Eine neue Etappe im interreligiösen Gespräch

Die Repräsentanten der sechs grossen Weltreligionen versammelten sich vergangenen Sommer am Sitz der UNO in Genf und verabschiedeten eine Deklaration: Neuer gemeinsamer Referenzpunkt sind die Bürgerrechte.*

Die Weltkonferenz der Religionen von Juni 2018 ist nicht bloss aus dem Grund von grosser Bedeutung, weil sich erstmals ranghohe Repräsentanten der jeweiligen Religion gemeinsam im Forum der UNO trafen, sondern weil sie eine gemeinsame Erklärung zuhanden der UN-Vollversammlung unterzeichneten.1 Darin wird festgehalten, dass sich die Religionen erstens engagieren für «Anerkennung und Verständnis der universellen Werte, die in den Bürgerrechten enthalten sind und die letztlich in den Menschenrechten verankert sind». Zweitens: Man will sich einsetzen «für die Förderung und Stärkung der Bürgerrechte, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie zivile wie politische Rechte umfassen». Drittens: Die Versammlung verpflichtet sich, alle fünf Jahre ein ‹Audit› unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen abzuhalten.

Ich halte diesen Vorgang für sehr bemerkenswert und nicht zu unterschätzen. Während Jahren versuchten Religionsvertreter und Theologen einen gemeinsamen Referenzpunkt für das politische und soziale Engagement im Kanon der Menschenrechte zu etablieren. Die Grundidee war, dass man sich gemeinsam auf globaler Ebene auf universelle Prinzipien der Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – niedergelegt in den Menschenrechten – einigen sollte, unabhängig von der jeweiligen religiösen Weltanschauung. Dieses Konzept wurde vor allem von der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, aber auch von den Kirchen der Reformation unterstützt und gefördert, zumal sie aufgrund ihrer Naturrechtstradition wenig Probleme hatten, universelle, allgemein menschliche Werte zu integrieren. Dieser jahrelange Versuch einer Einigung ist jedoch gescheitert.

Gründe des Scheiterns

Zunächst gibt es einen grundsätzlichen Vorbehalt, der in unterschiedlicher Form vorgetragen wird: In den Menschenrechten manifestiere sich eine anthropozentrische Ideologie, in der der Mensch zum Mass aller Dinge erhoben werde. Letzte Autorität wäre demnach nicht mehr das göttliche Gesetz, sondern der gemeinsame Wille der Menschen auf ein gemeinsames Gesetz. Der scheinbar unüberwindliche Gegensatz zeigt sich darin, dass den Offenbarungsschriften eine höhere Autorität zugesprochen wird als dem Geltungsanspruch der Menschenrechte. Das lange Ringen des Christentums um Anerkennung der Menschenechte macht jedoch deutlich, dass dieses Dilemma aufgelöst werden kann.

Freilich zeigt sich das Scheitern, in den Menschenrechten einen Referenzpunkt zu schaffen, in besonders sensiblen Themenbereichen: Offensichtlich ist der Konflikt im Bereich des Geschlechterverhältnisses. Dies gilt erst recht, wenn es sich um die Gleichberechtigung von Mann und Frau und um sexuelle Minderheiten handelt. Es ist offensichtlich, dass der von der UNO seit 2011 eingeforderte Schutz vor geschlechtlicher Diskriminierung bzw. der Schutz der Geschlechtsorientierung auf mehr als nur grosse Skepsis stösst.

Ein weiterer Stein des Anstosses ist die Reli- gionsfreiheit. Der Kern, der zum Widerstand provoziert, liegt im Umstand, dass das Menschenrecht der Religionsfreiheit, das Existenzrecht und die Entfaltungsmöglichkeit für externe Andersgläubige und intern für abweichende Gläubige sichert. Dies zu akzeptieren fällt um so schwerer, je mehr ein exklusiver Wahrheitsanspruch vertreten wird. Ein inklusiver Wahrheitsanspruch, wie ihn beispielsweise seit den 1960er-Jahren die katholische Kirche vertritt, kann durchaus verschiedene Glaubensüberzeugungen anerkennen. Ein Testfall für die Religionsfreiheit ist seit jeher das Recht auf Glaubenswechsel. Hier kumuliert das Freiheitspathos, da selbst die innerste, letzte und intimste Ausrichtung dem Einzelnen zur freien Entscheidung anvertraut ist. Hier scheiden sich nach wie vor die Geister: Für die einen ist das Recht auf Glaubenswechsel eine Provokation, in der sich die Neuzeit manifestiere, die eben glaube, selbst nochmals über letzte Wahrheiten verfügen zu können; für die anderen ist es eine Frage des Gewissens, das schliesslich auch als eine Gabe Gottes zu verstehen sei. Hier scheinen die Differenzen im Augenblick unüberwindlich.

Die Lösung – Bürgerrechte

Um bei der Blockierung des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Religionen weiterzukommen, postulierte nun die Weltkonferenz der Religionen vom Juni 2018 einen neuen gemeinsamen Referenzpunkt: die Bürgerrechte. Dies, nachdem die Verständigung auf ein gemeinsames Weltethos mit grundlegenden Regeln der Moral im Weltparlament der Religionen in Chicago von 1993 offenbar ebenfalls in eine Sackgasse geriet. Mit der jetzigen Einigung verständigt man sich auf eine politische (nicht moralische) Rechtsform, die dem universalen Anspruch der Menschenrechte vorgelagert ist. Dieser bemerkenswerte Vorgang lässt sich verschieden interpretieren. Die einen mögen darin eine Kapitulation vor dem anspruchsvollen Menschenrechtsdiskurs sehen, der zurzeit ohnehin einen schweren Stand hat. Die andern mögen darin einen wichtigen Schritt sehen, dass Religionen überhaupt eine gemeinsame politische und moralische Plattform schaffen, wenn auch in ihren Forderungen bedeutend weniger anspruchsvoll. Ich gestehe, dass ich eher zu der zweiten Gruppe gehöre. Doch einige Voraussetzungen müssen geklärt werden.

Notwendige Klärungen

Die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution von 1789 spricht noch im gleichen Sinne von ‹droits humains› et ‹droits citoyens›. Von dieser inhaltlichen Gleichheit können wir heute bei der Ausdifferenzierung des Rechts nicht mehr ausgehen. Menschenrechte kommen definitionsgemäss allen Menschen zu, unabhängig von Nation, Kultur und Rasse. Jedoch kommen die Bürgerrechte ausschliesslich jenen Staatsbürgern zu, die diesen auch ausdrücklich vorbehalten sind, nicht aber eo ipso auch Einwanderern, Asylsuchenden, Andersgläubigen. Bürgerrechte können begründeterweise eingeschränkt werden, nicht aber Menschenrechte. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, die 1990 von der Organisation der Islamischen Konferenz verabschiedet wurde, macht deutlich, dass die an die Menschenwürde geknüpften Menschenrechte nur soweit gewährt werden können, als sie nicht gegen religiöse Pflichten und Vorschriften des Islam (sc. Bürgerrechte) verstossen. Beispielsweise gilt die Meinungsfreiheit nur soweit, als sie dem Ruf der religiösen Gemeinschaft (umma) nicht schadet. Die Gleichheitsforderung zwischen Mann und Frau wird insofern gedehnt, als dem Mann mehr Pflichten und daher auch mehr Rechte zukommen. Freilich haben die Begriffe ‹citoyenneté› und ‹droit citoyen› in der islamischen Tradition einen ganz anderen Klang als in der europäischen (christlichen) Rechtstradition. Die Erklärung von Al-Azhar vom März 2017 hält fest: «Der Begriff Staatsbürgerschaft ist ein ursprünglicher Begriff im Islam, er wurde erstmals in der ‹Verfassung von Medina› (622) erwähnt. Die damit angezielte Praxis beinhaltete zu jener Zeit keine Spur von Diskriminierung oder Ausschluss einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft. Sie umfasste auch Massnahmen, welche die religiöse, ethnische und soziale Vielfalt respektieren sollen.»2 In der gleichen Deklaration – die übrigens auch von Christen des Orients mitgetragen wird – wird angemahnt, diese frühe Tradition des Islam zu erneuern, nicht zuletzt im Hinblick auf eine innere Reform. Hier liegt auch der Schlüssel für das Verständnis desjenigen Vorganges, der die Rede der Bürgerrechte im Dokument der Weltkonferenz der Religionen favorisiert.

Ein offener Ausgang

Die Weltkonferenz der Religionen (2018) legt ein vielschichtiges Dokument vor. Es werden nicht bloss unterschiedliche Rechtstraditionen – östliche wie westliche – verknüpft, sondern es werden auch unterschiedliche Verpflichtungstraditionen miteinander verwoben: Auf der einen Seite wird von Bürgerrechten gesprochen, die in den Menschenrechten verankert sein sollen; auf der andern Seite werden religiös fundierte Werte (wie Würde, Gleichheit, Freiheit, Liebe) genannt, für die es in den Religionen eine grosse Konvergenz gibt; sie sollen auf die Praxis und die Ausgestaltung der staatlichen Gemeinschaft eine starke regulative Kraft ausüben.

Die Deklaration spannt ein dynamisches Dreieck auf: Bürgerrechte, Menschenrechte, universelle Werte. Das Verhältnis ist aber unbestimmt. Dieses Dreieck gerät dann aus den Fugen, wenn eine Ecke favorisiert wird. Gerade, weil das Verhältnis zwischen diesen drei Ebenen nicht genau bestimmt ist, eröffnet sich damit auch eine neue Dynamik im Dialog zwischen Religion und Politik. Hier stehen wir weitgehend am Anfang. Der Ausgang dieses Gesprächs ist selbstverständlich offen. Allerdings gilt zentral: Der Begriff der Menschenwürde fundiert letztlich jede Rechtskategorie, die den Menschen betrifft, Menschenrechte, Grundrechte wie Bürgerrechte. In den religiösen Konvergenzdokumenten wird darauf hingewiesen, dass die Menschenwürde einen ganz besonderen Resonanzboden in den Religionen findet. Die «regulative Idee» der Menschenwürde mag helfen, falsche Alternativen im Sinne der ausschliessenden Bürgerrechte, aber auch trügerische Relativierungen der Menschenrechte zu vermeiden.

Adrian Holderegger

 

* Verkürzte Fassung des Referates von Adrian Holderegger vom 12. Dez. 2018 vor dem Europäischen Parlament in Strassburg, aus Anlass des 70-Jahre-Jubiläums der «Deklaration der Menschenrechte».

1 Siehe: «Religions, creeds and value systems: Joining forces to enhance equal citizenship rights». Abrufbar unter www.gchragd.org

2 Siehe: «Déclaration d’Al-Azhar sur la citoyenneté et le vivre ensemble» (6. März 2017). Die Deklaration ist abrufbar unter: www.azhar.eg


Adrian Holderegger

Prof. em. Dr. Adrian Holderegger OFMCap (Jg. 1945) lehrte von 1982 bis 2012 theologische Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. Er ist Mitglied zahlreicher Gremien, u. a. Mitglied der Kommission «Würde der Tiere» des Bundesamtes für Veterinärwesen (BLV) und auch des Schiedsgerichts der «Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste». Zudem ist er «Ambassador for Peace» der UNO.