Nepals Schritte zur Gleichberechtigung

«Gemeinsam für starke Frauen» heisst der Slogan der Fastenopfer-Kampagne. Das ist aber erst die halbe Miete, denn Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern bedingt einen Einbezug aller.

Nepalesische Frauen demonstrieren dafür, dass ihnen grundlegende Menschenrechte zugestanden werden. (Bild: Teeka Bhattarai)

In einem Gespräch benennen Romana Büchel, Beauftragte für Geschlechtergerechtigkeit bei Fastenopfer und ihr Kollege, René Wüest, der fürs Landesprogramm Nepal verantwortlich ist, Erfolgsfaktoren, Fallstricke und Schwierigkeiten in der Umsetzung.

René Wüest (RW)*: In Nepal war der Anstoss für die Beschäftigung mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit, als wir von den vielen Uterusvorfällen hörten. Das ist eine äusserst schmerzhafte Senkung der Gebärmutter. Sie kommt bei gegen 25 Prozent der Frauen vor und – im Gegensatz zur Schweiz – auch häufig bei jungen Frauen. Zuerst dachten wir, das sei nicht unsere Baustelle, weil es sich um einen medizinischen Befund handelt. Die Hauptgründe für diese Vorfälle sind körperliche Schwerstarbeit bis kurz vor und nach den Geburten, Kinderheiraten, kurze Geburtsabstände sowie Fehl- oder Mangelernährung. Und das wiederum sind Dinge, von denen in Nepal vor allem Frauen betroffen sind. Sie werden als Lastesel betrachtet und leisten oft unsäglich schwere Arbeit im Haus und auf dem Feld. Ausserdem essen Männer und Jungs stets zuerst, die Frauen und Mädchen bekommen das ab, was danach noch übrig bleibt. So hat sich gezeigt, dass dieser Befund mitnichten nur ein medizinisches Thema ist, sondern vor allem ein soziales Problem.

Romana Büchel (RB)**: Und nicht nur, was die Ursachen betrifft, sondern auch die Folgen. Mit einem Uterusvorfall sind starke Stigmatisierungen verbunden, viele Frauen werden verstossen. Je nach Schweregrad des Vorfalls können sie auch keine Kinder mehr bekommen und arbeiten. Damit werden sie vielerorts erst recht als wertlos betrachtet. In der Schweiz sind Gebärmuttervorfälle zwar nicht derart häufig, die Folgen nicht so drastisch, und doch sind sie auch hier oft mit grosser Scham verbunden.

RW: In Nepal hat sich nicht zuletzt dank der Arbeit von Fastenopfer glücklicherweise einiges getan. Vor rund 10 Jahren wurde der Gebärmuttervorfall offiziell vom Staat anerkannt, man liess Personal ausbilden und mehrere tausend Operationen wurden jährlich kostenfrei angeboten. In sozialer Hinsicht änderte sich, dass das einstige Tabuthema, über das Frauen nie in Anwesenheit von Männern gesprochen hätten, plötzlich breit diskutiert wurde. Das war ein extremer Erfolg – auch für Fastenopfer, welches dies in Allianzen mit einem äusserst bescheidenen Budget voranbringen konnte.

RB: Wie liess sich damals der Rahmen für einen solchen Erfolg schaffen?

RW: Ein erstes Problem war die Zeit: Wann sollen Frauen fürs Thema sensibilisiert werden, wenn sie vom Sonnenaufgang bis -untergang mit schwerster Arbeit beschäftigt sind? Irgendwie hat das dann doch geklappt. Zudem mussten die Frauen Selbstvertrauen gewinnen. An öffentlichen Versammlungen sprachen bis anhin nur die Männer, am Rande sassen die Frauen und hörten zu. Ihnen eine Stimme zu geben bei Entscheidungen, die auch sie betreffen, das war ein zentrales Anliegen unserer Arbeit. Später haben wir Sitzungen gemacht, an denen auch Männer anwesend waren und Frauen sich immer mehr getraut haben, etwas zu sagen. Im Folgenden sind Frauen im Flachland tatsächlich auf die Strasse gegangen und haben sich für ihre Gesundheitsversorgung eingesetzt. Sie haben die Gesundheitsbehörde ihres Distrikts blockiert, bis etwas passierte. Das war revolutionär.
Es hat sich jedoch gezeigt, dass Frauen sich nun zwar öffentlich äussern konnten, zu Hause aber immer noch oft unter häuslicher Gewalt litten. Daraufhin haben wir verstärkt mit Paaren unterschiedlichen Geschlechts zusammengearbeitet, meist Ehepaaren, manchmal auch Geschwistern. Dieser «Couple Approach» ermöglichte, dass die Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen von Männern und Frauen in die Projektarbeit einfliessen konnten.

RB: Das ist ein Anfang und bringt das Thema auf den Tisch. Und das Beispiel des Uterusvorfalls in Nepal zeigt gut, dass es meist ein sehr konkretes Problem braucht, um über Macht, Zeit, Arbeitsverteilung und Öffentlichkeit zu sprechen. Geschlechtergerechtigkeit ist kein abstraktes Konzept, sondern tief im Alltag mit sehr realen Dingen verbunden.

RW: Es braucht auch ein Gegenüber, das die Frauen für gleichwertig nimmt. In der Verfassung Nepals ist die Gleichstellung der Frau zwar verankert. Auf kommunaler Ebene beispielsweise muss das Präsidentschafts- oder Vizepräsidentschaftsamt von einer Frau besetzt sein. Die Realität sieht so aus, dass fast überall ein Mann das Präsidentschaftsamt und beinahe durchgehend eine Frau das Vizeamt innehat. Und selbst dort hat deren Ehemann meist grösseren Einfluss auf die politischen Geschicke als die Frau.

RB: Das mit der Macht ist so eine Sache: Geschlechtergerechtigkeit hat mit Kontrollgewinn und -verlust zu tun, und zwar auf beiden Seiten. Es braucht auf beiden Seiten die Bereitschaft, Kontrolle zu übernehmen, aber auch abzugeben. Es ist eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit, dass mein Mann seinen Beitrag im Haushalt leistet. Es ist aber genauso eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit, dass er die Kleider der Kinder aussucht und ich nicht nörgele, wenn ich der Ansicht bin, die Farben würden nicht zusammenpassen. Wichtig ist, dass sich beide Seiten über ihre neue Rolle klar werden. Bei Fastenopfer haben wir gesehen: In vielen Programmländern werden Frauen systematisch benachteiligt, haben vielerorts keine öffentliche Stimme oder sind in Ämtern untervertreten. So hatten wir vor einigen Jahren in vielen Projekten vor allem Frauenförderung im Kopf. Wenn man aber die Frauen in ihren Fähigkeiten stärkt und gleichzeitig die Männer schwächt, wird dies langfristig auch den Frauen zum Nachteil. Man muss alle mit an Bord nehmen, auch die Männer. Deshalb macht dieser «Couple Approach» in Nepal Sinn. In Kolumbien haben wir auch sehr gute Erfahrungen mit «Männlichkeits-Workshops» gemacht, wo sich die Geschlechter getrennt über Rollen und Erwartungen austauschen können, die mir ihrem Geschlecht verbunden sind.
Was man aber immer auch im Auge behalten muss, ist die Altersfrage. Geschlechtergerechtigkeit bezieht sich nicht nur auf Männer- und Frauenbeziehungen. Machtfaktoren findet man auch innerhalb desselben Geschlechtes zwischen den Generationen.

RW: Das hat sich auch in Nepal gezeigt. Schwiegermütter haben in bestimmten Bereichen oft eine annähernd so mächtige Stellung wie die Ehemänner. Auch sie waren einmal Schwiegertöchter, welche unter diesem System gelitten haben und sind nun mit dem Alter in eine Position gekommen, in der sie mehr entscheiden können und weniger arbeiten müssen, weil dies die Schwiegertöchter übernehmen müssen.

RB: Diese Rollenbilder werden über die Generationen weitergegeben und – wenn sie nicht aufgebrochen werden – weiterhin vorgelebt, auch in der Schweiz.
Wenn wir uns in den Programmländern dafür einsetzen, dass Frauen sichtbarer werden, muss dies auch hier gewährleistet werden, angefangen bei unserer Organisation: Sind beide Geschlechter gleichmässig vertreten? Wählen wir bewusst auch Autorinnen und Fotografinnen für unsere Publikationen? Mit welchen Bildsprachen treten wir an die Öffentlichkeit? Und wollen wir in unseren Texten wirklich nur von «Kleinbauern» reden, obwohl rund 70 Prozent der Nahrungsmittel von Kleinbäuerinnen produziert werden?

RW: Das finde ich auch als Privatperson wichtig. Heute irritiert es mich, wenn jemand nur die männliche Form benutzt, besonders, wenn eine Frau über sich selbst spricht.

RB: Hier ist viel selbstkritisches Denken nötig. Oder die Bereitschaft, auch über die eigene Bequemlichkeit zu springen.

RW: Eckt ihr in der Schweiz auch an mit dem Engagement für Geschlechtergerechtigkeit?

RB: Es gibt Gruppen, die uns vorwerfen, die Familie zu zerstören, weil wir Geschlechtergerechtigkeit propagieren. Solche Vorwürfe zielen aber ins Leere, denn wir sehen es in Nepal: Es geht nicht um eine Ideologie oder darum, die Familie zu zerstören, sondern um grundlegende Menschenrechte; zum Beispiel, dass Frauen Gesundheit, Bildung, Selbstbestimmung und Freiheit erhalten.

Das Gespräch wurde von Madlaina Lippuner aufgezeichnet

 

 

* René Wüest (Jg. 1955) ist Verantwortlicher Landesprogramm Nepal.

** Romana Büchel (Jg. 1970) ist die Verantwortliche Geschlechtergerechtigkeit, Religion und Kultur.

Fastenopfer in Nepal: Seit 50 Jahren setzen sich «Brot für alle», «Fastenopfer» und später auch «Partner sein» gemeinsam für eine gerechtere Welt ein. Der Einsatz für Menschenrechte und -würde zieht sich bis heute durch deren Kampagnen. In Nepal ist Fastenopfer seit 2000 tätig. https://fastenopfer.ch/country/nepal/

Madlaina Lippuner | © Fastenopfer

Madlaina Lippuner

Madlaina Lippuner ist für die Kommunikation der Ökumenischen Kampagne beim Fastenopfer verantwortlich.