«Eine totale Überforderung»

Die Erwartungen an die Männer sind hoch. Leistungsstark, rational, sozial und einfühlsam – so soll der Mann von heute sein. Es braucht in der Gesellschaft einen offenen Diskurs über die Männlichkeitsanforderungen und ihre verheerenden Auswirkungen.

Markus Theunert ist Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen und seit 2016 Programmleiter des nationalen Programms MenCare Schweiz.

 

SKZ: Sie waren von 2005 bis 2015 Gründungspräsident von männer.ch, des Dachverbandes Schweizer Männer- und Väterorganisationen.1 Sie sind Gründer der Schweizer Männerzeitung, heute unter dem Namen «Ernst», und Mitinitiant des Vätertages sowie Leiter des Instituts für Männer- und Geschlechterfragen. Welches sind die Kernanliegen Ihrer Männerarbeit?  
Markus Theunert: Tatsächlich bin ich nun bereits seit 20 Jahren in der Männerarbeit tätig – seit einigen Jahren lebe ich auch davon. Mein persönliches Kernanliegen ist letztlich gar nicht so sehr die Emanzipation von Männern, auch wenn ich dies als notwendigen Zwischenschritt erachte. Es geht mir um Individuation, um Menschwerdung: Im tiefsten Innern sind wir ja nicht geschlechtliche Wesen, sondern Menschen. Dieser menschliche Kern wird aber im Lauf des Aufwachsens immer mehr «vergeschlechtlicht» und dadurch verschüttet oder gar zubetoniert. Die Tragik von Buben ist, in diesem Sozialisationsprozess zu lernen, dass es nicht reicht, wenn sie sind, wie sie sind. Vielmehr müssen sie sich in ihrem Jungesein beweisen, indem sie Kontrolle, Macht und Dominanz ausüben – über sich selbst und über andere. Daraus wachsen Männer, die oft einen verwehrten Bezug zu sich selbst haben, sich in sich gar nicht richtig heimisch fühlen, alles Nicht-Rationale als Bedrohung erleben. Das sind ja nicht nur emotionale und soziale Verkümmerungen, die wir gesellschaftlich bis heute von Jungen und Männern einfordern. Das ist auch ein spirituelles Bonsai-Dasein. Dass wir bis heute in dieser Form strukturelle Gewalt an Jungen und Männern anwenden und uns gleichzeitig ganz eifrig bemühen, so zu tun, als merkten wir das nicht, daran stösst sich mein Gerechtigkeitssinn und mein Solidaritätsempfinden. All das unausgesprochene Leid, das sich ja über Generationen fortpflanzt – das berührt mich und macht mich traurig. Ich möchte diesen patriarchalen Verwundungen etwas Heilsames entgegensetzen.

Männer- und Väterarbeit ist in der Pastoral eine Randerscheinung. Was wären gefragte kirchliche Angebote für Männer und Väter?
Dass Männer- und Väterarbeit bestenfalls eine kirchliche Nische besetzt, ist die Ausnahme, nicht die Regel! In Deutschland und Österreich nimmt die kirchliche Männerarbeit einen ganz zentralen Raum ein und bewährt sich sowohl auf Ebene professioneller Beratungsangebote wie auch als Vernetzungsangebot für Männer in der Gemeinde. Es ist wirklich ausserordentlich schade, dass die Schweizer Kirchen ihre Pionierstellung aufgegeben haben, die sie in den 1980er- und 1990er-Jahren noch hatten.

Weshalb wäre die Kirche ein geeigneter Anbieter und Absender für Angebote, die spezifisch Jungen und Männer ansprechen?
Ich bin national und international viel unterwegs. Was mich bei allen Besuchen kirchlicher Männerarbeit berührt, ist dieses Doppelte von Väterlichkeit und Vaterentbehrung. Da steckt viel Kraft, aber auch viel Schmerz drin. Denn Männer im kirchlichen Kontext müssen sich in gewisser Weise stets zwei Aufgaben zugleich stellen: Sich mit dem eigenen Vater aussöhnen – in Dankbarkeit, aber halt auch oft ganz stark aus einem Gefühl der Entbehrung heraus. Sie müssen all das annehmen lernen, was NICHT war. Dieses Thema spiegelt sich im Glauben, also in der Beziehung zu Jesus Christus und letztlich zum allmächtigen Vater. Und sie spiegelt sich genauso in der Beziehung zur Kirche als Institution. Viele erleben hier unglaublich schmerzhafte Ambivalenzen, beispielsweise die Rückweisung als lustvoll-lebendiger Mann durch die Kirche, die sich verbindet mit der kindlichen Trauer über die Rückweisung als lustvoll-lebendiger Junge durch den eigenen Vater. All das scheint mir institutionell weitgehend unbearbeitet.

Wie wäre eine Bearbeitung anzugehen?
Ideal wäre natürlich eine systematische kritische Selbstbefragung der Kirchenführung zur Frage: Wie reproduzieren wir Patriarchat und wo streut Kirche bis in die Gegenwart weiter Salz in die Wunden des Patriarchats? Bedarfsgeleitet ist die Arbeit an der Basis über die seelsorgerliche Nähe zum Alltag von Männern, Vätern und Buben. Die bietet Chancen zur alltagsnahen Begleitung in all den Spannungsfeldern, die das Leben als Mann in unserer Gesellschaft mit sich bringt. Die Ansprache von Vätern mit ihren Kindern ist aus meiner Sicht besonders dankbar und geeignet, versöhnend und konstruktiv mit «Vaterwunden» umzugehen. So könnte Kirche Väter in ihrem Selbstwertgefühl als Väter unterstützen und vernetzen. Allein das Angebot wäre heilsam, weil es zum Ausdruck bringen würde, dass Väter gesehen werden. Generell lässt sich sagen: Kirchen als Expertinnen für Gemeinschaftsbildung bringen eigentlich die ideale Voraussetzung für Männerarbeit mit. In Netzwerken und Gesprächsgruppen sollten sich Männer begleitet austauschen können über alles, was sie beschäftigt, worunter sie leiden, wonach sie sich sehnen und was ihnen Kraft gibt. Als öffentlich-rechtliche Institution könnte Kirche hier auch wertvolle Brücken bauen. Vorbilder und Modellprojekte gibt es.

Welche Entwicklungen machen Sie bei den Bildern von Mannsein und Vatersein in den letzten Jahren in der Gesellschaft aus?
Ich stehe für eine fachlich fundierte Männerarbeit und orientiere mich deshalb an wissenschaftlichen Erkenntnissen, um diesen Wandel fassbar zu machen. Die Basler Geschlechterforscherin Andrea Maihofer spricht beispielsweise von einer «paradoxen Gleichzeitigkeit von Persistenz und Wandel». Mit Blick auf Männer und Väter meint das: Wir fordern von ihnen bis heute, wie ihre Väter und Grossväter den leistungsstarken Ernährer zu geben, der sich und sein Leben stets im Griff hat. Gleichzeitig verlangen wir mit zunehmender Eindringlichkeit, dass sie gleichzeitig das reine Gegenteil davon seien: einfühlsame Partner und Väter, die emotional und sozial kompetent sind, sich selbst zurück nehmen können, für Andere da, resonanzfähig und innenverbunden sind. Eine totale Überforderung – erst recht, weil man(n) so tun muss, als sei das ja alles gar kein Problem. In meinen Publikationen schreibe ich, dass es weder eine tiefgreifende männliche Emanzipation gegeben hat noch eine echte Transformation der gesellschaftlichen Erwartungen an einen «richtigen Mann». Letztlich wurde bloss das Anforderungsprofil so erweitert, dass der einzelne Mann eigentlich nur verlieren kann: Entweder versucht er die Quadratur des Kreises – und muss daran scheitern, weil sich unvereinbare Dinge halt nicht vereinbaren lassen. Oder er geht in den Widerstand und steht als ewiggestriger Chauvinist da. Helfen würde nur ein offener Diskurs über Männlichkeitsanforderungen und ihre verheerenden Auswirkungen. Aber daran hat niemand echtes Interesse. Denn die Männer funktionieren ja und halten die Performer-Pose munter aufrecht.

Männer.ch führt eine Kampagne zum Vatersein und beleuchtet u. a. die Rolle und Erfahrungen des Vaters bei der Geburt eines Kindes. Was waren die Gründe für diesen Akzent?
Geschlechterpolitisch ist die Familiengründung DIE entscheidende Phase. Denn die Situation ist hoch paradox: Die grosse Mehrheit junger Paare möchte einen egalitären Lebensentwurf. Aber den wenigsten gelingt es. Ist das Kind erst auf der Welt, schlägt die Traditionsfalle zu. Die gesellschaftlichen Erwartungen sind massiv. Da muss man sich aktiv dagegen wehren. Unsere Kurse für werdende Väter sollen Männer dabei unterstützen, sich ihren Platz in der Familie aktiv zu suchen, statt einfach zu nehmen, was übrig bleibt. Das braucht viel Empowerment, die Auseinandersetzung zu wagen und für die eigenen Wünsche einzustehen – sowohl der eigenen Partnerin wie auch dem Chef oder der Chefin gegenüber.

Welche weiteren Themen und Anliegen stehen im Fokus der Männerforschung und -bewegung in der Schweiz?
Für uns als Verband ist das grosse strategische Fernziel, geschlechterreflektierte Buben- und Männerarbeit in der Grundversorgung zu verankern. Schulische Bubenarbeit muss beispielsweise zum Standard werden: Wir können unsere Kinder doch nicht einfach ohne jede Begleitung all diesen Bildern von «Männlichkeit» aussetzen, die mit der Realität und auch den Bedürfnissen ihrer künftigen Lebensgefährtinnen gar nichts zu tun haben. Aber auch für erwachsene Männer braucht es Beratungsstellen und Unterstützungsangebote. Wir arbeiten an einem sozialen Wertewandel, der ein modernisiertes Männerbild zur neuen Selbstverständlichkeit macht: Männer, die ihr menschliches Potenzial verwirklichen, die sich um sich und andere kümmern, sorgfältig und nachhaltig leben. Stichwort Nachhaltigkeit: Wie sollen wir die Klimakrise bewältigen, ohne Männlichkeitsvorstellungen zu transformieren, die Ausbeutung nicht nur tolerieren, sondern sogar einfordern?! Es bräuchte einen kollektiven Ruck.

Interview: Maria Hässig

 

1 Mehr Informationen zum Dachverband: www.maenner.ch

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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