Eine Hörschule Gottes

Seit Jahrhunderten prägen die Exerzitien des Ignatius von Loyola das geistliche Leben von Christen. Die dabei angebotenen Methoden und Formen sind vielfältig, das Ziel aber ist immer das gleiche.*

Garten der St. Mary's-Kirche in Dingle (IRL). (Bild: rs)

 

Wer die Exerzitien verstehen will, muss sich dem Leben des Ignatius von Loyola (1491–1556) und seiner Erfahrung zuwenden.1 Ignatius, Gründer des Jesuitenordens, stammt aus einer der baskischen «Hauptfamilien». Er geniesst eine höfische Erziehung. Befeuert vom Doppelideal der spanischen Gesellschaft seiner Zeit, «Krieg und gelehrsame Kunst», hegt Ignatius überrissene Karrierefantasien. Er strebt nach edelmännisch- kämpferischem Rittertum und für seinen Stand unerreichbare Damen. Seine Träume zerbrechen 1521 durch eine schwere Kriegsverletzung.

Aufmerksam auf den inneren Klang

Während der langen Genesungszeit wird das Herzstück der ignatianischen Spiritualität grundgelegt: die Exerzitien. Auf dem Krankenbett würde Ignatius gerne seine Träume mit Ritterromanen nähren, doch muss er mit Heiligenlegenden und einem Erbauungsbuch über das Leben Jesu vorliebnehmen. Das Hin und Her zwischen der Vorstellungswelt, die das Gelesene weckt, und seinen übersteigerten Karrierefantasien über Rittertum und Frauenwelt hinterlässt in ihm unterschiedliche Resonanz: Schwelgt er in seinen Träumereien, ist er hell begeistert. Lässt er aber davon ab, fühlt er sich traurig und leer. Stellt er sich jedoch vor, ein Leben nach der Weise der Heiligen in der Nachfolge Jesu zu leben, verspürt er tiefe Freude und anhaltenden Frieden. Dieses verschiedenartige Echo lässt Ignatius Rückschlüsse ziehen auf das, was der Ruf Gottes für sein Leben ist. Er entschliesst sich, fortan Christus zu dienen. So macht er die Entdeckung des Lebens – die «Unterscheidung der Geister». Der Ausdruck «Geister» mag befremden. Entscheidend ist die Tatsache, dass Ignatius die in seinem Inneren angestossenen Regungen wahr- und ernst nimmt. Er bejaht seine innere Erfahrung als – wie er betont – einigermassen zuverlässige Wegweiserin Gottes.

Ein Bild aus der Musikwelt verdeutlicht dieses Geschehnis: Bei einem Konzert müssen die verschiedenen Instrumente aufeinander abgestimmt werden, damit eine Symphonie entsteht. Dies geschieht, indem sie den Kammerton von der ersten Geige übernehmen. Übertragen auf die Erfahrung des Ignatius, werden die «Saiten seines Herzens» durch Meditation und Betrachtung am «Kammerton» des Lebens Jesu gestimmt. So kann Ignatius immer besser unterscheiden, was sich, bezogen auf diesen Ton, für sein Leben als «stimmig» anfühlt. Die Unterscheidung der Geister ist wesentlich ein Achten auf die «Resonanz», welche Ereignisse und Begegnungen im Herzen erzeugen. Führt etwas tiefer in die Freundschaft mit Jesus und fügt es sich stimmig in diese Beziehung ein, oder ist das Gegenteil der Fall? Einigermassen sichere Zeichen von «Konsonanz» sind innere Freiheit, tiefer Friede, nachhaltige Freude – ein Leben, das spürbar vertrauens-, hoffnungs- und liebevoller wird. Anzeichen von «Dis-sonanz» hingegen zeigen sich u. a. in zunehmender Entmutigung, Verwirrung und Selbstbefangenheit.

Im Einklang mit dem «Kammerton» Jesus

Nach seiner Genesung sieht Ignatius seinen Auftrag darin, die gemachten Erfahrungen weiterzugeben. Er will «den Seelen helfen», zu erkennen, was Gott mit ihnen vorhat. Dazu verfasst er das Büchlein «Exercitia Spiritualia». Inhalt sind – wie der Ausdruck sagt – «Geistliche Übungen». Diese wollen eine Person anleiten, sich zu «disponieren», sich zu öffnen für die Begegnung mit einem liebenden Gott. Im Raum der Liebe wächst Vertrauen, aus Vertrauen die Freiheit, das Leben ordnen und formen zu lassen. Verletzungen und Ängste, Unfreiheiten und schuldhafte Verhärtungen können behutsam angeschaut und liebevoll gelöst werden.

Wie Ignatius sein Leben am Kammerton des Lebens Jesu stimmte und wach wurde für die Unterscheidung der Geister und den Willen Gottes, wenden sich Menschen in Exerzitien meditierend und betend der Heiligen Schrift zu. Dabei nehmen sie vor allem Mass am Weg von Jesus Christus. Im «Klangraum» der Vertrautheit mit ihm erkennen sie, was sich harmonisch in ihr Leben einfügt und wo Missklänge die Melodie stören, was ihr Leben wachsen lässt und was es verhindert. Sie werden fähig, wichtige Entscheidungen mit einem klaren Blick zu treffen. Dabei ist die Begleitung durch eine in geistlichen Dingen erfahrene Person unerlässlich.

Gleichklang mit dem modernen Menschen

Schon Ignatius war es wichtig, dass die Geistlichen Übungen an Begabung, Alter, Belastbarkeit und Verfügbarkeit der jeweiligen Person angepasst wurden. Es ging nicht darum, irgendeinen fixen «Gebetsparcours» zu durchlaufen. Der Mensch sollte Gott finden und entsprechend sein Leben gestalten können. Demgemäss wollen die Exerzitien auch für den modernen Menschen in seinen jeweiligen Kontext hinein übersetzt werden.

Weit verbreitet sind einwöchige Einzelexerzitien mit täglichen Kurzvorträgen von theologischen, biblischen und methodischen Anregungen für Gebet und Meditation. Der Mensch soll in seiner Mehrdimensionalität bewegt werden, auch der Körper ist wichtig. So werden Exerzitien oft mit Bewegung und Körperwahrnehmung verbunden (wie Wandern, Singen, Tanzen, Qi-Gong, Yoga, Eutonie). Um den Zugang zu Geschichten und Bildern der Bibel zu erleichtern, gibt es Exerzitien in Kombination mit Filmen oder mit Bibliodrama. Es ist geradezu im Sinne des Erfinders, dass Form und Inhalt keine Grenzen gesetzt sind, solange damit dem Ziel von Geistlichen Übungen gedient ist.

Beim Blick auf den Ablauf eines Exerzitientages wird klar, welche Elemente für ignatianische Exerzitien unverzichtbar sind: Die Stille, welche aufmerksames Hören erst möglich macht. Drei- bis viermal am Tag nehmen sich Übende rund eine Stunde Zeit, einen biblischen, manchmal auch einen literarischen Text zu betrachten. Die Erfahrungen teilen und vertiefen sie täglich im Gespräch mit einer Begleitperson. Meist sind auch der regelmässige Gottesdienst und ein Rückblick am Ende des Tages feste Bestandteile von Exerzitien.

Karl Rahner bezeichnete die ignatianische Spiritualität als eine «Mystik der Weltfreudigkeit». Genau diese Haltung fördern Exerzitien. Sie führen den Menschen – in Gebet und Meditation am Kammerton Jesus gestimmt und gewachsen – mitten in die Welt. Im Resonanzraum der Welt will die Qualität jedes Ereignisses – ob äusseres Geschehen, innerer Impuls oder Entscheidung – geprüft und an seiner Wirkung auf das eigene Leben gedeutet werden: Führt etwas näher zu Gott oder von Gott weg? In die tiefere Gott- und damit Menschen- und Weltverbundenheit? Oder führt es in die Sackgasse von kleinlicher Angst und Enge? Alles – so Ignatius – wird zur Einladung und zum Anlass, Gottes «Stimme» zu erahnen, «Gott zu suchen und zu finden in allen Dingen».

Bruno Brantschen

 

*Dieser Artikel ist eine Kurzfassung des Kapitels «Ignatianische Exerzitien: ein Gespür für den Willen Gottes» aus dem Buch «Spiritualität der Zukunft – Zukunft der Spiritualität. Suchbewegungen in einer multireligiösen Welt» (hrsg. v. Christian Hackbarth- Johnson und Martin Rötting), das im Herbst/Winter 2018 im EOS-Verlag (St. Ottilien) erscheint.

1 Einen vertieften Einblick in das Leben und die Spiritualität von Ignatius bieten: Emonet, Pierre, Ignatius von Loyola. Legende und Wirklichkeit, Würzburg 2015. Kiechle, Stefan, Ignatius von Loyola. Werk – Leben – Spiritualität, Freiburg/Basel/Wien 2014. Ignatius von Loyola, Bericht des   Pilgers (übersetzt und kommentiert von Peter Knauer), Würzburg 2015.

 


Bruno Brantschen

Bruno Brantschen (Jg. 1965) ist Jesuit und lebt und arbeitet im Lassalle-Haus Bad Schönbrunn bei Zug. Er ist zuständig für die Bereiche Exerzitien, Geistliche Begleitung und Langzeitgäste. Er leitet den Lehrgang «Ignatianische Exerzitien und Geistliche Begleitung», den das Lassalle-Haus in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg i. Ue. durchführt.