalten bestehen sollte. Stattdessen fordert Paulus dazu auf, sich am Vorbild Jesu, an seiner Hingabe zu orientieren, diese in den eigenen Lebensvollzügen selbst zu realisieren und damit letztlich zu einer Verwandlung des Lebensumfeldes beizutragen.
Neue Sozialform des Miteinanders
Aus dieser Grundhaltung heraus formieren sich – zunächst kleine – christliche Gemeinschaften, die man als Lebens- und Weggemeinschaften begreifen muss. Diese christlichen Sozialstrukturen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen und so die Überwindung sozialer Unterschiede erlebbar und erfahrbar wird. Diese verbindende Dimension stellt dabei ein Charakteristikum der frühchristlichen Gemeinden dar. Darin unterscheiden sie sich recht deutlich von anderen Vergemeinschaftungsformen jener Zeit – etwa dem antiken Vereinswesen, das oftmals als Referenzgrösse herangezogen wird – und entwickeln dadurch eine Attraktivität und Strahlkraft in ihre Umwelt hinein. Die Unmittelbarkeit der Gottes- und Christusbeziehung steht damit an erster Stelle, nicht die Frage der Herkunft und des Geschlechts, nicht der soziale Status, nicht, ob jemand dem Sklavenstand angehört oder frei ist (Gal 3,28) – und auch nicht die Frage, welche Reich- und Besitztümer jemand in seinem Leben angesammelt hat.
Es dürfte damit deutlich geworden sein, dass nach neutestamentlicher Perspektive die in Jesus Christus eröffnete neue Gottesbeziehung zum fundierenden Grund für ein gewandeltes zwischenmenschliches Miteinander wird. Dies wirkt sich auch auf den Umgang mit finanziellen Mitteln aus: In den Evangelien wird verschiedentlich eine deutliche Skepsis gegenüber der Anhäufung von Reichtum geäussert. Das gilt insbesondere dann, wenn Wohlstand und Reichtum für einen begüterten Menschen an die Stelle der Gottesbeziehung treten, also zum Götzen werden, und wenn sie im sozialen Miteinander die Orientierung an der Liebe Gottes zum Menschen als Massstab zwischenmenschlicher Begegnungen in den Hintergrund drängen. Es sei an Texte erinnert wie das Mahnwort Jesu, wonach eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich gelangt (vgl. Mt 19,24; Mk 10,25; Lk 18,25), oder an die damit in allen synoptischen Evangelien verbundene Aufforderung, nicht irdische, sondern himmlische Schätze zu sammeln (Mt 19,21; Mk 10,21; Lk 18,22).
Aus diesem jesuanischen Impuls heraus speist sich letztlich auch die Lebensrealität in der frühen Jerusalemer Gemeinde, wie Lukas sie in seiner Apostelgeschichte beschreibt. Denn dort ist davon zu lesen, wie im Rahmen der vorher skizzierten neuen Sozialform des christlichen Miteinanders Güter geteilt und Bedürftige unterstützt werden. Vergleicht man diese sozial-karitative Praxis mit dem sozialgeschichtlichen Umfeld – konkret mit der Art des Zusammenlebens, die im Römischen Reich üblich war –, dann ist das christliche Miteinander nicht ohne Recht als etwas revolutionär Neues und vom zeitgenössischen Usus Abweichendes bewertet worden. Ob diese Form des Zusammenlebens hingegen als eine Art des «Ur-Sozialismus» angemessen gedeutet ist, lässt sich wenigstens in einer Hinsicht kritisch diskutieren: Denn es dürfte deutlich geworden sein, dass die Motivationsstruktur der christlichen Gütergemeinschaft ganz spezifisch in dem Anliegen wurzelt, die Zuwendung Gottes auch im zwischenmenschlichen Bereich konkret werden zu lassen und sie für andere – unter anderem auch in finanziellen Gaben – greifbar zu machen. Die Erfahrung, von Gott überreich beschenkt zu sein, wird zur Grundlage dafür, in der Beziehung zu anderen Menschen gemäss dem Vorbild Gottes handeln und ebenfalls geben zu wollen. Eine rein auf die monetäre Ebene bezogene Deutung wird dem dezidiert religiös fundierten Novum nicht gerecht.
Eine neue Vision der Verbundenheit
Bereits in neutestamentlicher Zeit ist auch die Überzeugung einer gemäss den damaligen geografischen Vorstellungen weltweiten zwischenmenschlichen Verbundenheit erkennbar. Aus der Perspektive des Judentums – und das ist eben auch die Perspektive des frühen Christentums – unterteilt sich die Menschheit in zwei unterschiedlich grosse Teile: einen jüdischen und einen nichtjüdischen Teil. Bemerkenswert ist nun, dass Paulus im Zuge seiner missionarischen Tätigkeit in nichtjüdischen Gemeinden finanzielle Unterstützung für bedürftige jüdische Menschen sammelt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Geste der gelebten Nächstenliebe. Vielmehr liegt dieser Kollekte eine Tiefendimension zugrunde, die auf eine einzigartig neue Vision der Verbundenheit der gesamten Menschheit verweist: Den nichtjüdischen Völkern ist durch Jesus Christus das Angebot erschlossen, in eine Beziehung zum Gott Israels eintreten zu dürfen. Damit wird der ursprünglich auf Israel begrenzte Heilsraum einer bewussten, konkret lebensprägenden Gottesbeziehung universal geöffnet und eine neue, grundlegende Beziehung zwischen den beiden Menschheitsteilen – dem jüdischen und dem nichtjüdischen – konstituiert. Die dadurch entstehende Verbundenheit wird durch die gewissermassen «weltweite» (also den gesamten nichtjüdischen Aktionsradius der paulinischen Verkündigung umfassende) Kollekte zugunsten jüdischer Bedürftiger zum Ausdruck gebracht. Auch hier liegt einem christlichen Akt des Teilens und des sozial-karitativen Engagements wiederum eine religiöse Überzeugung zugrunde. Und so lässt sich abermals formulieren, dass der Christusglaube aus neutestamentlicher Sicht keine theoretische oder rein geistig-geistliche Angelegenheit bleibt, sondern vielmehr das gesamte menschliche Handlungsspektrum umgreift und verwandelt – auch den Umgang mit finanziellen Mitteln.
Thomas Schumacher