«Die Sehnsucht nach dem heilen Leben wecken»

Was für eine Zukunft wollen wir? Was können Christinnen und Christen für eine gute Zukunft der Menschheit tun? Die SKZ sprach mit Johannes Hartl über sein neues Buch «Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen».

Dr. theol. Johannes Hartl (Jg. 1979) studierte Germanistik und Philosophie und promovierte in katholischer Theologie. Er gründete zusammen mit seiner Frau das Gebetshaus Augsburg. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Konferenzsprecher. (Bild: johanneshartl.org)

 

SKZ: Herr Hartl, was war Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben?
Johannes Hartl: Mir scheint, in unserer Gesellschaft gibt es gerade kein Überangebot an positiven Zukunftsvisionen. Eher im Gegenteil: Wir sind umgeben von Dystopien. Ich habe vier Kinder und kann mich nicht mit diesem allgegenwärtigen Pessimismus abfinden. Es muss etwas Besseres geben.

Sie sprechen von einer Ökologie des Herzens. Was meinen Sie damit?
Durch die ökologische Bewegung haben wir verstanden, dass es nicht egal ist, wie wir mit dem Planeten umgehen. Wird der Regen zu sauer, dann stirbt der Wald und wird die Durchschnittstemperatur zu hoch, schmilzt das ewige Eis. Nun geht es beim Menschen aber um mehr als nur um das körperliche Überleben. Ein Mensch kann rein materiell alles haben, was er braucht, und dennoch den Suizid wählen. Wir Menschen bewohnen nicht nur den Planeten, sondern auch den Raum des Herzens. Dieser ist auch gefährdet und für diesen braucht es auch eine Ökologie. Also: einen solchen Umgang damit, dass der innere Lebensraum bewohnbar bleibt. Wenn wir CO2-neu-tral leben, aber Sinn, Verbundenheit und Schönheit verlieren, sterben wir auf andere Weise auch aus.  

Gegenüber pessimistischen Stimmen sind Sie der Überzeugung, dass es eine gute Zukunft für die Menschheit gibt. Es brauche hierfür starke Visionen. Wir Menschen wissen stets sofort, was wir alles nicht wollen. Weshalb fällt es uns schwer, positive Bilder der Zukunft zu entwickeln?
Das nennen manche Autoren das Fortschrittsparadox. Es ist tatsächlich so: Es geht uns in der westlichen Welt besser als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Auch global nimmt extreme Armut ab, Bildung und Wohlstand steigen und sogar die Umweltzerstörung nimmt in vielen Teilen der Erde ab. Je besser es Menschen aber «äusserlich» geht, desto deutlicher zeigt sich, dass all das aber nicht genug ist. Die negativen Zukunftsbilder zeigen, dass wir tief drin spüren, dass es eben nicht genug ist, wenn wir immer schneller, reicher und informierter werden, wenn wir dabei immer einsamer, sinnloser und überforderter sind.

In der NZZ vom 13. Juli 2021 veröffentlichte der Literaturkritiker Roman Bucheli einen Artikel mit dem Titel: «Wer die Gegenwart gestalten will, muss die Zukunft erfinden. Wir haben auf die Fragen von morgen aber immer nur wieder die Antworten von gestern im Vorrat.» Nennen Sie mir zwei Beispiele aus der Tradition, die für die Gestaltung eines neuen Morgens von grosser Bedeutung sind.
Dass es das Wahre und dass es das Schöne gibt – und dass beides nicht relativ ist. Das ist eine Aussage der klassischen Metaphysik, der wir heute eher widersprechen würden. Die postmoderne Meinung ist eher: Es gibt «meine Wahrheit und deine Wahrheit» und Schönheit ist sowieso subjektiv. Ich glaube aber, dass der Abschied vom Glauben an die Wahrheit zu jener Zersplitterung der Gesellschaft führt, die wir aktuell erleben. Wenn es nur «meine Wahrheit und deine Wahrheit» gibt, dann klingt das auf den ersten Blick tolerant. Beim näheren Hinsehen ist es aber das Gegenteil: Es ist die Verweigerung des Gesprächs. Da aber niemand von uns die Wahrheit gepachtet hat, brauchen wir das Gespräch, die Meinungsfreiheit, den Diskurs. Aktuell erleben wir eher eine extreme Emotionalisierung fast jeder öffentlichen Debatte und aggressive Lagerbildung. Und was die Schönheit betrifft: Wenn Schönheit tatsächlich nur subjektiv ist, dann siegt am Schluss der blosse Funktionalismus. Genau das sehen wir in der Architektur des 20. Jahrhunderts. Es ist relativ schwer, Gebäude zu finden, die vor 1920 erbaut wurden und potthässlich sind. Welche europäische Altstadt ist nicht schön? Dagegen: Welche aus dem Boden ge-
stampfte Wohnblocksiedlung der 70er-Jahre ist nicht entsetzlich? Ob die Banlieues in Paris, das Märkische Viertel in Berlin oder Fürstenried-West in München: Was seit dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde, ist mit erschreckender Regelmässigkeit eine ästhetische Zumutung. Ich glaube, wir müssen die Schönheit wieder entdecken.

Gerade die Schönheit sowie die Verbundenheit und die Sinnorientierung erachten Sie als notwendende Wege für eine menschliche Zukunft. Im Buchabschnitt zur Verbundenheit schreiben Sie, dass der Umgang mit Scham und Perfektionismus ein Schlüsselthema der Zukunft sein wird (S. 70). Weshalb?
Weil wir in einer Machbarkeitsgesellschaft leben. Der westliche Kapitalismus und der immense technologische Fortschritt der letzten 200 Jahre haben das Gefühl vermittelt, dass für uns Menschen grundsätzlich fast alles möglich ist. Wenn sich aber alles technisch optimieren lässt – warum dann nicht auch der Mensch selbst? Genau das ist ein Grunddogma unserer Zeit: Optimiere dich selbst! Mach was aus dir! Und wo die Natur versagt, hilft die Schönheits-OP oder der Instagramfilter (von weiteren Zukunftsszenarien rund um künstliche Intelligenzen, Designerbabys und Transhumanismus noch ganz zu schweigen). Wo ich mich selbst optimieren kann, entsteht aber auch der Druck, genau dies zu tun. Nicht hinter den anderen zurückzubleiben. Nun hat aber jeder Mensch auch seine Schattenseiten. Weder der Körper noch die Psyche noch die Intelligenz noch die Geschichte irgendeines Menschen ist vollkommen. Durch den ständigen Fokus auf Selbstoptimierung steigt deshalb auch die Angst, in seiner Unvollkommenheit ertappt zu werden. Diese Angst nennt man Scham – und sie produziert psychischen und emotionalen Schmerz. Einsamkeit und psychosomatische Beschwerden sind gleichermassen rapide am Zunehmen. Sie sind die Schattenseite einer Entwicklung, in der es um immer mehr Reichweite, Geschwindigkeit, Erfolg und Optimierung geht, doch bei der das Herz auf der Strecke bleibt.    

Trotzdem finden Sie, dass wir «eine Renaissance der Schönheit» brauchen (S. 232). Bräuchte es nicht vielmehr einen verstärkten Fokus auf das Wahre und das Gute?
Es gibt einen Unterschied zwischen dem wirklich Schönen und dem nur oberflächlich Glitzernden. «Das war schön von dir», sagen wir, wenn eine Tat edel, liebevoll oder wahrhaftig war. Deshalb gehören das Gute und das Wahre unbedingt zum tatsächlich Schönen dazu. Menschen spüren intuitiv, was nur Reklame, was nur Make-up, was nur Photoshop und auf den Effekt getrimmt ist. Etwas aber, das authentisch schön und echt ist, strahlt etwas aus, das unmittelbar auf tiefe Weise anspricht. Gerade da, wo Menschen auf das Wahre und das Gute weniger direkt ansprechen, haben sie immer noch sehr wache Antennen für das Schöne. Letztendlich führt ein direkter Weg vom wahrhaft Schönen zum Transzendenten, zur Frage nach Gott.  

Wo sehen Sie den spezifischen Beitrag der Christinnen und Christen für die kulturelle Erneuerung?
Die Kirchen wären eigentlich privilegierte Räume für Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Menschen sehnen sich genau danach – und es entspricht zutiefst der christlichen Botschaft. Wenn Christen Verbundenheit miteinander und mit Gott ausstrahlen, im Sinne einer authentischen und ganzheitlichen Spiritualität, wenn sie sprachfähig über Fragen des Sinns und der Wahrheit sind und wenn sie aktiv beitragen, diese Welt schöner zu machen, dann können sie gerade in Zeiten wie der heutigen einen Unterschied machen und die Sehnsucht nach dem heilen Leben wecken. Eine solche einladende und lebensfreundliche Haltung nenne ich «Eden Culture». Sie macht Lust darauf, neu auf die Suche nach der Quelle des echten Lebens zu gehen. Denn die wartet auf jeden von uns.

Interview: Maria Hässig

 

Buchempfehlung: Der Autor Johannes Hartl entwirft mit «Eden Culture» die Vision einer guten Zukunft für die Menschen. Dabei sind «Verbundenheit, Sinn und Schönheit [...] die Nährstoffe », die den Garten Eden, «den Garten des Menschlichen vital halten» (S. 32). Hartl zeigt auf, welche Schritte wir in Richtung Eden tun können.

«Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen». Von Johannes Hartl. Freiburg i. Br. 2021. ISBN 978-3-451-03308-7, CHF 33.90. www.herder.de