«Auf der Suche nach sozialem Anschluss»

Der Staat unterstützt Migrierte u.a. in wirtschaftlichen Belangen. Wesentliche Grundbedürfnisse wie Zugehörigkeit und Wertschätzung werden damit aber oft nicht gestillt. Dies können Migrationsgemeinden bieten. Darüber sprach die SKZ mit Simon Foppa.

Dr. phil. Simon Foppa (Jg. 1983) schrieb als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut eine Promotionsarbeit zur sozialen Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden. Zurzeit forscht er bei der icommit GmbH zu Themen wie Mitarbeiterzufriedenheit und Arbeitgeberattraktivität.

 

Aus Syrien, Eritrea, Italien, Brasilien und aus vielen anderen Ländern kommen Menschen in die Schweiz. Die Gründe der Migration sind sehr unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen, dass sie ihr soziales und kulturelles Umfeld verlassen haben. Manche finden in Migrationsgemeinden eine neue Heimat.

SKZ: Sie forschten in Ihrer Promotionsarbeit1 über die soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden. Welches waren Ihre zentralen Erkenntnisse?
Simon Foppa (Bild): Wer von einem Ort an einen anderen migriert, lässt einen grossen Teil seines sozialen Netzwerks zurück, das er über Jahre hinweg aufgebaut hat. Damit gehen auch viele instrumentelle, informationelle und psychische Ressourcen verloren, die für einen Menschen sehr wichtig sind. Diesen Verlust in unserer schnelllebigen Gesellschaft zu kompensieren, ist nicht einfach. Bereits für uns Schweizerinnen und Schweizer kann es schwierig sein, im Erwachsenenalter neue gehaltvolle soziale Beziehungen aufzubauen. Noch schwieriger ist es für Personen, die eine andere Sprache sprechen oder in einem anderen kulturellen Umfeld aufgewachsen sind. In diesem Kontext bieten Migrationsgemeinden einen Rahmen, worin der Aufbau von neuen sozialen Beziehungen sehr einfach ist. Denn ein grosser Vorteil solcher Gemeinden besteht darin, dass sie selbst aus Migrantinnen und Migranten bestehen, die dieselben Erfahrungen durchgemacht haben und ebenfalls auf der Suche nach sozialem Anschluss sind.

Was bedeutet den Migrantinnen und Migranten die Gemeinde?
Viele meiner Interviewpartnerinnen und -partner sagten zu mir, dass die Gemeinden für sie wie eine Familie seien. Die Gemeinden scheinen also in der Schweiz eine ähnliche Funktion einzunehmen wie die Familie, die sie in ihrem Herkunftsland zurücklassen mussten. Das klingt nach einer etwas banalen Erkenntnis. Aber das Bedürfnis nach qualitativ gehaltvollen sozialen Beziehungen ist sehr zentral für Menschen. Viele staatliche und nichtstaatliche Unterstützungsmassnahmen sind darauf ausgerichtet, ökonomische, strukturelle oder instrumentelle Herausforderungen von Zuwanderern zu lindern. Dies ist natürlich sehr wichtig. Aber die meisten Menschen sehnen sich mindestens ebenso nach einem liebevollen Umfeld, in dem sie sich aufgenommen fühlen und das ihrem Leben einen Sinn gibt. Hierfür sind Migrationsgemeinden essenziell.

Welche soziale Unterstützung bieten die Gemeinden bzw. ihre Mitglieder vornehmlich?
Da Migrationsgemeinden selbst aus Migrantinnen und Migranten bestehen, sind sie sehr gut auf die Bedürfnisse ihrer «Klientel» abgestimmt. Normalerweise bieten sie eine breite Palette von Angeboten für unterschiedliche migrationsspezifische Bedürfnisse an. Hierzu gehören etwa Sprach- und Bildungskurse, soziale Aktivitäten, Wohnungs-, Kleider- und Arbeitsbörsen sowie natürlich auch religiöse Aktivitäten wie Gottesdienste, Bibelgruppen, Kasualien und Möglichkeiten zur persönlichen Beratung oder zu seelsorgerlichen Gesprächen. Fast wichtiger noch als diese institutionalisierten Angebote sind meiner Meinung nach aber die informellen sozialen Unterstützungsleistungen, die sich die Gemeindemitglieder untereinander geben. Denn hier werden – wie schon gesagt – Bedürfnisse gestillt, die sonst in unserer Gesellschaft kaum in anderen Institutionen befriedigt werden. Hierzu gehören Dinge wie Dasein, Zuhören, Wertschätzung, liebevolle Gemeinschaft sowie die Möglichkeit, seinen Glauben mit anderen Menschen zu teilen und weiterzuentwickeln.

Wie hoch ist das Integrationspotenzial dieses Engagements? Wo liegen die Grenzen, wo die Schwächen?
Bleiben wir für diese Frage bei der Familienmetapher. Familien haben sowohl positive wie auch negative Seiten. Die positive Seite einer guten Familie besteht darin, dass ich darin schnell jemanden finde, der zur Stelle ist, wenn ich Unterstützung brauche oder mein Herz ausschütten will. Allein diese Tatsache gibt uns Menschen schon einen gewaltigen Rückhalt, womit wir die Herausforderungen des täglichen Lebens gestärkt angehen können. Der Preis für diese Unterstützungsbereitschaft besteht aber darin, dass ich selbst ebenfalls für die Familie da sein sollte. In Migrationsgemeinden bedeutet dies, dass die Mitglieder immer wieder dazu animiert werden, Aufgaben und Verantwortung in der Gemeinde zu übernehmen, um so die vielen Aktivitäten und Angebote am Leben zu erhalten, auch dann, wenn sie selbst nicht davon profitieren. Ausserdem hat jede Familie eine gewisse Familienkultur. Wenn sich diese interne Kultur zu stark von der Aussenwelt unterscheidet, kann es sein, dass die Mitglieder Mühe damit haben, mit der Aussenwelt klarzukommen. Dies kann die gesellschaftliche Integration behindern. Viele Migrationsgemeinden sind sich dessen bewusst und lehren daher eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Schweizer Gesellschaft.

Integration in die Gemeinde gelingt nicht immer. Was kann zu sozialer Ausgrenzung führen?
Wie in den meisten sozialen Gruppen liegt auch in Migrationsgemeinden der Hauptgrund für soziale Ausgrenzung in der fehlenden Passung von Individuum und Gemeinschaft. Oft geschieht das völlig unbewusst und obwohl sich beide Seiten um eine Annäherung bemühen. Aber wenn zum Beispiel die Altersdifferenz oder die soziokulturellen, spirituellen oder (kirchen-)politischen Unterschiede zu gross sind, stimmt die Chemie oft einfach nicht und das Individuum wird sich früher oder später eine Gemeinschaft suchen, die ihm ähnlicher ist.

Wann wird die soziale Unterstützung als negativ erlebt?
Soziale Unterstützung ist fast immer mit einem gewissen Grad an sozialer Kontrolle sowie dem Druck verbunden, sich den Aktivitäten und Werten der neuen «Familie» – der Migrationsgemeinde – anzuschliessen. Dies ist auch in einem Interessenverband oder in einer politischen Partei nicht anders und wird von den meisten Menschen als natürliche Gegenleistung einer reziproken Austauschbeziehung verstanden. Wenn jedoch der Konformitätsdruck oder die soziale Kontrolle ein gewisses Mass übersteigt, kann es sein, dass das Individuum zum Schluss kommt, dass dieser Preis zu hoch ist und die Gemeinschaft wieder verlässt. Hingegen wird soziale Unterstützung vor allem dann als positiv erlebt, wenn sie die Menschen als ehrlich und als frei von Eigeninteressen oder Hintergedanken wahrnehmen.

Inwieweit sind die Gemeinden auch Anlaufstelle und Aufenthaltsort für Sans-Papiers?
Für viele Sans-Papiers sind die Migrationsgemeinden sehr wichtig. Denn hier haben sie die Möglichkeit, an soziale, instrumentelle, informationelle, spirituelle und psychische Ressourcen heranzukommen, ohne dass sie nach ihrem Aufenthaltsstatus gefragt werden. Zudem können sie als Freiwillige auch selbst einen Beitrag dazu leisten, anderen Menschen zu helfen. Beide Aspekte, also die Unterstützung durch andere sowie die Möglichkeit, anderen zu helfen, sind für sie sehr wertvoll. Denn dies gibt ihnen das Gefühl echter Wertschätzung, das Gefühl, ein «gewollter» Teil der Gemeinschaft und unserer Gesellschaft zu sein. Ausserdem sind die Gemeinden in der Regel gut mit anderen Institutionen vernetzt, die den Sans-Papiers bei spezifischen Anliegen weiterhelfen. Hierzu gehören zum Beispiel die regionalen Sans-Papier-Anlaufstellen, die Fachstelle für Frauenhandel und -migration oder Meditrina, die medizinische Anlaufstelle des Roten Kreuzes.

Wo besteht im Blick auf die Zukunft Handlungsbedarf in den Migrationsgemeinden?
Seit der Gastarbeitermigration hat die katholische Kirche für neu zugewanderte Sprachgruppen stets neue Missionen geschaffen. Angesichts der Diversifizierung der Migration und des Priestermangels wird es jedoch nicht möglich sein, dieses Modell für alle Zuwanderergruppen zu etablieren. Das heisst, dass nach neuen Formen der Migrationsseelsorge Ausschau zu halten ist. Hierauf hat die Schweizer Bischofskonferenz bereits Mitte der 1990er-Jahre hingewiesen. Da Migrantinnen und Migranten ihr Bedürfnis nach einer eigenständigen Seelsorge wohl nicht verlieren werden, könnte aus meiner Sicht eine Lösung darin bestehen, dass internationale Migrationsgemeinden geschaffen würden, in denen verschiedene Migrationsgruppen zusammenkommen. In evangelischen Migrationsgemeinden sowie in englisch- und spanischsprachigen Missionen geht die Tendenz bereits heute in diese Richtung. Solche Gemeinden würden auch einer Weltkirche entsprechen, in der gemäss dem paulinischen Ideal alle ethnischen, sozialen und kulturellen Unterschiede wie in einem Leib aufgehen sollen (vgl. 1 Kor 12,12–31). Zudem erleben viele Menschen diese grenzüberschreitende Gemeinschaftsbildung als eine sehr schöne und positive Erfahrung. Daher sehe ich die aktuellen Herausforderungen auch als eine grosse Chance für die Kirche, um dem paulinisch-christlichen Ideal einen weiteren Schritt näherzukommen. Das wäre von grossem Wert für unsere Gesellschaft.

Interview: Maria Hässig

 

1 Foppa, Simon, Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden, St. Gallen (Edition SPI) 2019.

 

 

BONUS

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